15.12.1995

Rußland wehrt sich gegen westlichen Druck

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Rußland wehrt sich gegen westlichen Druck

AUCH wenn der härtere Kurs Moskaus gegenüber dem Westen sicherlich derzeit der Tatsache geschuldet ist, daß der Wahlkampf deutliche Akzente benötigt, so hat die Unzufriedenheit des Kremls doch tiefere Wurzeln. Der Vorschlag, die Nato nach Mittel- und Osteuropa hin zu erweitern, wird von der sowjetischen Führung als ein feindlicher Akt angesehen. Darüber hinaus begrenzt der Vertrag von 1990 über die konventionelle Sicherheit in Europa auch Rußlands Möglichkeiten, im Falle neuer regionaler Krisen innerhalb der eigenen Landesgrenzen zu intervenieren. Die USA haben somit eine zweifache Möglichkeit, auf die russische Politik Druck auszuüben.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Am Donnerstag, dem 28. September 1995, stellte der damalige Generalsekretär der Nato, Willy Claes, den Ländern Mittel- und Osteuropas im Namen seiner Organisation eine Studie über die Aufnahmebedingungen dieser Länder für die Zeit nach der Übergangsphase der „Partnerschaft für den Frieden“ vor.1 Überdies haben die Unterzeichnerstaaten des Vertrags über die konventionelle Sicherheit in Europa (VKSE) am 17. November dieses Jahres eine Bestandsaufnahme über die Reduzierung der klassischen Streitkräfte zwischen dem Atlantik und dem Ural vorgenommen.

Nun bilden aber gerade diese beiden Themen einen Zankapfel zwischen Rußland und dem Westen. Der Kreml wertet die Nato-Erweiterung als einen feindlichen Akt und verlangt außerdem die Abänderung der VKSE-Vereinbarungen über die Stationierung russischer Truppen in den Grenzgebieten Rußlands.

Der Absicht einer Erweiterung des Nordatlantikpakts, für die das von Willy Claes vorgestellte Memorandum eine wichtige Etappe darstellt, ging das unmißverständliche Bestreben verschiedener Regierungen der ehemaligen „Volksdemokratien“ voraus. Eine Reihe von ihnen hat nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft mehr oder weniger diskret den Wunsch nach einem Schutz gegen eine eventuelle gewaltsame Rückkehr zu einem militärischen Übergewicht der Sowjetunion im Osten Europas bekundet: So unwahrscheinlich die Hypothese sein mochte, wurde sie doch zum Beispiel in Warschau, Prag und Budapest erwogen. In den Augen der polnischen, tschechischen, slowakischen und ungarischen Politiker konnten nur die Vereinigten Staaten ihre Sicherheit garantieren, und zwar über den Umweg der Mitgliedschaft in der Nato.

Kein anderes System erschien ihnen glaubwürdig. Dies haben sie jedesmal zum Ausdruck gebracht, wenn andere, eher europäische Lösungen zur Debatte standen. So haben sie beispielsweise bei der 1992 auf Initiative François Mitterrands einberufenen Konferenz in Prag klar und eindeutig den Plan einer Konföderation abgelehnt, in dem weder ihre uneingeschränkte Aufnahme in die Nato noch ihre definitive Teilhabe an der Europäischen Gemeinschaft festgeschrieben war. Dort haben sie betont, daß sie kein anderes Sicherheitssystem anstrebten als das eines amerikanischen Schutzes, und ebensowenig ein anderes europäisches Gebäude als das existierende und gut funktionierende.

Moskau und Boris Jelzin selbst reagierten ablehnend, und zwar in aller Unmißverständlichkeit. Der russische Staatspräsident hatte sich mit seiner ganzen Person und mit hohem Einsatz für eine Verständigungspolitik mit dem Westen und vor allem den Vereinigten Staaten stark gemacht, was ihm sogar den Vorwurf eintrug, er schwenke systematisch auf amerikanische Positionen ein. In der angestrebten Westintegration ehemaliger Verbündeter der Sowjetunion sah er ein Zeichen des Mißtrauens gegen seine politischen Optionen und vielleicht sogar gegen seine Person selbst. Wenn die westlichen Staaten die ehemaligen Volksdemokratien in ihre militärische Organisation aufnähmen und so die alte Teilungslinie aus der Zeit des Kalten Krieges nach Osten verschoben würde, wozu sollte es dann gut gewesen sein, die russische Politik auf eine feste und konstante Verständigung mit eben diesen westlichen Ländern auszurichten? Die Hartnäckigkeit, mit der die russische Politik eine Erweiterung des nordatlantischen Bündnisses bekämpft, ist nicht zu verstehen, wenn man vergißt, daß ihr eine persönliche und geradezu leidenschaftliche Reaktion von Präsident Jelzin zugrunde liegt.

