15.12.1995

Wer Markt sagt, meint Korruption

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Wer Markt sagt, meint Korruption

IN Rußland, China und Vietnam hat sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auch die Wirtschaft gewandelt; doch das, was man als Kommunismusersatz heute dort vorfindet, ist kein marktwirtschaftlicher Wettbewerb, sondern ein bürokratischer Kapitalismus. In den Ländern dominieren Zynismus und Korruption. Die Macht liegt weiterhin fest in den Händen der alten Führungsschicht, die das Staatseigentum zwar privatisiert hat, aber an die Stelle von Effizienzinteressen sich nun von dem jeweils persönlichen Eigeninteresse leiten läßt. Eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Denkweise ist kaum anzutreffen, dafür ist der vorgeführte Reichtum einiger weniger Raubritter und Prinzen in einer nicht gerade prosperierenden Gesellschaft um so auffälliger. Dies dürfte kaum den Vorstellungen der internationalen Finanzinstitutionen entsprechen. Denn mit Raubrittertum allein läßt sich keine stabile Marktwirtschaft begründen.

Von GABRIEL KOLKO *

Man höre und staune: Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und den tiefgreifenden Umwälzungen in China und Vietnam unterscheiden sich die neuen Regime in nichts von den alten. Der Einfluß derer, die einmal als Kommunisten herrschten, ist ungebrochen, an ihren Privilegien wurde nicht gerüttelt. Die einzige Revolution, die diesen Namen verdient, ereignete sich auf dem Gebiet der Rhetorik: Statt sich marxistisch auf „historische Gesetzmäßigkeiten“ zu berufen, wird das politische Handeln jetzt durch das große Mysterium des „Marktes“ gerechtfertigt.

Das sozialistische Gleichheitscredo war unter den Zynikern, die diese Länder regierten, schon lange zu einer Ideologie verkommen, mit der sie ihr hemmungsloses Streben nach persönlicher Macht bemäntelten. Und Lenins Lehre, die zu Zwecken kommunistischer Linientreue die strikte Kontrolle der Parteimitglieder und der öffentlichen Meinung forderte, hinderte die Elite denn auch nicht an der Einsicht, daß ein „Markt“, der aus der Konfiszierung des ehemaligen Eigentums der Gesellschaft hervorgeht, ihren Interessen aufs schönste entgegenkommt. Diese beispiellose Umgestaltung eines politischen und ökonomischen Systems hat zu etwas geführt, was man in der seltsamen Welt, in der wir leben, wohl nur als „bürokratischen Kapitalismus“ bezeichnen kann.

Seit über zehn Jahren herrscht in Rußland, China und Vietnam ein instabiles Gleichgewicht, und die Machtverteilung spiegelt die Spannungen zwischen rivalisierenden Blöcken wider, die sich auf disponible Klientelgruppen und regionale Bündnisse stützen. Diese Bündnisse sind freilich äußerst fragil, basieren sie doch auf einer lokalen und nationalen Günstlingswirtschaft, während ein gemeinsames ideologisches Fundament so gut wie völlig fehlt. Dieses labile Regierungssystem, in dem sich die Machtverhältnisse von heute auf morgen ändern können, hat die „marktwirtschaftliche“ Privatisierungspolitik in Rußland und China nachhaltig geprägt – und mittlerweile ist das auch in Vietnam der Fall. Nicht die von Natur aus wolkigen Effizienztheorien bestimmen also den ökonomischen Kurs dieser Staaten, sondern die Privatinteressen derer, die gerade die Macht innehaben.1

In allen drei Ländern wurden die alten Revolutionäre irgendwann durch ehrgeizige Bürokraten und Technokraten abgelöst; diese wiederum haben eine neue Führungsschicht hervorgebracht, die sich aus Spitzenmanagern, hohen Parteifunktionären und deren Kindern zusammensetzt. Für diese Karrieristen, die nur ans Geschäft denken und an ihrem Imperium zimmern, spielen die von Stalin und Mao ohnehin diskreditierten sozialistischen Ideologien keine Rolle mehr. Aber auch die kapitalistischen Doktrinen interessieren sie nur insoweit, als es ihrem Vorteil dient. Es herrscht also ein Opportunismus, der den Sozialismus zu Grabe trägt, ohne indes jenen „marktwirtschaftlichen Wettbewerb“ hervorzubringen, von dem der Internationale Währungsfonds schwärmt. Was hier entsteht, unterscheidet sich deutlich von beiden Systemen.

