15.12.1995

Die bittere Medizin des Doutor Cardoso

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Die bittere Medizin des Doutor Cardoso

Von unserem

Sonderkorrespondenten

JEAN ZIEGLER *

NIE zuvor hat in Brasilien die Wahl eines Präsidenten so große Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit geweckt wie die von Fernando Henrique Cardoso im Oktober 1994. Und selten sind die Erwartungen so schnell enttäuscht worden.

Frauen, deren Gesichter vom Hunger gezeichnet sind, vaqueiros mit Lederhüten, Kinder, die bis auf die Knochen abgemagert sind – sie alle drängen sich auf dem Hauptplatz von Quebrangulo, einem Ort an der Grenze der Bundesstaaten Alagoas und Pernambuco, und verfolgen auf einer Riesenleinwand die Übertragung der Unterzeichnung des Präsidialerlasses aus der Hauptstadt Brasilia, der den garantierten monatlichen Mindestlohn auf 100 Real (ungefähr 175 Mark) anhebt. Hier und da erhebt sich enttäuschtes Murren in der blaßroten Nacht des Sertao. Die Versammelten wissen nur zu gut, welchen Einfluß die Großgrundbesitzer auf Cardoso ausüben – und daß der Erlaß ihnen nicht im geringsten zugute kommen wird. Für Millionen von Landarbeitern in den Staaten des Nordeste, die seit Jahrhunderten unter der Knute der Zuckerbarone und der fazendeiros wie Leibeigene leben, ist der „garantierte“ Mindestlohn ein unerreichbarer Traum, und das wird sich auch unter Präsident Cardoso nicht ändern.

Während auf dem UN-Gipfel in Kopenhagen im März 1995 die brasilianische Delegation die Zahl ihrer Landsleute, die „in absoluter Armut“ leben, offiziell auf 40 Millionen geschätzt hat, spricht die Sozialkommission der Kirche von 75 Millionen. Brasilien, das flächenmäßig die Hälfte des Kontinents bedeckt, verfügt über sagenhafte Reichtümer, einen potentiellen Binnenmarkt von 160 Millionen Menschen, eine qualifizierte technische Intelligenz und Arbeiterschaft sowie ein höchst lebendiges kulturelles Erbe mit afrikanischen, europäischen und indigenen Ursprüngen. Zugleich gehört es weltweit zu den Ländern mit den extremsten Ungleichheiten, wobei die herrschenden Klassen ihre Macht aus der gnadenlosen Ausbeutung der unteren Bevölkerungsschichten beziehen. In den Großstädten breitet sich das Elend aus; hier sind 60 Prozent der Einwohner unter zwanzig Jahre alt, Arbeitslosigkeit, Drogen, Hunger und Verzweiflung suchen die Familien heim. In Rio de Janeiro hält die Bundesarmee die wichtigsten favelas (Elendsviertel) besetzt. Seit Jahren wird die 7-Millionen-Stadt von Bandenkriegen und Gewaltausbrüchen erschüttert, ohne daß die Behörden irgendeine Lösung anzubieten hätten.

Nichts fürchten ausländische Banken und einheimische Oberschichten mehr als den politischen Schulterschluß der Armen. Anfang der neunziger Jahre nahm er mit der Arbeiterpartei (PT) und der mächtigen Einheitsgewerkschaft (CUT) Gestalt an. Mitte 1994 waren die ausländischen Gläubiger und ihre brasilianischen Partner zu der Einsicht gelangt, daß keiner der alten Kämpen von der Rechten sich Chancen für die Präsidentschaftswahl ausrechnen konnte. Ein haushoher Sieg des PT-Kandidaten schien unausweichlich. Fernando Henrique Cardoso, amtierender Finanzminister und Vorsitzender der mit 10 Senatoren und 63 Abgeordneten im Bundesparlament vertretenen kleinen sozialdemokratischen Gruppierung PSDB, erschien wie die von der Vorsehung gesandte Rettung vor der radikalen Linken.

Die nationalen und internationalen Finanzoligarchien unterstützten das Cardoso zugesprochene Antiinflationsprogramm (plano real), das Erfolg hatte. Dank einer Allianz zwischen der PSDB, der rechten PFL und weiteren konservativen Parteien wurde Cardoso im ersten Wahlgang gewählt. Er kannte die intellektuelle Blässe der wichtigsten Führer der Rechten und glaubte, er werde sich, erst einmal an den Schalthebeln der Macht, gegen sie durchsetzen können. Brasilien kennt jedoch kein Präsidialsystem, und von Parlamentarismus kann strenggenommen auch keine Rede sein. Die Machtverteilung zwischen den beiden Instanzen regelt ein kompliziertes Gesetzeswerk. Der Präsident, der so zur Geisel der korruptesten Rechten wird, kann zwar mit „Notstandsmaßnahmen“ wichtige Entscheidungen am Kongreß vorbei treffen, doch zugleich gestattet das System ständige Änderungen seiner Reformpläne. Faktisch verfügen die konservativen Bündnispartner über ein Vetorecht bei der Besetzung staatlicher Stellen. Damit ist etwa im Bereich der Landreform und der Sozialpolitik der Stillstand vorprogrammiert.

Die von Cardoso auf Druck Washingtons und der ausländischen Gläubiger getroffenen industriepolitischen Entscheidungen haben ihn endgültig der Linken entfremdet. Bei seinem Besuch im Weißen Haus im April 1995 von US-Präsident Clinton zum „Champion des Liberalismus“ ernannt, brachte Cardoso nach seiner Rückkehr eine Reihe von Gesetzesvorschlägen ein, die staatseigene Betriebe, zumal die Unternehmen der Erdölindustrie, des Telekommunikationsbereichs, des Bergbaus und der Stromversorgung, für das private Kapital öffnen sollten. Die ohne Rücksicht auf die Beschäftigten umgesetzten Reformen wurden von den Gewerkschaften und Teilen der Öffentlichkeit als Verschleuderung der nationalen Reichtümer empfunden. Petrobras, ein modernes und leistungsfähiges Unternehmen, besaß auf dem Gebiet der Erkundung, Förderung, Verarbeitung und Beförderung von Erdöl ein staatliches Monopol. Per Gesetz hat das Parlament am 7. Juni 1995 kurzerhand die Erdölindustrie (einschließlich der weiterverarbeitenden Industrie) dem Privatkapital zugänglich gemacht. Cardoso schaffte es, eine der härtesten Streikbewegungen seit Ende der Diktatur im Jahr 1985 zu zerschlagen: An die 47000 Arbeiter hatten sich gegen die Aufhebung des Monopols zur Wehr gesetzt und 31 Tage lang Raffinerien, Tankstellen und Verteilerstellen für Haushaltsgas lahmgelegt.

Der Philosoph José Arthur Gianotti, ein Intimus Cardosos, bringt das Problem auf den Punkt: „Der Präsident müßte den gewerkschaftlichen Korporatismus zerschlagen können, ohne die Gewerkschaften als solche aufzulösen.“1 Die zynische, von den Wunschvorstellungen der „neuen liberalen Ordnung“ inspirierte Sichtweise José Gianottis scheint ein wenig kurz gegriffen. Lautet doch die Frage immer noch: Wie ist der Zerfall der brasilianischen Gesellschaft zu vermeiden? Und wie können die 75 Millionen Ausgeschlossenen politisch integriert werden?

dt. Rolf Schubert

1 Isto E, São Paulo, 7. Juni 1995.

* Soziologe an der Universität Genf; u.a. Verfasser (mit Régis Debray) des Buches „Il s'agit de ne pas se rendre“, Paris (Aréla), 1994.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Jean Ziegler