Wie eine Enzyklika in der Schublade verschwand
IN diesem Herbst wurde in Frankreich ein von Pius XI. 1938 in Auftrag gegebener Enzyklika-Entwurf bekannt – ein Dokument, und nicht das einzige, das die Einheit des Menschengeschlechts bekräftigen und somit den Rassismus des Dritten Reichs anprangern sollte. Diese Veröffentlichung ist ein Anlaß, sich einmal mehr bewußt zu machen, wie gewichtig so manches Schweigen und wie zaghaft so manche Verurteilung sein kann; außerdem ein Anlaß, sich zu vergegenwärtigen, daß immer wieder Stellungnahmen des Vatikans durch Medien und Regierungen unterdrückt werden – zuletzt geschehen im Falle der ablehnenden Haltung des Vatikans gegenüber dem Golfkrieg.
Von HENRI MADELIN *
Das Jahr 1938, die Zeit zwischen dem Anschluß Österreichs und dem Einmarsch der deutschen Truppen in das Sudetenland, ist von entscheidender zeitgeschichtlicher Bedeutung. Der Blut- und Rassenkult, der Antisemitismus, die Blindheit für soziale Ungerechtigkeit, der Vormarsch nationalistischer Ideologien und die kriegstreiberischen Reden erreichten damals in Europa, das die negativen Auswirkungen des Versailler Vertrags schlecht verkraftete, ihren Höhepunkt. Zwei belgische Forscher, Georges Passelecq, ein Benediktinermönch aus der Abtei von Maredsous, und Bernard Suchecky, ein häufig in den USA weilender jüdischer Historiker, haben es jüngst unternommen, die Atmosphäre jener Zeit zu rekonstruieren, nachdem es ihnen gelungen war, in den Archiven jenseits des Atlantiks einen verschollen geglaubten Text auszugraben: eine detektivische Spurensuche mit romanhaften Zügen.
Das von ihnen kommentierte und veröffentlichte Dokument ist der Entwurf zu einer Enzyklika, den Pius XI. bei Pater John La Farge in Auftrag gab, einem amerikanischen Jesuiten und anerkannten Spezialisten für das Problem der Schwarzen und des Rassismus in den USA.1 Seine beiden Mitarbeiter, der Franzose Pater Gustave Desbuquois, und der Deutsche Gustav Gundlach, beide Jesuiten, waren schon an der Ausarbeitung vorangegangener Enzykliken beteiligt gewesen.
Die Arbeit daran findet im Sommer des Jahres 1938 in der Pariser Rue Monsieur, in der Redaktion der Zeitschrift Études statt, just zu der Zeit, da sich die internationale Lage immer mehr zuspitzt. Adolf Hitlers Arroganz kennt keine Grenzen mehr, die Demokratien setzen unter dem Beifall der überwältigenden Mehrheit ihrer jeweiligen öffentlichen Meinung auf Beschwichtigung durch Zugeständnisse, und die Gestapo scheint bereits eine quasi offizielle Dienststelle mitten in Paris eingerichtet zu haben.2
Nach kurzer Zeit wird Pater Gustav Gundlach von einem in die Vatikankreise eingeschleusten Nazianhänger in Berlin denunziert. Im Mai 1938 erhält er die Warnung, daß ihm bei einer Rückkehr nach Deutschland die Verhaftung drohe.3 Vorgeworfen wird ihm ein Beitrag vom 1. April 1938 in Radio Vatikan, in dem er den „falschen politischen Katholizismus“ der österreichischen Bischöfe und ihres Oberhaupts, Kardinal Innitzer, angeprangert hat. Dieser hatte vor der Volksabstimmung über den Anschluß erklärt: „Die Hirten der Seelen und der Gläubigen werden sich bedingungslos hinter den großen deutschen Staat und den Führer stellen.“4 Erstaunliche Worte, die zur Vorladung des Prälaten in den Vatikan führten. Nach einer Unterredung mit Pius XI. wurde er nachdrücklich aufgefordert, ein Kommuniqué zu unterzeichnen, das einhellig als Widerruf seiner vorangegangenen Äußerungen angesehen wird.