Der Umwälzungsprozeß in Rußland dürfte die künftigen Entwicklungen in China und Vietnam insofern vorwegnehmen, als die kommunistische Nomenklatura einschließlich ihrer Nachkommenschaft in allen drei Ländern bislang dieselbe Rolle gespielt hat.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurden die Manager der meisten russischen Staatsbetriebe immer autonomer. Als dann 1987 die Wirtschaftsreform mit Privatisierungen begann, hatten diese Leute das nötige Wissen und die Beziehungen, um sich zu den Hauptnutznießern der Veränderung zu machen. Das ursprüngliche Privatisierungsgesetz räumte den Arbeitern gewisse Rechte ein, doch die „Chefs“ ließen sie in keinem Punkt mitbestimmen, wobei sie oft dreist behaupteten, sie hätten nur den Schutz des „kollektiven Eigentums“ im Sinn. Da diese Manager gute Verbindungen zu den Schlüsselministerien hatten und die Hintertürchen des Systems versiert zu nutzen verstanden, konnten sie sich die beste Ausgangsposition sichern: Die genannten Ministerien setzten nämlich den Kaufpreis für die Unternehmen sehr niedrig an und halfen häufig, den Besitzerwechsel mit günstigen Krediten zu finanzieren.2

Raubritter der Moderne

DIE Insider, die heute in weiten Teilen die Wirtschaft führen, genießen nahezu die gleichen Rechte wie jeder Privateigentümer, ohne daß sie jedoch die entsprechende Verantwortung trügen. Denn meist bleiben die Betriebe rechtlich an den Staat angebunden, der seinerseits versucht, seine Interessen zu wahren. So werden insbesondere Firmen aus Schlüsselsektoren monopolistisch zusammengeschlossen, damit sie ihre Ziele gemeinsam verfolgen können. Diese zwielichtigen Beziehungen zwischen Staat und Industrie sind vor allem deshalb bedeutsam, weil die Struktur der politischen Macht immer stärker von solchen Monopolgesellschaften geprägt wird. Sie erhalten, wenn sie nicht im üblichen Wortsinn „rentabel“ sind, nach wie vor massive staatliche Hilfen.

Die Manager haben gleichzeitig mehrere Taktiken verfolgt, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirken, aber gerade das hat sie zu den wahren Herren einer Wirtschaft gemacht, die seit 1990 immer komplexer geworden ist. Wer etwa ein Unternehmen kontrolliert, das keinen Gewinn macht, wird kaum an eine Privatisierung denken. Und viele Manager, die de facto Eigentümer sind, bleiben auf direkte und indirekte Subventionen angewiesen, die sich im Frühjahr 1993 auf 22 Prozent des Bruttosozialprodukts beliefen. Die Alternative zu diesem Arrangement (das immer wieder dazu führt, daß Löhne nicht pünktlich gezahlt werden, weil die staatlichen Gelder auf sich warten lassen) besteht in massenhaften Bankrotten, dem Verlust von Arbeitsplätzen – und in sozialem Chaos. Die Manager beziehen währenddessen ihre stattlichen Gehälter weiter.

Diese Verflechtung von Staat und Industrie hat, wie ein Vertreter der Weltbank sagte, eine eindeutig „korporatistische“ Note, denn beide Seiten haben ein starkes materielles Interesse am Fortbestand der Unternehmen, und die Grenze zwischen faktischen Eigentümern und Bürokraten ist kaum noch auszumachen.3 Die Beziehungen zwischen der politischen Führung und der neuen Wirtschaftselite werden sogar immer enger, weil man sich gegenseitig braucht. Die Firmen hängen von den Politikern ab, weil sie Subventionen bekommen, und statt zu versuchen, auf einem wirklich freien Markt Gewinne zu machen, setzen die meisten von ihnen auf diese bequeme politische Lösung ihrer Probleme. Umgekehrt sind die Moskauer Politiker auf die Spitzenmanager angewiesen, denn diese verfügen in den Regionen über gute politische Kontakte, die auch auf nationaler Ebene ins Gewicht fallen können. Derartige Verbindungen haben dazu geführt, daß aus rein politischen Gründen ein fataler Wirtschaftskurs gefahren wurde: Seit 1992 hat sich die staatliche Kontrolle über die entscheidenden Industriezweige deutlich verstärkt. Dadurch wurde der Konzentrationsprozeß beschleunigt, während sich zugleich der Umfang der Bürokratie verdoppelt hat.

