15.12.1995

Israel bleibt Herr über das Westjordanland

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Israel bleibt Herr über das Westjordanland

Von

JAN

DE JONG *

MEHRERE hundert Seiten umfaßt das Vertragswerk, das am 28. Oktober 1995 in Washington feierlich unterzeichnet wurde. Im sogenannten Oslo-II-Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern (siehe die obige Dokumentation) sind alle nur erdenklichen Einzelheiten des israelischen Rückzugs und der Machtübergabe an die Palästinenser geregelt. Was diese umfangreichen Vereinbarungen wirklich wert sind, wird jedoch daran zu messen sein, welche Antworten auf folgende Fragen sich daraus ergeben: Wie wird der Grenzverlauf zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten festgelegt. Was wird mit den jüdischen Siedlungen geschehen? Wird es einen unabhängigen Palästinenserstaat geben? Mit anderen Worten: Wird das Abkommen den Palästinensern helfen, ihre Souveränität zu erlangen? Ein Blick auf die Karte (Seite 13, oben) erlaubt eine etwas genauere Einschätzung der Folgen. Das Westjordanland soll in drei Zonen unterteilt werden. Zunächst werden die wichtigsten palästinensischen Städte (mit Ausnahme von Ost-Jerusalem) aufgeführt: Jenin, Nablus, Tulkarem, Kalkilja, Ramallah, Betlehem und der größte Teil von Hebron bilden die Zone A, die vollständig unter palästinensische Verwaltungshoheit fallen soll. Die Zone B gleicht einem Inselreich; sie besteht aus einem Dutzend abgetrennter ländlicher Bezirke, manche weitläufig, andere winzig, die über das ganze Gebiet verstreut liegen; hinzu kommen nahezu alle palästinensischen Dörfer. Auf der Gesamtheit dieser vielen voneinander abgeschnittenen Flecken – inklusive der sechs Städte, aus denen sich die israelische Armee bereits zurückgezogen hat, sowie Hebron und Jericho – leben rund neunzig Prozent der palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlands, doch die palästinensische Autonomiebehörde verfügt in diesen Gebieten nur über beschränkte Rechte. Zone A und Zone B machen zusammen etwa dreißig Prozent des Westjordanlands aus.

Die restlichen siebzig Prozent des Territoriums sind als Zone C definiert: In diesem Gebiet leben kaum Palästinenser, dafür befinden sich hier alle jüdischen Siedlungen, zivile wie militärische Vorposten. Was mit dieser Zone geschehen soll, wird Gegenstand der nächsten Verhandlungsrunde zwischen Israel und den Palästinensern sein. Seit dem September 1993 hat der jüdische Staat durch umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen versucht, seinen Zugriff auf diesen Raum abzusichern, vor allem durch den Bau von Umgehungsstraßen, die die Siedlungen miteinander verbinden, ohne durch die großen palästinensischen Enklaven zu führen. In der Zone C entsteht also ein struktureller Zusammenhalt, während diese Strukturen in den verstreuten Gebieten unter palästinensischer Verwaltung zerfallen: Letztlich entscheidet allein die israelische Armee, die alle „sicherheitsrelevanten“ Verkehrswege kontrolliert, über Art und Umfang des Personen- und Güterverkehrs zwischen diesen Enklaven.

Damit wird bereits ein entscheidender Aspekt des Oslo-II-Abkommens deutlich. Israel hat es geschafft, sich der unangenehmen Pflicht der Verwaltung in den Palästinensergebieten zu entledigen, ohne darum seinen bestimmenden Einfluß im Westjordanland aufzugeben. Die Palästinenser und der jüdische Staat existieren nun in getrennten Räumen: anderthalb Millionen Palästinenser auf einem Drittel des Territoriums bekommen ihre eigene Regierung, aber sie bleiben eingeschnürt vom Netz der Siedlungen, die doppelt soviel Land beanspruchen, obwohl die Zahl ihrer Bewohner (von den Siedlern in Ost-Jerusalem einmal abgesehen) nur ein Zehntel der palästinensischen Bevölkerung ausmacht.

Die Palästinenser haben einen großen Teil ihres politischen Gewichtes verloren, das schließlich daraus resultierte, daß die Gesamtheit des von ihnen bewohnten Gebietes seitens der internationalen Gemeinschaft als besetztes Territorium anerkannt war. Einen Teil dieses Gewichts haben sie nun verpfändet: Israel kann nach Oslo II über die Zukunft der Zone C beraten, ohne sich mit dem Schicksal der autochthonen palästinensischen Bevölkerung zu befassen, die ab jetzt ihren Platz in der Autonomiezone hat.

