15.12.1995

Versinkt der Bundesstaat im Meer des Freihandels?

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Versinkt der Bundesstaat im Meer des Freihandels?

DAS Referendum über die Souveränität Quebecs, das am 30. Oktober 1995 stattgefunden hat (50,6 Prozent Nein- gegen 49,4 Prozent Jastimmen), hat den Rest des Landes dazu gezwungen, sich mehr als je zuvor mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Im Grunde geht es dabei nur um die einfache Frage, ob es langfristig etwas spezifisch Kanadisches in einem Nordamerika geben kann, in dem Englisch gesprochen, das mit Hollywoodprodukten überschwemmt wird und das einen einheitlichen Markt im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) darstellt. Diese Frage ist um so bedeutsamer, weil es – in Quebec wie auch im übrigen Kanada – systematische Angriffe auf Institutionen und politische Vorhaben gibt, die der Solidarität und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt verpflichtet sind. Durch diese Angriffe wird es immer leichter, alle Arten von Unterschieden aus dem Weg zu räumen. Das Fehlen einer Zukunftsvision für das ganze Land zieht eine ethnische und kulturelle Balkanisierung nach sich, die wiederum dazu führt, daß immer mehr Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden und in immer größerer Unsicherheit leben müssen. Da die „Jasager“ (vorläufig?) gescheitert sind, läßt sich nicht mehr überprüfen, ob sich ein unabhängiges Quebec in der Realität hätte behaupten können. Angesichts der neuen Gegebenheiten muß Kanada einen Weg finden, Souveränität und wechselseitige Abhängigkeiten miteinander zu verbinden.

Von MICHEL CHOSSUDOVSKY *

Trotz des knappen Sieges der „Neinsager“ in Quebec ist weder die Stabilität des Bundesstaates noch die politische Zukunft des Landes gesichert. Der entscheidende Faktor für das Fortbestehen der Einheit Kanadas1 ist nicht mehr das „verfassungsmäßige Verfahren“, zu dem auch das Ergebnis der künftigen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung in Quebec gehört. Entscheidend ist vielmehr die „volkswirtschaftliche Therapie“, die das Land zu destabilisieren droht.

Eine schwere Wirtschaftskrise fegt über die politische Landschaft des Landes hinweg. Auf der Ebene des Bundesstaates wie der Provinzen wird das Herzstück des kanadischen Systems seit Februar 1995 von Maßnahmen durchlöchert, die das Ergebnis einer strengen Sparpolitik sind. Die Beschlüsse des republikanisch dominierten US-Kongresses haben dabei als Inspirationsquelle gedient. Die Wirtschaftspolitik der liberalen Regierung von Jean Chrétien, der nach zehn Jahren konservativer Regierung 1993 Premierminister wurde, hat die Probleme des kanadischen Föderalismus weiter verschärft.

In einer Fernsehansprache aus Anlaß der Vorlage des Bundeshaushalts hat Finanzminister Paul Martin im Februar dieses Jahres erklärt: „Seit der Demobilisierung nach dem Zweiten Weltkrieg sind dies bei weitem die ehrgeizigsten Maßnahmen der kanadischen Budgetgeschichte.“ Logischerweise haben diese Maßnahmen die schlimmste Rezession ausgelöst, die das Land seit den dreißiger Jahren erlebt hat.

Der von der Wall Street ausgehende Druck hat zu mehreren aufeinanderfolgenden Zinserhöhungen geführt, die von den großen amerikanischen und kanadischen Handelsbanken beschlossen wurden.2 Für die Regierung in Ottawa bedeutete dies einen enormen Anstieg des Haushaltsdefizits und der damit verbundenen Zinslasten. Die Gläubiger hatten sofort die Kürzung der für die Provinzen bereitgestellten Mittel und den schrittweisen Abbau des kanadischen Wohlfahrtsstaats verlangt.

Natürlich stehen auch die Beschäftigten der Bundesverwaltung in der Schußlinie: 45000 Beamte rechnen mit ihrer Entlassung oder mit einem erzwungenen Vorruhestand.3 Gleichzeitig werden die Subventionen für die Getreidefarmer im Westen des Landes gestrichen und Deregulierungen im Transportsektor durchgesetzt, womit vor allem jene Regionen bestraft werden, die landesweit am wenigsten entwickelt sind. Des weiteren soll ein beträchtlicher Teil des Staatsbesitzes liquidiert werden. Dazu gehört unter anderem das gesamte Streckennetz der Eisenbahngesellschaft Canadian National, das auf den internationalen Kapitalmärkten verkauft wird.