Zahlreiche dieser Verbindungen der Banken und der Industrie zur Moskauer Politik sind mühelos zu identifizieren. So war etwa Wiktor Tschernomyrdin, bevor er Premierminister wurde, Direktor von Gazprom, der größten staatlichen Gesellschaft Rußlands, die das Monopol auf den Erdgasexport hat. Die Kontrolle über die Wirtschaft ist zwar durchaus umkämpft, aber daß sich der Staat völlig heraushält – wie der IWF immer wieder vergeblich fordert –, will im Grunde niemand. Bislang wurden alle Privatisierungen, die eine Beteiligung von ausländischem Kapital an absehbar lukrativen Großunternehmen ermöglicht hätten, erfolgreich abgeblockt. Freilich nicht aus nationalistischen oder ideologischen Gründen, sondern aus bloßem Pragmatismus: Denn wenn es den Geschäftsinteressen dienlich ist, wird man den Einfluß des Staats schon mindern oder ganz beseitigen. Was zählt, sind allein die Einkünfte und die Macht.

Bis Ende 1994 wurden etwa 90000 Staatsbetriebe auf die eine oder andere Weise privatisiert. Danach hielten in 75 Prozent der Fälle frühere Beschäftigte, unter ihnen auch Manager und Direktoren, die Aktienmehrheit, für die sie wenig oder nichts gezahlt haben; und in 90 Prozent der Fälle behielten die alten Manager ihren Posten. Eine 1994 gemachte Erhebung über 580 der wohlhabendsten Russen (mit einem Vermögen von durchschnittlich 26 Millionen Dollar), hat ergeben, daß über 60 Prozent von ihnen ehemalige Kommunisten waren und daß die reichsten von ihnen zur früheren Nomenklatura gehörten. Das kann nicht erstaunen, denn sie erhielten als erste die wichtigen Informationen, sie verfügten über ausgezeichnete Beziehungen und konnten Anfang der neunziger Jahre Dollars weit unter dem Kurswert kaufen. Noch immer setzt sich also Rußlands Führungsschicht aus den ehrgeizigen Opportunisten von einst zusammen.4

Zahlreiche Direktoren stark subventionierter Betriebe haben die rentabelsten Geschäftszweige ausgegliedert und zu diesem Zweck Privatfirmen gegründet. Über diese Filialen fließen enorme Summen ins Ausland: Die Kapitalflucht im ersten Halbjahr 1995 wird auf 60 Milliarden Dollar geschätzt. Logischerweise sind die Manager mittlerweile die heftigsten Gegner jener Art von Privatisierung, wie sie dem IWF vorschwebt. Insofern sind die Klagen von Weltbank und IWF verständlich, daß ihre beträchtlichen Kredite dazu beigetragen haben, diesen merkwürdigen Kommunismusersatz zu schaffen; ihre Experten sprechen in diesem Zusammenhang von „Ausplünderung“, „Korruption“ und „Kriminalität“.5 Als einzige verzweifelte Hoffnung bleibt ihnen, daß aus diesem kapitalen, in legaler Form praktizierten Raubrittertum langfristig doch noch ein richtiger Kapitalismus entsteht. Und daß die Korruption nur zu den unvermeidlichen Kosten gehört, die nun einmal bei der Abschaffung dessen anfallen, was man einmal Sozialismus nannte.

