15.12.1995

Unterwerfung unter die Zwänge des Weltmarkts

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Unterwerfung unter die Zwänge des Weltmarkts

BRASILIEN ist kein unterentwickeltes Land, Brasilien ist ein ungerechtes Land“, so ließ sich Fernando Henrique Cardoso während seines Wahlkampfs 1994 vernehmen. Um dem Land Gerechtigkeit zu bringen, ist der Regierung Cardoso nichts Besseres eingefallen, als die Hemmnisse für das ordentliche Funktionieren des Marktes zu beseitigen und die himmelschreienden Ungerechtigkeiten mit einfältigen und halbherzigen Mitteln zu bekämpfen. Modernisierung heißt das Zauberwort.

Laut Cardoso hängt die Modernisierung des Landes vom massiven Zufluß ausländischen Kapitals ab. Im ersten Jahr seiner Amtszeit ist der Präsident fünfzehn Mal ins Ausland gereist, um überall seine Botschaft unter die Leute zu bringen: Brasilien ist ein „sicherer Hafen“, „die Regierung ist fest entschlossen, die Empfehlungen von IWF und Weltbank zu beherzigen, um die Wirtschaft des Landes den Bedingungen des Weltmarkts anzupassen“. Diesen Worten folgten umgehend Taten: Die Regierung hat sich vom Kongreß Verfassungsreformen absegnen lassen, die die unterschiedliche Behandlung nationaler und ausländischer Unternehmen aufheben, sie hat das staatliche Monopol in den Bereichen Erdöl, Telekommunikationswesen, Bergbau und Küstenschiffahrt zerschlagen; sie hat schließlich das System der sozialen Sicherheit und den Beamtenstatus restriktiv verändert. All dies geschah unter strikter Einhaltung der für den „dynamischen Umbau“ des Staates maßgeblichen Normen.

Bislang ist allerdings keine dieser Reformen in die Praxis umgesetzt worden. Wichtige Fragen bleiben offen: Welche der an der Regierungskoalition beteiligten Parteien wird in der Lage sein, die wirtschaftlichen Folgen der geplanten Privatisierung von Vale do Rio Doce in den Griff zu bekommen, eines riesigen Staatsunternehmens, in dessen Eigentum sich die immensen Bodenschätze Brasiliens befinden? Welche Betriebe werden den Großunternehmen Petrobras, Telebras und Electrobras zugeschlagen? Das Ganze hängt ab vom heiklen Interessenausgleich zwischen der Partei des Präsidenten, der PSDB, und ihrem einflußreichen rechten Koalitionspartner, der PFL, sowie zwischen diesen beiden Lagern und den ausländischen Investoren. Derzeit ist das ausländische Kapital nur angetreten, um die weltweit höchsten Zinssätze für sich zu nutzen, ohne freilich seine Beweglichkeit aufzugeben, die ihm erlaubt, beim geringsten Anzeichen von Unsicherheit die Flucht zu ergreifen.

In dieser Hinsicht folgt die Regierung blind dem neoliberalen Credo und dem sakrosankten Grundsatz der Währungsstabilität. Tatsächlich ist die nationale Währung, der Real, stabil geblieben, und Präsident Cardoso hat kein Mittel gescheut, um dieses Ziel zu erreichen: Die Staatsverschuldung ist um 60 Prozent angewachsen, die Arbeitslosigkeit steigt weiterhin, und die Sozialleistungen wurden einschneidend gekürzt.

DIE Regierung mag die Modernisierung so ungeduldig erwarten wie in Salomos Hohemlied die Braut den Bräutigam, vorerst muß sie mit den altbekannten Realitäten zurechtkommen, das heißt mit Elend, Hunger, Analphabetismus, mit Landarbeiterunruhen, Gewalt in den Städten und Millionen Kindern, die auf der Straße leben. Mit diesen höchst gravierenden Problemen geht sie freilich genau so um wie die früheren Regierungen.