In einigen Kirchenkreisen herrschte damals angesichts der Lage ein erschreckender Mangel an politischer Klarsicht. Das Buch liefert zahllose Beispiele, die die verheerenden Auswirkungen eines zu einer wirklichen politischen und spirituellen Analyse der konkreten Situationen unfähigen Pietismus und Idealismus aufzeigen. Dieser „falsche politische Katholizismus“, den Gustav Gundlach unermüdlich anprangerte, hatte seine Ursache in der selektiven Wahrnehmung von Gläubigen oder reichlich naiven Würdenträgern. Derlei Rückgratlosigkeit – die dem Wunsch entsprang, sich unter allen, auch den gravierendsten Umständen anzupassen – und dieser Mangel an Widerstand wirkten wie eine Abdankung der befreienden Botschaft des Evangeliums angesichts von Gewaltsituationen. Diese Haltung mündete sogar in der Gefolgschaft gegenüber einem Führer, den Pius XI. ein Jahr zuvor als „Propheten des Nichts“5 bezeichnet hatte. Man kann feststellen, daß eine ultramontane6 Papsthörigkeit der Lokalkirche sehr wohl helfen kann, die Pfade eines kurzsichtigen Nationalismus zu meiden. In Frankreich konnte man dies an der Haltung Roms gegenüber der nationalistischen Action française beobachten.
Dank des nun erschienenen Buches verfügen wir heute über den vollständigen Text der „Schubladen“-Enzyklika. Ihr Aufbau folgt klassischen Mustern. Nach einer Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Lage und einer großen Zurückhaltung in allen unmittelbar politischen Fragen werden die Krebsgeschwüre der Zeit beschrieben: zügelloser Liberalismus, Anbetung des Mammon, ungerechte Behandlung der Ärmsten der Armen, Schwächung des mit dem Gemeinwohl betrauten Staates, Unmenschlichkeit der Lebensbedingungen ... Besonders kritisch äußert sich der Text zu den falschen Heilsversprechungen des Kommunismus, dessen Vorliebe für gewaltsame Lösungen heftig angeprangert wird.
Diese Enzyklika, „Humani generis unitas“ (Einheit des Menschengeschlechts) genannt, prangert verschiedene Formen nationalistischer und kriegsschürender staatlicher Machtpolitik an. Der Mensch, den Gott gewollt und in den Mittelpunkt der Gesellschaft gestellt hat, werde verhöhnt, wenn die Herrschaft des Geldes sich mit der Aggressivität eines Regimes verbinde, in dem der Vorrang der Rasse oder Klasse an die Stelle einer Politik tritt, die für alle Sorge trägt. Zwar wird der Kommunismus immer noch als der Hauptfeind, als die schlimmste Gefahr bezeichnet. Aber auch die verschiedenen Ausformungen eines übersteigerten Nationalismus werden als verlogen und wider den göttlichen Heilsplan gebrandmarkt. Zwischen den Zeilen vermeint man ihnen gegenüber jedoch eine geringere Strenge zu spüren als gegenüber dem Kommunismus. Die Stellungnahme der Enzyklika zum Rassismus orientiert sich an der von John La Farge bereits in seinen Schriften dokumentierten Kritik des Rassismus in den Vereinigten Staaten. Darüber hinaus wird die scharfe Verurteilung, die Pius XI. in seiner Enzyklika über den Nationalsozialismus („Mit brennender Sorge“, März 1937) ausgesprochen hatte, im Kern übernommen.