Was derart in Rußland entsteht, ist ein ökonomischer Bastard, der jeder theoretischen Beschreibung spottet. Man etikettiert ihn vage als Korporatismus, Vetternwirtschaft, bürokratischen oder politischen Kapitalismus. Wie auch immer: Die Frage, ob Rußland den Zusammenbruch oder tiefgreifende Umwälzungen vermeiden kann, bleibt offen, solange seine neue Wirtschaft keinerlei soziale Errungenschaften zustande bringt und nicht einmal ein stabiles Wachstum erzielt.6

Von der Plan- zur Clanwirtschaft

IST die Situation in China grundlegend anders? Deng Xiaoping brauchte einen festen Rückhalt in den Provinzen, um den Verfechtern der Planwirtschaft und anderen Rivalen die Stirn bieten zu können. Deshalb räumte er regionalen Spitzenpolitikern und Wirtschaftsführern ab 1980 immer mehr Befugnisse ein, und die so Privilegierten begannen, sich ihr eigenes Reich zu zimmern. Es kam zu Verteilungskämpfen um die politische Macht, die den Privatisierungsprozeß in China nachhaltig geprägt haben. Solange Dengs Gesundheit es zuließ, blieb er der unangefochtene Herr dieses prekären Systems, aber Interessenkonflikte und die fortschreitende Dezentralisierung haben den Staatsapparat immer fragiler gemacht. Viele Funktionäre nützten dies skrupellos zu ihrem Vorteil aus, vor allem Betriebsleiter mit guten politischen Kontakten und regionale Parteiführer.

Chinas Wirtschaftskurs nach 1980 hing hauptsächlich von den partikularen Wünschen rivalisierender Cliquen ab, während die Frage einer marxistischen oder liberalen Ideologie kaum eine Rolle spielte. Politische und ökonomische Weichenstellungen erfolgten häufig nur, um Gegner auszuschalten, und ein echtes Motiv jenseits von Ehrgeiz und Machtstreben läßt sich nicht erkennen.7

1990 erfolgten in China die ersten Reformen im Unternehmensbereich und die Gründung einer Wertpapierbörse. Im November 1993 wurde ein Programm gestartet, das darauf zielt, fast allen mittleren und großen Staatsbetrieben, 10000 an der Zahl, mehr Autonomie einzuräumen. Insgesamt gibt es eine große Palette ökonomischer Programme, die vom einfachen Verkauf der Unternehmen über Teilprivatisierungen bis hin zur Beibehaltung des Status quo reichen. Gleichzeitig wurde

ein neues Unternehmensgesetz verabschiedet, das etwa 11000 weitere Firmen betrifft, die bis Ende 1993 gegründet wurden: Manager von Staatsbetrieben dürfen diese jetzt auch privat übernehmen und leiten.8

Unter solchen Bedingungen dürfte die künftige Entwicklung Chinas derjenigen Rußlands gleichen, denn auch hier entsteht eine enge Symbiose zwischen dem subventionierenden Staat und unwirtschaftlichen Unternehmen. Deren Manager können sich je nachdem das Beste aus den beiden Welten heraussuchen, die man euphemistisch „Sozialismus“ und „Marktwirtschaft“ nennt.9 Zahlreiche Direktoren von Staatsbetrieben haben wie in Rußland damit begonnen, die lukrativsten oder rentabelsten Geschäftszweige in private Joint-ventures (auch mit ausländischer Beteiligung) auszugliedern, die sie zum Teil auch besitzen. Bis Frühjahr 1995 entstanden 10000 solcher Joint-ventures, in die ohne jede Gegenleistung viel Staatsvermögen eingeflossen ist, was im Grunde auf Diebstahl hinausläuft. Doch wie in Rußland hat auch schon die Umstrukturierung und Zusammenlegung von Staatsbetrieben zu effizienteren Großunternehmen begonnen.10

Den größten Vorteil aus diesem komplexen Wirtschaftssystem ziehen naturgemäß die Kinder der kommunistischen Spitzenfunktionäre, die „kleinen Prinzen“. Es entstehen Familiendynastien wie etwa die der Angehörigen Deng Xiaopings, die alle ein Vermögen gemacht haben. Viele „Prinzen“ haben mittlerweile gutdotierte Managerposten in Hongkonger Firmen, und als China 1991 begann, 15000 Quadratkilometer Land preisgünstig zu verkaufen, sicherten sie und ihre Väter sich gewaltige Spekulationsprofite. Aus Parteioffiziellen und ihren Kindern, die anfangs kein anderes Kapital hatten als Beziehungen und politischen Einfluß, entstand so eine neue Mittelschicht von Unternehmern. Der chinesische Leninismus kulminiert in einem bürokratischen Kapitalismus, der die Synthese von Wirtschaft und Politik vollzieht.