Die Sparmaßnahmen der liberalen Regierung haben eine neue Welle von Fabrikschließungen und Entlassungen ausgelöst. Der Telekommunikationsriese Entreprises Bell Canada wird 10000 Beschäftigte, das heißt ein Viertel der Gesamtbelegschaft, entlassen.4 Die Bauindustrie, in der in bestimmten Monaten mehr als 7000 Unternehmen Konkurs anmelden5, liegt völlig darnieder. In mehreren kanadischen Städten muß der Immobiliensektor einen Rückgang von fast 40 Prozent verkraften. In Ottawa liegt die Arbeitslosigkeit auf dem seit zwanzig Jahren nicht mehr erreichten Niveau von 10,6 Prozent. Unter der Last der Schulden hat die Stadt Montreal angekündigt, die Zahl der städtischen Beschäftigten um etwa 20 Prozent zu reduzieren ...

Die allgemeine Praxis, in Rente gegangene Arbeitnehmer nicht zu ersetzen, verlagert die Lasten der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit auf die Schultern der jungen Generation. Gleichzeitig verändert sich das Erscheinungsbild der Städte, in deren Zentren immer mehr Bettler und Kleinkriminelle anzutreffen sind. Die wachsende Zahl der Obdachlosen, Armen und gesellschaftlichen Randexistenzen erklärt zum Teil, weshalb der multikulturelle kanadische melting pot zerbricht und sich eine konfliktgeladene Atmosphäre ausbreitet, die zum Nährboden für Rassismus und ethnische Spannungen wird. In Quebec hat die Zahl der Sozialhilfeempänger (800000) in fünf Jahren um 60 Prozent zugenommen. Und obwohl 17,4 Prozent der kanadischen Bevölkerung unter der offiziellen Armutsschwelle leben6, wird das Land von der internationalen Gemeinschaft auch weiterhin als „gelobtes Land“ präsentiert. Laut dem Indikator für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen steht Kanada weltweit sogar an erster Stelle ...

Die gesamte Bruttoverschuldung des Landes (Bundesstaat, Provinzen, Städte) erreicht gegenwärtig 850 Milliarden Dollar. Der Anteil an den Staatsschulden, der von Ausländern gehalten und auf den internationalen Kapitalmärkten gehandelt wird, ist höher als die Auslandsverschuldung Mexikos und Brasiliens zusammen. Die politische Zukunft Kanadas und Quebecs liegt also zu einem guten Teil in den Händen der Finanzmärkte. Die von der Wall Street verlangten und von der liberalen Regierung eingeleiteten Sparmaßnahmen ähneln in starkem Maße der Schocktherapie und den Programmen zur Strukturanpassung, die der Internationale Währungsfonds normalerweise den verschuldeten Ländern der Dritten Welt auferlegt.

Die Finanz-Evaluations-Agenturen Moody's und Standard & Poor's, die das von Gläubigern eingegangene Risiko bewerten und auf dieser Grundlage einen beträchtlichen Einfluß auf die Höhe der den Schuldnern auferlegten Zinssätze ausüben, haben damit gedroht, die Kosten der kanadischen Verschuldung zu erhöhen, falls das Land sein Budgetdefizit nicht reduziere. Im Februar dieses Jahres, und zwar in der Woche nach der Ausarbeitung des Haushalts, reiste Finanzminister Paul Martin nach New York, um sich mit den Verantwortlichen der großen amerikanischen Investmentbanken zu treffen, die einen Teil der Schulden des kanadischen Bundesstaates halten.7 Aber nicht nur die Bundesregierung leidet unter diesem Druck: Einen Monat vor dem Referendum in Quebec verkündete Moody's, jede Provinz habe angesichts der „verfassungsmäßigen Entwicklungen“ unverzüglich eine Bilanz der „Haushaltssituation“ vorzulegen.