Die geplante Landreform beispielsweise sieht die Verteilung von Grund und Boden an 280000 Familien in einem Zeitraum von vier Jahren vor. Ein völlig unzureichendes Vorhaben, dem Reformprogramm selbst kann man schließlich entnehmen, daß auf dem Lande etwa 5,7 Millionen Menschen in Armut leben. Muß man nicht Verständnis aufbringen für die Empörung der Landbevölkerung? Letzten August hat eine militärische Abteilung unter Mißachtung der Verfassung eine Gruppe von Bauern attackiert, die bei Corumbiara im Bundesstaat Rondônia Land besetzt hatten. Dabei wurden zwei Soldaten und zehn Bauern getötet. Nachträglich wurde bekannt, daß sich die Bauern zuvor ergeben hatten und anschließend durch Genickschuß umgebracht wurden. Keiner der Verantwortlichen für dieses abscheuliche Verbrechen ist vor Gericht gestellt worden. Die Situation ist äußerst gefährlich: In den letzten Monaten hat es 198 Konfliktfälle um Landbesetzungen gegeben, rund 20000 Familien halten umstrittene Ländereien besetzt. Die Regierung schweigt, sie hat es mit Mühe geschafft, dem Kongreß Gesetzentwürfe vorzulegen, die bei Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Grundbesitzern die Polizei- und Armeekräfte des Bundes zu mehr Unparteilichkeit verpflichten sollen.

IN den Großstädten zeigen sich vor allem zwei drastische Mißstände: die von Drogenhändlern beherrschten favelas, sowie die Kinder, die buchstäblich auf der Straße leben. In den letzten Monaten sind im Durchschnitt täglich sechs Jugendliche ermordet worden! Aber die Regierung Cardoso verzichtet auf energische Maßnahmen, unter dem Vorwand, es fehle das Geld oder die Stabilität der Währung erfordere eine harte Sparpolitik.

Freilich gelten diese Grundsätze nicht überall: so wurden in den letzten beiden Jahren 30 Milliarden Dollar allein für die Zinsen der staatlichen Inlandsschulden ausgegeben. Standfestigkeit und Starrsinn zeigt die Regierung nur in den Bereichen, wo sie der internationalen Finanzwelt demonstrieren kann, daß sie sich an die Dogmen des Neoliberalismus hält. So hat sie den Streik in der Erdölindustrie rücksichtslos niedergeschlagen (siehe den Artikel von Jean Ziegler) – die Botschaft an die internationale Finanzwelt lautete: „Habt keine Angst, der Hafen ist nach wie vor sicher.“ Ein paar Monate später beschloß die Regierung die Subventionierung von Krediten, um Banken zum Kauf anderer Geldinstitute zu ermuntern, und gestattete ihnen obendrein, die Verluste der aufgekauften Banken von den Steuern abzusetzen ... Für den Staat bedeutet das zusätzliche Ausgaben von circa 10 Milliarden Dollar ...

Der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Celso Furtado hat in seinem Buch „Brasilien: ein unterbrochener Aufbau“1 überzeugend das Dilemma aufgezeigt, in dem sich das Land befindet. Der Wille, sich in die wirtschaftliche Globalisierung zu fügen, hat die Entwicklung zum Erliegen gebracht. Entweder stärkt Brasilien seinen gesellschaftlichen und nationalen Zusammenhalt durch die Integration der Ausgeschlossenen und verteidigt seine Souveränität, oder es gibt seine kulturelle Identität preis und geht im Weltmarkt unter.

An diesem Scheideweg haben die traditionellen Eliten plötzlich ihr Herz für die „Modernisierung“ entdeckt und setzen nun alles daran, das Land auf den zweiten Weg zu führen. Einfach ist das nicht, erfordert es doch einen geübten Lotsen, der das Staatsschiff geschickt zwischen dem Alten und dem Neuen hindurchzusteuern vermag. Eben darum hat sich Cardoso während des ganzen Jahres 1995 nach Kräften bemüht, in der Hoffnung, die Anhänger der neoliberalen Ideologie zufriedenzustellen.

Plinio Arruda Sampaio *

1 Celso Furtado, Brasil: a construcao interrompida, São Paulo (Paz e Terra) 1995.

* früherer Abgeordneter der verfassunggebenden Versammlung (1986-1990) und Vorstandsmitglied der Arbeiterpartei (PT)

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Plinio Arruda Sampaio