Die Frage ist, ob sich dieser Kurs noch umkehren läßt, wenn sich die politischen Konflikte zwischen den rivalisierenden Cliquen erneut verschärfen sollten. Bedenkt man freilich, welch schlechtes Beispiel die „Reformer“ mit ihrer Bereicherungspolitik setzen und wie tiefgreifend sie Wirtschaft und Gesellschaft mit ihrem Kurs bereits geprägt und destabilisiert haben, sind die Aussichten eher düster. Der Streit um die Nachfolge von Deng Xiaoping, der bereits begonnen hat, wird jedenfalls im Zeichen von Korruption und Vetternwirtschaft stehen.

Um die Zukunft zu meistern, muß China endlich ein Mindestmaß an ökonomischer Vernunft und politischer Stabilität gewährleisten, und das heißt auch, die starken Rivalitäten zwischen den verschiedenen Parteicliquen und den einzelnen Regionen überwinden. Derzeit ist die Lage so prekär wie die Kompromisse, die ständig neu geschlossen werden. Deshalb ist heute eine sichere Prognose über die Zukunft Chinas ausgeschlossen.

Dasselbe gilt für den südlichen Nachbarn Chinas. Zwar vollzog sich die Privatisierung von Staatseigentum in Vietnam unter anderen Bedingungen als in Rußland und China, aber auch hier ist man bestrebt, jene Ungleichheit zu schaffen, die der Internationale Währungsfonds als Vorbedingung eines raschen Wirtschaftswachstums definiert. In vielen wichtigen Punkten freilich ist man sich in der Partei und im Politbüro uneins. Der Wirtschaftskurs, für den sich die Mehrheit entschieden hat, wird nicht nur von denjenigen abgelehnt, die immer noch an den Sozialismus glauben, sondern auch von einer aggressiven und expandierenden Elite vor allem junger Parteimitglieder, die bei den Worten „Reform“ und „Markt“ nur an ihre materiellen Interessen denken. Die traditionellen Sozialisten, die auch die Armee dominieren, darf das Politbüro nicht ignorieren. Sein Ideal ist daher eine Synthese aus „Markt“ und Sozialismus. In der Praxis jedoch dienten die „Reformen“ und die großen Machtbefugnisse, die man den Provinzen gab, um ihre Unterstützung zu bekommen, nur den Interessen gewinnsüchtiger Geschäftsleute mit guten politischen Kontakten. Derart entsteht eine Klassengesellschaft mit starkem Sozialgefälle, was angesichts einer konturlosen, zwischen widersprüchlichen Optionen hin und her pendelnden Politik nicht besonders überraschend ist.

Korruption statt Sozialismus

AUCH in Vietnam gab es zahlreiche Fusionen von Staatsbetrieben, aber verglichen mit Rußland oder China arbeiten diese weitaus häufiger mit Gewinn. Der Produktionszuwachs war bedeutend höher als bei privaten Firmen, weshalb das übliche „Effizienz“-Argument hier nicht durchschlägt. In Ho-Chi-Minh-Stadt machten 1994 nur 15 Prozent der Staatsbetriebe Verluste. Im Verkaufsfall machen die neuen Besitzer also ein relativ risikoloses Schnäppchen, und die „Reformer“ in Hanoi gewinnen mächtige politische Verbündete. Da es weder einen Kapitalmarkt noch ein öffentliches Verkaufsverfahren gibt, bedeutet Privatisierung faktisch Günstlingswirtschaft, die Betriebe werden also von Insidern übernommen.