Die volkswirtschaftlichen Reformen haben die Beziehungen zwischen Bundesstaat und Provinzen grundlegend verändert. Die Bundesregierung in Ottawa hat die für Sozialprogramme bestimmten Zahlungen an die Provinzen reduziert und konnte sich so eines Teils ihrer Schulden entledigen. Durch dieses Verfahren („Kanadischer Sozialtransfer“), das die Unterschiede zwischen den Regionen vertieft hat, kann die Bundesregierung die „landesweiten Normen“ festlegen und deren Umsetzung anschließend den Regionen überlassen. Diese stehen dank ihrer „Autonomie“ ohne Mittel da und verfügen über die Freiheit, die Bereiche Ausbildung, Gesundheit und Sozialversicherung nach ihren Vorstellungen neu zu strukturieren (siehe untenstehenden Artikel). Auch wenn dieses Modell noch nicht mit der mittlerweile in den Vereinigten Staaten durchgeführten umfassenden Deregulierung übereinstimmt, führt es dennoch zur Ausdünnung des von der Bundesregierung unterhaltenen sozialen Netzes. Die Provinzen müssen dann nach finanziellen Notlösungen suchen, was in der Regel zu Lasten der Anspruchsberechtigten geht.

Die Provinzregierungen, die ebenfalls unter dem Druck ihrer Gläubiger stöhnen, versuchen, ihre Souveränität zu Lasten des Bundesstaates zu vergrößern. Die Wirtschaftskrise hat derart eine neue politische Landschaft hervorgebracht, in der es Abspaltungstendenzen keineswegs nur in Quebec gibt. Im Parlament bilden zwei Regionalparteien, der Bloc québécois und die Reform-Partei, die Opposition zur regierenden Liberalen Partei. Die Reform- Partei, deren Wurzeln vor allem in Westkanada liegen, hat eine Neubestimmung des Bundesstaates verlangt und stillschweigend das Recht Quebecs auf Selbstbestimmung akzeptiert.

In der Provinz Alberta wurden exemplarische Neustrukturierungen im Sozialbereich durchgeführt, und viele sind der Meinung, man könne dieses Modell anderswo, unter anderem auch in Quebec, nachahmen. Unter Führung der konservativen Regierung von Ralph Klein wurde seit 1993 das gesamte Gesundheitssystem neugeordnet. Die „überschüssigen Krankenhäuser“ wurden an amerikanische Privatunternehmen verkauft, und das Krankenhauspersonal wurde gezwungen, „eine freiwillige Lohnreduzierung“ zu akzeptieren. Mehrere tausend „überzählige Krankenhausbeschäftigte“ wurden versetzt oder entlassen.8

Im November des letzten Jahres wurde im Bundesstaat Ontario von der neuen konservativen Regierung unter Mike Harris eine einschneidende Umstrukturierung der Sozialprogramme gemäß neoliberalen Prinzipien durchgeführt. Zu den getroffenen Maßnahmen, die soziale Proteste und Demonstrationen in Toronto nach sich zogen, gehörten die Schließung von 20 Prozent der Krankenhäuser der Provinz, einiger Fachbereiche an den Universitäten und die Streichung mehrerer arbeitsrechtlicher Bestimmungen. Trotz einiger Klauseln des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens, die die Errungenschaften des kanadischen Wohlfahrtsstaates garantieren sollen, wird es langfristig zu einer „Angleichung“ der kanadischen Sozialprogramme und der Arbeitsgesetzgebung an die „Normen“ der Vereinigten Staaten kommen. Wenn die einheitlichen Vorschriften, die bisher von Ottawa festgelegt wurden, in Frage gestellt werden, dann ermutigt dies eine soziale Deregulierung.

In dieser Hinsicht sind die Aussichten für Quebec keineswegs besser. Als Reaktion auf die Kürzung der Finanzleistungen des Bundes hat die von Jacques Parizeau geführte Regierung der Parti québécois (PQ) – ohne vorher die Öffentlichkeit oder das Parlament zu konsultieren – im Mai dieses Jahres die Schließung von neun Krankenhäusern in Montreal verkündet. Von dieser Entscheidung sind 9500 Angestellte betroffen, darunter 1500 Beschäftigte im Pflegebereich und 926 Ärzte. Man kann die Situation auch mit den Worten des Sprechers des Gesundheitsministeriums umschreiben: „Sollen wir etwa so lange warten, bis der Internationale Währungsfonds uns dazu auffordert, Betten zu streichen?“9