Hitler hatte sich nämlich zu früh gefreut, den Papst von einem „seinem innersten Wesen nach widernatürlichen“ Kommunismus7 sprechen zu hören. Er ahnte nicht, daß einige Tage später eine öffentliche Verurteilung des Nationalsozialismus in Form einer Enzyklika nach Deutschland eingeschmuggelt würde, um am Palmsonntag 1937 vor den Ohren der Behörden feierlich in allen Kirchen von der Kanzel verlesen zu werden. Angeklagt wird „die Vorstellung einer altgermanischen Religion“ auf pantheistischer Grundlage, die Gott und „unpersönliches Schicksal“, Gott und Rasse, Volk, Staat und Machthaber ineinssetzt – kurz, verdammt wird die Vergötzung eines nationalen Gottes und einer nationalen Religion.8
Bei dem Thema der Judenverfolgung zeigt sich der Enzyklika-Entwurf von 1938 am schwächsten. Ein großer Teil des Beitrags stammt aus dem von Pater Gundlach geschriebenen und 1930 in einer theologischen Enzyklopädie erschienenen Artikel „Antisemitismus“. Der Verfasser unterscheidet zwischen verschiedenen Formen des Antisemitismus. Er weist zunächst auf das Vorhandensein eines in Ausnahmegesetzen verankerten und geregelten staatlichen Antisemitismus hin, der bekämpft werden müsse, weil er gegen die Prinzipien eines dem Gemeinwohl dienenden Staates verstoße. Dem stellt er einen „religiösen“ Antijudaismus gegenüber, der begründet sei im konkurrierenden Glaubenseifer zwischen Juden, die Jesus nicht als Messias und Gottessohn anerkannt hätten, und Christen, die über den Alten Bund des Judentums hinausgegangen seien. Als Prototyp hierfür stünden die Apostel und der heilige Paulus. Schließlich verweisen die Autoren auf einen dritten, einen „inneren Antisemitismus“ – eine gefährliche Tendenz, die aus der Zunahme und dem Erfolg von Juden in verschiedenen, für die Entwicklung der Gesellschaft entscheidenden Berufen entstanden sei.
In einer Zeit systematischer Verfolgung sind die Lücken des Schweigens von besonderem Gewicht; und die Analysen werden, zumindest aus heutiger Perspektive, der Tragik jener Zeit nicht gerecht. Die Arbeit der beiden Historiker läßt immerhin die veränderte Einstellung besser begreifen, die innerhalb der katholischen Kirche im Anschluß an das 1962 eröffnete Zweite Vatikanische Konzil in Gang gekommen ist. In Absatz 4 der Konzilserklärung „Nostra Aetate“ von 1965 etwa kann man lesen: „In Anbetracht eines so großen, Juden und Christen gemeinsamen Erbes möchte das Konzil ihre wechselseitige Kenntnis und Achtung fördern und empfehlen.“
Hier wird deutlicher, welcher Weg seit 1938 zurückgelegt wurde. Doch darf darüber unter keinen Umständen vergessen werden, was in der Zwischenzeit alles geschehen ist: nicht die sechs Millionen Toten, nicht die Greuel der Konzentrationslager und nicht das Schauspiel einer katholischen Kirche, die in ihrem Engagement für Einzelfälle allgemein mutig war, aber sich vorrangig darum bemüht hat, die gesellschaftliche Position ihrer Schäfchen zu verteidigen, verblendet von einem radikalen Antikommunismus, wie ihn Johannes XXIII. und Paul VI. nicht mehr vertreten sollten.
Warum ist diese Enzyklika „in der Schublade“ geblieben? Warum wurde sie nicht veröffentlicht? Die Hypothesen sind zahlreich: die zu Ende gehende Amtszeit und Krankheit Pius XI., das diplomatische Taktieren des sehr deutschfreundlichen zukünftigen Pius XII., der päpstlicher Nuntius in Deutschland gewesen war und der noch mitten in der Katastrophe die Interessen der deutschen Katholiken zu wahren versuchte. Allerdings scheint es, als habe der Generalsuperior der Jesuiten, ein autoritärer Pole, die Weitergabe der Kopie des Textes in seiner Dienststelle verschleppt. Aufgrund seiner Nationalität hielt er das rote Rußland an den Grenzen seines Landes offensichtlich für bedrohlicher als die braune Pest. Aber dank der Hartnäckigkeit seiner Verfasser scheint der Text schließlich doch seinen Auftraggeber erreicht zu haben, den Papst persönlich.