Statt von Privatisierung spricht das Politbüro lieber von einer Umwandlung in Aktiengesellschaften; seine Pläne unterscheiden sich deshalb auch deutlich von den russischen und chinesischen Programmen. Es soll eine neue Gruppe von Eigentümern entstehen, die mächtig genug ist, um die alten Manager ganz oder teilweise zu verdrängen. Die Aktien will man daher nicht nur an die Arbeiter und Geschäftsführer der Firmen verkaufen (die Belegschaftsaktien sind vielmehr streng limitiert, zudem werden keine Darlehen gewährt), sondern auch und vor allem an Beamte jener Ministerien, die den Vorgang überwachen. Diese können, wie der IWF feststellt, Aktien „zu Discountpreisen kaufen und erhalten außerdem zinsgünstige Darlehen in Höhe von bis zu 5 Millionen Dong“11. Die hohen Parteifunktionäre schauen also nicht tatenlos zu, wie aus Managern neue Eigentümer werden, sondern sichern sich selbst, und das ohne Risiken und zu Vorzugspreisen, die partielle oder vollständige Kontrolle über die Betriebe, die sie im Staatsauftrag veräußern. Der IWF hat diesen selbst nach russischen und chinesischen Maßstäben tollkühnen Plan nicht kritisiert, weil er um jeden Preis vom sozialistischen Staatseigentum wegkommen will und hofft, die Dinge so steuern zu können, daß am Ende doch noch ein richtiger Kapitalismus entsteht. Die Reaktion auf diesen Plan, den sich eine raffgierige Staatsbürokratie zu ihren Gunsten ausgedacht hatte, konnte nicht ausbleiben: Die Beschäftigten leisteten erbitterten Widerstand, allen voran die politisch einflußreichen Manager, die durch die Verwirklichung dieses Programms – ganz anders als ihre russischen und chinesischen Kollegen – ihre gewohnten Pfründen eingebüßt hätten. Der Plan existiert seit 1992, aber bis Ende 1994 zeigten sich nur 23 der circa 6000 betroffenen Firmen an einer „Umwandlung“ interessiert, und nur in neun Fällen sind konkrete Schritte in Gang gekommen.

Unterdessen grassiert die Korruption, und die Manager werden zu den Hauptnutznießern der Staatsbetriebe. Wie in Rußland und China haben viele von ihnen private Filialen gegründet, die gewinnbringend mit dem Kapital, den Grundstücken und Ressourcen der staatlichen Stammhäuser operieren. Andere haben sich einfach Gelder aus der Geschäftskasse genommen, um Grundstücke, Autos und Häuser zu kaufen, oder auch um private Darlehen zu geben. Bei den fünfzig Betriebsrevisionen, die 1994 und 1995 in Ho-Chi-Minh-Stadt durchgeführt wurden, deckte man in den meisten geprüften Staatsunternehmen solche illegalen Praktiken auf, wobei oft beträchtliche Summen im Spiel waren.12 Am schlimmsten aber ist die Korruption dort, wo Familien hoher Parteifunktionäre beteiligt sind. Eine der beiden Firmen, die Ende vorigen Jahres tatsächlich „umgewandelt“ wurden, war kurz darauf in einen großen Finanzskandal verwickelt, an dem Parteimitglieder und ihre Verwandtschaft beteiligt waren. Die Partei gibt auch offen zu, daß „die meisten dieser privaten Geschäftsleute Intellektuelle und Leute mit einer guten Ausbildung sind, zum Teil Parteimitglieder und Kadersöhne“13.

Ohne eine gesetzliche Grundlage, wie eine Privatisierung sie immerhin böte, gelangt so ein großer Teil der Wirtschaft in die Hände einer neuen Klasse. Wie in Rußland und China plündert eine privilegierte politische Elite im Namen des „Marktes“ den Sozialismus und läßt die Gesellschaft ins Chaos treiben.

In Vietnam regelt allein die Korruption die Neuverteilung des Reichtums und zerstört dabei die letzten Reste des Sozialismus. Die Presse und die sozialistische Minderheit in der Partei üben zwar scharfe Kritik an diesem kriminellen Treiben. Aber da es keine wirksamen Sanktionen gibt, geht es weiter wie gehabt. Korruption ist zum Synonym für „Marktwirtschaft“ geworden. Im August 1994 erklärte Do Muoi, der Generalsekretär der Partei, daß Schmuggel und Korruption „ein besorgniserregendes Ausmaß“ angenommen haben.14 Und am 27. Januar 1995 gab er zu, daß „in die Korruptionsaffären auch zahlreiche Parteimitglieder verwickelt sind“.

Die überaus engen Verbindungen zwischen der politischen Führung und der neuen Unternehmerschicht führen unweigerlich zu massivem Betrug und Zynismus. Die Kommunistische Partei, die die neuen Kapitalisten protegiert, hat ihre Legitimität bereits weitgehend eingebüßt und ist dabei, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Immer mehr gleicht die vietnamesische Wirtschaft derjenigen Rußlands und Chinas, weil auch hier die Synthese von Leninismus und Kapitalismus eine neue Ausbeuterklasse hervorbringt.