Trotz des immer schlechter werdenden Zustands der Unterrichtsräume und obwohl bereits jetzt sehr viele Schüler und Studenten ihre Ausbildung nicht beenden, faßt die Regierung weitere Mittelkürzungen im gesamten Schulbereich ins Auge. In den Realschulen werden die geisteswissenschaftlichen Fächer zum Teil durch Unterrichtsformen ersetzt, bei denen die Schüler auf dem Wege der Berufsausbildung „an den Markt herangeführt“ werden. Auch der unter der Regierung von René Lévesque gegründete Sender Radio- Québec wird sein Personal um 23 Prozent verringern.10

Paradox aber wird die politische Situation: Während sich für die Parti québécois Souveränität vor allem über die Bewahrung der Kultur, der Sprache und der nationalen Identität definiert, hat die Regierung von Jacques Parizeau dem starken Druck der internationalen Finanzkreise nachgegeben und die Etats für Ausbildung und Kultur massiv gekürzt. Obwohl sie sich auf sozialdemokratische Grundsätze beruft, hat die Führung der PQ neoliberale Grundsätze vorbehaltlos übernommen. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich kaum noch von der Bundesregierung.

Während der ganzen Referendumskampagne über die Souveränität Quebecs, die stark auf Verfassungsaspekte zentriert war, sind die Führer der Unabhängigkeitsbewegung dem Thema der wirtschaftlichen Souveränität stets ausgewichen, weil sie sich dann mit den Beziehungen eines unabhängigen Quebec zu seinen Gläubigern hätten beschäftigen müssen. Auch die komplexe Frage nach dem Platz Quebecs innerhalb der Nafta ist nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit behandelt worden. Die Gewerkschaften, die von jeher die Parti québécois unterstützt haben, ermöglichten der Regierung die Erhaltung des bedrohten sozialen Friedens, um einen möglichen Sieg der Separatisten nicht zu gefährden. Nach dem Scheitern des Referendums steht nun wieder die Sparpolitik der Regierung im Mittelpunkt aller Debatten.

Der im Rahmen der Nafta erfolgte Zusammenschluß auf kontinentaler Ebene hat in erheblichem Maße zu einem Zerfall der Märkte in den kanadischen Provinzen und zu den Pleiten kleiner und mittlerer Unternehmen beigetragen, die entweder vom Markt verschwinden oder zu Filialen von Großunternehmen werden. Auf lokaler und Provinzebene haben die nordamerikanischen Großhandelsunternehmen nunmehr das Sagen. Die Filialen-Wirtschaft, die sich in Kanada seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, existiert praktisch nicht mehr: Die lokalen Firmen, die im Auftrag von amerikanischen Unternehmen arbeiteten, sind geschlossen oder in regionale Verkaufsbüros dieser Unternehmen umgewandelt worden. In Quebec ist die Lage noch beunruhigender, weil kanadisches Kapital und viele Unternehmen mitsamt ihrem Firmensitz von Montreal nach Toronto abwandern. Hinzu kommt, daß Betriebe der verarbeitenden Industrie nach Mexiko verlagert worden sind, was zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hat.11

Auf zum kontinentalen Staat?

DIE meisten Waren, die für die Wirtschaft Kanadas und Quebecs bestimmt sind, kommen heute aus den industriellen Zentren der Vereinigten Staaten. Die Freigabe von Güter- und Kapitalbewegungen hat im übrigen gezeigt, daß es immer noch Wirtschaftsbarrieren zwischen den einzelnen kanadischen Provinzen gibt. Im Juni 1994 hat die konservative Provinz-Regierung von Brian Mulroney eine Vereinbarung über den inländischen Handel zwischen Ottawa und den Provinzen unterzeichnet. Diese Vereinbarung sollte „die Ungleichgewichte beseitigen, die aus dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen resultieren, weil dieses den amerikanischen Geschäftskreisen eine günstigere Behandlung zugesichert hatte als denjenigen der Provinzen“.12 Anstatt die Ungleichgewichte zu beseitigen, hat diese Vereinbarung die Rechte der Unternehmen gefestigt und die Möglichkeiten der nationalen wie der Provinzregierungen vermindert, ihnen Vorschriften zu machen, unabhängig davon, ob es sich um amerikanische oder kanadische Unternehmen handelt.