Die wohlwollende Hypothese, die den modernen Medien wahrscheinlich nicht einleuchten wird, lautet, der Entwurf sei nicht veröffentlichungsreif gewesen, weil er zuwenig auf das Schicksal der verfolgten Juden einging und weil seine Veröffentlichung in einer internationalen Situation, die einem Pulverfaß glich, zu gefährlich gewesen wäre. Viele werden sich darüber wundern, daß der Text ein so eifrig gehütetes Geheimnis blieb. Aber es ist nicht üblich, daß Leute, die für andere Leute Texte verfassen, sich gegenüber der Nachwelt damit brüsten, zumal wenn es sich um einen Auftrag des Papstes handelte. „Schreiben Sie einfach, was Sie schreiben würden, wenn Sie Papst wären“, erklärte Pius XI. Pater La Farge während einer Privataudienz, nach der dieser ganz entgeistert war. „Wirklich, ich bin schlicht und ergreifend verblüfft“, schreibt er vertraulich, „und alles, was ich sagen kann, ist, daß mir der Fels des heiligen Petrus aufs Haupt gefallen ist.“10
John La Farge wurde übrigens mehrfach vom Generalsuperior zur Ordnung gerufen, der ihm bezüglich des päpstlichen Auftrags Geschwätzigkeit gegenüber nahestehenden Personen vorhielt. La Farge erledigte den Auftrag mit seinen beiden Kollegen nur zwei Monate später in Paris. Auf Gustav Gundlachs Rat hin ließ er Pius XI. den Text, auf den sein Vorgesetzter den Daumen gehalten zu haben scheint, direkt zukommen. Entdeckt wird die damals verschollene, heute wiedergefundene Enzyklika im übrigen nach dem Tod des amerikanischen Jesuiten in dessen Archiv.
Man kann diese Untersuchung nur begrüßen, denn sie vermittelt uns ein lebendiges Bild von der inneren Haltung der Kirche unmittelbar vor Ausbruch des Krieges. Genausowenig wie die Autoren sollte man sie nach heutigen Maßstäben messen wollen. Dennoch kann der Leser nicht umhin, die damalige Nichtveröffentlichung auch des unvollkommenen Textes zu bedauern; in der sich ankündigenden Katastrophe wäre es auf alle Kräfte einer wirklich menschlichen Brüderlichkeit angekommen, um den Rassenhaß zu brechen und die nationalistischen Barrieren niederzureißen.
dt. Uli Aumüller
1 Georges Passelecq, Bernard Suchenky, „L'Encyclique cachée de Pie XI. Une occasion manquée de l'Eglise face à l'antisémitisme“, Paris (La Découverte), 1995. Seit der berühmten Schrift von Leo XIII., „Rerum novarum“, veröffentlichen die Päpste in regelmäßigen Abständen Enzykliken, die an eine breite Leserschaft gerichtet sind. Es handelt sich bei ihnen nicht um interne Überlegungen zum Inhalt der katholischen Dogmen, vielmehr um einfache Analysen und Beurteilungen aus gläubiger Perspektive zur Entwicklung der Denkweisen und der nationalen und internationalen Institutionen. Im Mittelpunkt dieser seit mehr als hundert Jahren angestellten Überlegungen von unterschiedlicher Tragweite stehen die mit der Verstädterung zusammenhängenden Konflikte und die von der Industriegesellschaft hervorgebrachten harten Gegensätze zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Soziale und kulturelle Fragen nehmen darin einen bevorzugten Platz ein.
2 Ebd., S. 104.
3 Ebd., S. 103. Von Paris wird er wieder nach Rom zurückgehen, wo er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt.
4 Ebd., S. 97.
5 Enzyklika „Mit brennender Sorge“.
6 Kirchenpolitische Haltung, die sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Französische Revolution herausbildete und den absoluten Primat des Papstes unterstreicht.
7 Enzyklika „Divini Redemptoris“, 19. März 1937.
8 „Le discours social de l'Église catholique“, Paris (Bayard éditions-Centurion), 1994, S. 150.
9 „L'Encyclique cachée de Pie XI“, S. 94-95.
10 Ebd., S. 83.
* Chefredakteur der Pariser Zeitschrift Études, der theoretischen Zeitschrift der französischen Jesuiten.