Kampf um die Bodenrechte

DAS Westjordanland und der Gazastreifen machten 1947 zweiundzwanzig Prozent des britischen Mandatsgebiets Palästina aus. Die Palästinenser fordern die vollständige Rückgabe dieser Gebiete, aber Israel ist entschlossen, die einzige – oder jedenfalls die bestimmende – souveräne Macht zu bleiben. Vor diesem Hintergrund wird die Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in der Zone C geführt. Die tödlichen Schüsse auf Jitzhak Rabin haben drastisch in Erinnerung gebracht, daß ein Teil der jüdischen Siedler eine völlig unnachgiebige Haltung einnimmt. Die Anhänger dieser Fraktion bereiten sich darauf vor, die Zone C zum Schlachtfeld zu machen, auf dem sich das Schicksal Groß-Israels entscheiden soll, und sie sind entschlossen, es nicht nur mit den Palästinensern aufzunehmen, sondern auch mit all jenen Israelis, die eine andere Ansicht von der Zukunft dieses Gebietes haben. Im Verlauf der politischen Auseinandersetzungen nach der Ermordung des israelischen Premierministers gab es eine Reihe von Versuchen, die Oslo-Abkommen, die nicht nur bei den Siedlern, sondern auch bei großen Teilen der israelischen Öffentlichkeit und sogar unter den Anhängern der Arbeitspartei auf Unverständnis gestoßen waren, auf je eigene Weise neu zu interpretieren. Dabei tat sich eine neue politische Gruppierung hervor: Zwei Mitglieder der Arbeitspartei, Avigdor Kalahani und Emmanuel Zisman, beide ehemalige Berufsoffiziere, hatten mit Unterstützung des früheren Generalstabschefs Dan Schomron eine politische Plattform, den „Dritten Weg“ gegründet, um gegen die Rückgabe des Golan zu kämpfen. Später weitete die Gruppierung ihre Zielsetzung auf die besetzten Gebiete aus, dabei stets bemüht, sich sowohl von den fanatischen Anhängern eines Groß-Israel abzugrenzen als auch von jener Position, die ihr als die „vollständige Kapitulation der Linken vor den Forderungen der Araber“ gilt.1 Die beiden Abgeordneten hatten gegen das Oslo-II-Abkommen gestimmt. Sie sind nicht die ersten, die eine genauere Definition der Sicherheitsinteressen und Entwicklungschancen des jüdischen Staates fordern.2 Zur Durchsetzung dieses Interesses bedarf es also einer exakt festgelegten Grenze. Die Anhänger des „Dritten Weges“ schlagen vor, den größten Teil der jüdischen Siedlungsgebiete, mitsamt der Bevölkerung von 126000 Siedlern (das sind 93 Prozent aller Siedler) zu annektieren. Dies würde bedeuten, daß abgesehen von den 80000 Menschen, die derzeit innerhalb des annektierten Gebietes in palästinensischen Dörfern leben, alle übrigen Palästinenser in den Autonomiegebieten leben würden: Im Unterschied zu den radikalsten Positionen der Siedler will der „Dritte Weg“ die Autonomiezone als eigenes Territorium weiterbestehen lassen.

Im einzelnen sieht der Plan (vgl. Karte, Seite 13 unten) vor, daß Israel sich aus rund hundert isolierten palästinensischen Dörfern in der Zone C zurückzieht, aber zugleich die zwanzig kleinsten jüdischen Siedlungen aufgibt, in denen insgesamt weniger als 7000 Menschen leben. Durch diesen Rückzug würde es möglich, innerhalb des größten Teils bislang isolierter palästinensischer Gebiete, also im Umkreis von Nablus, Ramallah, Betlehem und Hebron, eine Neuordnung vorzunehmen und ihnen über Jericho Anschluß an Jordanien zu verschaffen. Das Ergebnis wäre eine autonome palästinensische Gebietseinheit, die etwas weniger als die Hälfte des Westjordanlandes umfaßte, während die andere Hälfte von Israel annektiert wäre.3 Dieser Plan würde den Israelis weiter den Zugriff auf die Wasservorkommen des Westjordanlandes garantieren, und außerdem bliebe Israel der Wohnraum erhalten, der sich in den zwanzig größten Siedlungen bietet: Wohnkomplexe wie in Ariel, Kaddumim, Ofarim, Givat Ze'ev, Maale Adumim, Betar und Efrat sind für die überbevölkerte Metropole Tel Aviv kostbarer städtischer Erweiterungsraum;wichtiger jedoch ist: Von dort aus kann eine stabile Verbindung zu den Siedlungen im Jordantal aufrechterhalten werden, die Israel zur Sicherung seiner Ostgrenze für unverzichtbar hält.