Wie könnte nun eine „nationale Identität“ der kanadischen Unternehmen im Rahmen der Nafta aussehen, nachdem die Fusionswelle der späten achtziger Jahre bereits eine Vielzahl von Abhängigkeitsbeziehungen zwischen amerikanischen und kanadischen Unternehmen geschaffen hat? Zahlreiche kanadische Großunternehmen haben ihren Firmensitz in die Vereinigten Staaten verlegt. Durch die Gründung von Unternehmen mit Kapital aus beiden Ländern und durch die Fusion amerikanischer und kanadischer Konglomerate sind die amerikanischen Interessen in fast jeden Bereich der kanadischen Wirtschaft vorgedrungen. Obgleich die Nafta Kanada die Kontrolle über einige „geschützte Bereiche“ (natürliche Ressourcen, Wälder, Erdöl) und über die Kulturindustrie (Fernsehen, Kino) zusichert, stehen dem amerikanische Kapital in diesen Bereichen kaum praktische Hindernisse im Weg.

Die wachsende Staatsverschuldung schwächt die Strukturen der Provinzen und des Bundesstaates und begünstigt die politische Integration der kanadischen Provinzen in die Logik der nordamerikanischen Freihandelszone. Selbst wenn die kanadischen Provinzen ihre Finanzen nicht mehr vollständig kontrollieren, werden sie doch zu immer „unabhängigeren“ und immer „souveräneren“ politischen Gebilden, die sich im gemeinsamen Rahmen einer kontinentalen Wirtschaft bewegen. In Kanada wird es bis zum Ende des Jahrhunderts keinen Finanztransfer mehr zwischen Bundesstaat und Provinzen geben. Und wenn der Bundesstaat auch formell weiterbesteht, wird es langfristig doch zur Bildung eines kontinentalen Staatsgebildes kommen, dessen wirkliches Machtzentrum und dessen wirtschaftspolitische Entscheidungsinstanzen (wie zum Beispiel die Federal Reserve Bank) in Washington angesiedelt sein werden.

Begünstigt durch das Fehlen eines gesellschaftlichen Protestes, der die Wirtschaftspolitik der Regierungspartei in Frage stellen könnte, wird sich der bereits existierende enorme Druck der Finanzmärkte weiter verstärken und zu einer zunehmend restriktiven Haushaltspolitik führen. Unter diesen Umständen könnte es in den nächsten Jahren zu einer Beschleunigung der ökonomischen Balkanisierung, zu einer Vertiefung der sozialen Gegensätze und zum Zerfall der souveränen wirtschaftlichen und sozialen Einheiten kommen – sowohl in Kanada als auch in Quebec.

dt. Christian Voigt

1 Siehe das Dossier „Kanada auf neuen Wegen“, Le Monde diplomatique (dt.), Juli 1995.

2 Weder die amerikanische Federal Reserve Bank noch die kanadische Zentralbank haben eingegriffen. Ihr Begründung lautet, hohe Zinsen seien ein gutes Mittel „im Kampf gegen den Inflationsdruck“.

3 45000 von insgesamt 220000 Beschäftigten der Bundesregierung. (Ausgenommen sind lediglich diejenigen, die für das Verteidigungsministerium arbeiten.)

4 Gleichzeitig schafft Bell Canada allerdings über seine Tochtergesellschaft Northern Telecom Tausende von Arbeitsplätzen in seinen Fabriken in Südostasien und baut seine Geschäfte in den Vereinigten Staaten aus.

5 Zahlen nach Angaben des kanadischen Industrieministeriums.

6 Siehe Stéphane Baillargeon, „Les abonnés de l'inégalité“, Le Devoir, Montréal, 1. Mai 1995.

7 Siehe „Martin promet à des financiers influents un Canada différent“, La Presse, 4. März 1995.

8 Sidney Sharpe, „Medicare on the Critical List“, The Financial Post Magazine, Toronto, Mai 1995.

9 La Presse, 27. Mai 1995.

10 Pressekommuniqué von Radio Quebec vom 16. Mai 1995. Bei Radio Kanada werden ebenfalls über 1000 Arbeitsplätze gestrichen. Siehe Le Devoir, 23. November 1995.

11 Zum Thema Nafta siehe Michel Lacroix, „Les tribulations du marché unique nord-américain“, Le Monde diplomatique, März 1993, und: Serge Halimi, „Triomphe ruineux pour l'administration démocratique“, Le Monde diplomatique, Dezember 1993.

12 Siehe Canadian Center for Policy Alternatives, CCPA Monitor, Band 2, Nr. 1, Mai 1995

* Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Ottawa

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Michel Chossudovsky