Der Quan Doi Nhan Dan, die Tageszeitung der Armee, beklagte diese Entwicklung im Juni 1994 und fürchtete, daß die Partei „nicht überlebt“ und „sich, wie in vielen anderen Ländern bereits geschehen, auflösen wird“15. Tatsächlich steht der vietnamesische Kommunismus vor der größten Herausforderung seiner Geschichte, denn voraussichtlich werden viele Parteimitglieder der neuen Plutokratie angehören.

Die Zukunft Rußlands, Chinas und Vietnams wird also nicht so sehr vom „Markt“ geprägt sein, dessen Vorzüge die Machthaber dieser Länder und der IWF mit gehörigem Zynismus preisen, sondern von politischer Instabilität und Korruption. In den inkohärenten Wirtschaftsprogrammen findet sich keine Spur sozialistischer oder kapitalistischer Vernunft, und früher oder später werden diese Programme an ihren inneren Widersprüchen scheitern. Dann aber wird man die, die diesen Kurs befürwortet haben, zur Rechenschaft ziehen.

dt. Andreas Knop

1 Eine vorzügliche Analyse des hier untersuchten Phänomens bei Susan L. Shirk, „The Political Logic of Economic Reform in China“, Berkeley (University of California Press), 1993.

2 Michael McFall und Tova Perlmutter (Eds.), „Privatization, Conversion and Enterprise Reform in Russia“, Boulder, Colorado (Westview Press), 1995. Das Buch enthält eine Reihe informativer Aufsätze von halboffiziellen Experten und Mitarbeitern der Weltbank. Vgl. auch Igor Filotatschew u.a., „The Case of Buy-Outs in the USSR“, in: Thomas Clarke und Christos Pitelis (Eds.), „The Political Economy of Privatization“, London (Routledge), 1993.

3 Mari Kuraishi Home, in: M. McFall und T. Perlmutter, a.a.O.

4 Globe and Mail, Toronto, 17. September 1994; M. McFall und T. Perlmutter, a.a.O.; Financial Times, 30. Juni 1994 sowie 25./26., 27. März, 26. April, 17./18., 27. Juni, 10. Juli, 10. August 1995; International Herald Tribune, 27. März 1995.

5 M. McFall und T. Perlmutter, a.a.O.; I. Filotatschew, a.a.O.

6 Die Industrieproduktion Rußlands belief sich 1994 auf 45 Prozent gegenüber dem Jahr 1991. 1993/94 empfingen nur 40 Prozent der Beschäftigten pünktlich ihren Lohn. Der Prozentsatz der Einwohner, die unterhalb der Armutsgrenze leben, hat sich mehr als verdreifacht und entspricht jetzt einem Drittel der Bevölkerung. Vgl. Financial Times, 31. Dezember 1994 und 19./20. August 1995; IMF Survey, Washington, 14. August 1995.

7 Vgl. Susan L. Shirk, a.a.O.; Kenneth Lieberthal, „Governing China: From Revolution Through Reform“ New York (W. W. Norton), 1995; Far Eastern Economic Review, Hongkong, 16. September 1993 und 11. Mai 1995.

8 Internationaler Währungsfonds, „Economic Reform in China: A New Phase“, November 1994.

9 Vgl. Guilhem Fabre, „Chinas Einheit in Gefahr“, Le Monde diplomatique (dt.), September 1995.

10 New York Times, 8. Mai 1993; Financial Times, 23./24. Juli 1994, 21. Februar 1995; International Herald Tribune, 26. April 1995; K. Lieberthal, a.a.O.

11 FMI, Vietnam Investment Review, zitiert vom US Foreign Broadcast Information Service (FBIS), Daily Report: East Asia, 8. Juni 1995. Im September bekam man für den Dollar zum offiziellen Wechselkurs gut 11 Dong.

12 Dai Doan Ket, zitiert vom FBIS, 20. Juli 1995.

13 Tap Chi Cong San, zitiert vom FBIS, 22. Juli 1994.

14 Erklärung während des 7. Parteiplenums, vgl. FBIS, 17. August 1994.

15 Quan Doi Nhan Dan, Hanoi, zitiert vom FBIS, 20. Juli 1994.

* Historiker. Autor unter anderem von „Century of War“, New York (The New Press), 1994.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Gabriel Kolko