Für die Vorbehalte, die in zahlreichen westlichen Hauptstädten, insbesondere Paris und London, gegen eine eventuelle Osterweiterung der Nato laut wurden, spielte die russische Reaktion keine geringe Rolle: Man wollte die Beziehungen zu Moskau nicht verschlechtern und erst recht nicht künstlich eine neue „Ost-West- Front“ aufbauen. Doch vor allem wollte man vermeiden, in eine unkontrollierbare Kettenreaktion zu geraten. Würde man die Anwartschaft Polens, Ungarns, der Slowakei und der Tschechischen Republik annehmen, so würden auch die baltischen Staaten die Mitgliedschaft beantragen; und wäre Rumänien eines Tages Nato- Mitglied, so könnte auch die Republik Moldau ihren Anspruch anmelden. Bald würde sich auch die Frage einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft stellen. Diese Erweiterung allerdings würde bedeuten, daß die westlichen Staaten sich verpflichteten, notfalls unter Einsatz all ihrer militärischen Mittel jenen territorialen Status zu verteidigen, der nun durch die Auflösung der Sowjetunion entstanden ist.

Ob diese Auflösung und die Grenzverläufe, die sie hervorgebracht hat, von Dauer sein werden, weiß jedoch niemand mit Sicherheit zu sagen – auch wenn die politisch Verantwortlichen in Europa und Amerika zögern, dies offen zuzugeben. Beispielsweise hat Weißrußland laut und deutlich seinen Willen bekundet, sich wieder mit Rußland zusammenzuschließen, und auch die Anhänger einer engeren Verbindung zwischen Moskau und Kiew konnten bei den ukrainischen Parlamentswahlen 1994 Erfolge verzeichnen; vergessen werden darf auch nicht das Problem der russischen Bevölkerung auf der Krim oder die sehr hohe Zahl an Russen, die in Estland und Lettland leben ...

Hauptsächlich mit der Unterstützung Deutschlands, dem unter den europäischen Staaten am meisten an der Erhaltung der derzeitigen, durch den Zerfall der UdSSR entstandenen Länderaufteilung gelegen ist, hat die US-amerikanische Regierung deshalb eine Reihe von Bedingungen ausgearbeitet, die die Bewerber um eine Nato-Mitgliedschaft zu erfüllen haben. Diejenigen, die diese Voraussetzungen ersonnen haben, waren klug genug, die Aufnahme in den Nordatlantikpakt so stark wie möglich an die Integration in die Europäische Union zu koppeln, denn dies sind „Prozesse, die sich wechselseitig unterstützen“. Weiter heißt es, die Nato ziehe „die Länder, für die eine Perspektive des Beitritts zur EU besteht, besonders in Erwägung“. So sind die Anwärter verpflichtet, die finanziellen, ökonomischen und sozialen Bedingungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen, ehe sie in das Verteidigungsbündnis aufgenommen werden, da diese Mitgliedschaft „bedeutende finanzielle Verpflichtungen“ mit sich bringt. Und um diejenigen unter den Nato-Staaten zu beruhigen, die wie Frankreich unnötige Spannungen mit Rußland befürchteten, heißt es weiter, all dies müsse im Rahmen einer „europäischen Sicherheitsarchitektur“ vonstatten gehen und das Bündnis werde gleichzeitig eine Kooperation mit Moskau entwickeln, die „sicherstellt, daß Europa nie wieder in zwei gegensätzliche Lager gespalten wird“.

Neue territoriale Realitäten

AUCH diese Architektur wurde am 17. November 1995, dem Datum, an welchem das am 19. November 1990 in Paris unterzeichnete VKSE-Abkommen endgültig in Kraft treten sollte, in Frage gestellt. Die Vereinbarung sah eine bedeutende Reduzierung der fünf wichtigsten klassischen Waffengattungen vor – Panzer und andere Panzerfahrzeuge, Artillerie, Flugzeuge und Hubschrauber –, und zwar auf allen europäischen Schauplätzen. 100000 Waffen sollten verschrottet werden. Überdies sollten die verbleibenden Streitkräfte innerhalb eines jeden Landes in geographische Gebiete verlegt werden, die es unmöglich machen, einen Überraschungsangriff zu führen. Ausgehandelt und beschlossen wurde das Abkommen im Rahmen der KSZE-Folgekonferenz; hierfür wurde die Ausgestaltung der KSZE-Nachfolgeorganisation OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, mit Sitz in Wien) übertragen, der auch die Militärs unterstellt sind, die die Umsetzung des Abkommens zu überwachen haben. Es mutet paradox an, daß hier eine Struktur unter dem Zeichen des alten Ost-West- Konflikts ersonnen wurde, als gäbe es noch die beiden Blöcke, eine Struktur, die ein gewisses Gleichgewicht herzustellen und aus dem Kalten Krieg überkommene Spannungen abzubauen vermag. Denn es gibt nur noch einen der beiden Blöcke, der andere ist vollständig verschwunden. Es ist noch milde ausgedrückt, wenn man sagt, es könne keine Rede mehr sein von einem Gleichgewicht zwischen ihnen: Der Zerfall des Warschauer Pakts und die Auflösung der Sowjetunion haben das Kräfteverhältnis und die strategische Lage in Europa grundsätzlich verändert. Und bedenkt man eine kommende Nato-Mitgliedschaft mehrerer Staaten, die ehemals dem Warschauer Pakt angehörten, so wird noch augenfälliger, daß das VKSE-Abkommen überholt ist.