Den Palästinensern dagegen wird allmählich klar, daß die entscheidenden wirtschaftlichen Ressourcen in der Zone C zu finden sind. Vor allem unter Vertretern nichtoffizieller Organisationen wächst die Sorge, daß als Resultat der Verhandlungen ein formell unabhängiges Staatsgebilde entstehen könnte, das aller Ressourcen und damit seiner Entwicklungsmöglichkeiten beraubt wäre. Schließlich wird sich die palästinensische Bevölkerung bis zum Jahr 2010 verdoppelt haben – auf vier Millionen, einschließlich der Bewohner des Gazastreifens. Es geht vor allem um die Anbauflächen im Jordantal. Die Erträge könnten erheblich gesteigert werden, wenn das – bislang von Israel umgeleitete – Wasser verfügbar würde. Zugleich könnte der arabische Teil von Jerusalem, dessen künftiger Status noch offen ist und in der letzten Verhandlungsrunde geklärt werden soll, durch seine geographisch vorteilhafte Lage zu einem wichtigen Zentrum von Handel und Verkehr und zum städtischen Entwicklungsraum werden. Würde Ost- Jerusalem den Palästinensern zurückgegeben, dann wäre nicht nur die Verbindung zwischen dem Norden und dem Süden des Westjordanlandes wiederhergestellt, sondern auch zwischen dem Tiefwasserhafen Gaza und dem Verkehrsknotenpunkt Jericho, der den Zugang zur arabischen Welt eröffnet.

Trugbild Singapur

AUF diese Weise könnte auch der Aufbau einer agro-industriellen Produktion in Gang kommen, der einzigen Branche, in der unter den gegenwärtigen Bedingungen Gewinne zu erwirtschaften wären. Aber die Führung der PLO verfolgt andere Pläne der Wirtschaftsentwicklung, aufgrund derer sie in Territorialfragen zu Kompromissen bereit sein könnte, auch wenn sie bislang ihre Entschlossenheit beteuert, die besetzten Gebiete vollständig, also einschließlich der Zone C, zurückzugewinnen. Die palästinensischen Medien propagieren nämlich mit Nachdruck Vorstellungen, die das Problem von Wasser und Anbauflächen zweitrangig erscheinen lassen. Man verweist auf das Beispiel Singapurs als Beweis dafür, daß auch kleine Nationen, die nichts als ihr Humankapital zu bieten haben, sich als unabhängige Staaten erfolgreich etablieren können. Der ostasiatische Stadtstaat verfüge über die gleiche Bevölkerung, aber über weniger als die Hälfte des Territoriums, das den Autonomiebehörden nach dem Oslo-II- Abkommen zufällt. Dennoch habe er bemerkenswerte wirtschaftliche Leistungen in Schlüsselsektoren wie der Elektronikindustrie erbracht – Bodenknappheit stelle im Zeitalter moderner Technologien kein entscheidendes Hindernis mehr dar.

Abgesehen von der Fragwürdigkeit solcher Analogien zwischen Palästina und den „kleinen Tigern“ Südostasiens ist die palästinensische Führung auch gar nicht in der Lage, aus ihrer neuen Vision praktische Konsequenzen (etwa in Form eines Entwicklungsplans) zu ziehen. Mit solchen ebenso hochfliegenden wie undurchdachten Zielvorstellungen wächst allerdings die Gefahr, daß auch die Aussicht auf ein begrenztes Maß an palästinensischer Selbstbestimmung sich am Ende als Fata Morgana erweist.

dt. Edgar Peinelt

1 „The Third Way: A New Hope for Israel's Future“, Tel Aviv, September 1995.

2 Die Landkarten zu den verschiedenen Plänen sind in Le Monde diplomatique vom Februar 1995 gezeigt worden.

3 „The Third Way ...“, a.a.O.

* Geograph, lebt in Amsterdam. Berater der St. Yves Gesellschaft, Jerusalem.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Jan de Jong