Dennoch wird es wohl umgesetzt werden. Am 17. November haben die dreißig Unterzeichnerstaaten erklärt, die konventionellen Waffen seien reduziert worden auf 40000 Panzer, 60000 Panzerfahrzeuge, 40000 Geschütze, 13600 Flugzeuge und 4000 Hubschrauber.

Aber so bemerkenswert dieses Ergebnis sein mag, so stellt es doch noch keine gänzliche Umsetzung des Abkommens dar. Am 15. November nämlich hat der russische Verteidigungsminister General Gratschow wissen lassen, sein Land werde möglicherweise nicht alle Vereinbarungen vollständig erfüllen.

Schließlich haben sich die politischen, militärischen und strategischen Realitäten für Rußland gewandelt, dessen territoriale Situation durch die Veränderungen der letzten Jahre von Grund auf umgewälzt wurde. So benennt das Abkommen insbesondere acht Regionen auf dem jetzigen Föderationsgebiet, die nach der Auflösung der UdSSR Grenzgebiete geworden sind (siehe Karte), und eine Höchstzahl an Waffen, die in jeder von ihnen aufgestellt werden darf.2 Es sind die Regionen Leningrad, Nowgorod, Pskow und Kaliningrad an der Nordflanke und Wolgograd, Rostow, Krasnodar und Stawropol an der Südflanke, wo pro Flanke maximal 600 Panzer aufgestellt werden dürfen. Bei ihrer Forderung, eine Neuverteilung der Streitkräfte auf dem eigenen Territorium vornehmen zu können, um so gegebenenfalls einen gewissen Handlungsspielraum zu haben, macht die russische Regierung die grundlegenden Veränderungen der strategischen Lage und die neuen Grenzverläufe geltend. Es geht auf russische Vorstöße zurück, wenn es Neuverhandlungen gibt, die nächstes Jahr im Mai in eine europäische Konferenz über die Anpassung, aber auch die Konsolidierung des Abkommens münden sollen.

Rußlands Forderungen, noch einmal über die Punkte des Vertrags zu verhandeln, haben möglicherweise ihren Grund darin, daß immer mehr Krisen drohen, weil diverse nationale Gemeinschaften aus dem einen odern anderen Grunde nicht mit den neuen Grenzverläufen dem neuen – ihnen aufoktroyierten – politischen oder juristischen Status einverstanden sind. Um es konkreter zu sagen: Tschetschenien hat gezeigt, welche Risiken bewaffneter Auseinandersetzungen aufgrund nationaler Streitigkeiten bestehen und welche Verschiebungen von Streitkräften durch solche Krisen erforderlich werden können.

Unsichere Südflanke

AUFSCHLUSSREICH in dieser Hinsicht sind die Reaktionen der Anrainerstaaten Rußlands. Die drei baltischen Staaten sind die einzigen unter den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die dem Abkommen nicht beigetreten sind. Wenn deshalb ihre möglichen Bedenken von der OSZE offiziell nicht berücksichtigt werden, so ist die Frage der Militärregionen der Nordflanke dennoch nicht abtrennbar von den Ungewißheiten, die in diesem Teil des Kontinents bestehen. Die Nato und die Europäische Union sind durchaus beunruhigt angesichts einer übermäßigen Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zu Norwegen, einem Mitglied des Nordatlantikpakts, und zu Finnland, das seinerseits Mitglied der EU ist.

Den Kreml interessiert demgegenüber vor allem die Südflanke, wo er höchst signifikante Veränderungen im aktuellen Stand der Bewaffnung verlangt. Nichts verständlicher als das, ist doch die Kaukasusregion am stärksten destabilisiert: auf russischem Territorium die tschetschenische Revolte, in Georgien die abchasische, zusätzlich der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg- Karabach und der Konflikt zwischen Inguschen und Osseten, der gleich mehrere Grenzen überlappt. Dies mag auch für die Türkei beunruhigend sein, doch werden Einwände von dort keine maßgebliche Rolle spielen, insofern der östliche – in Asien gelegene – Teil ihres Staatsgebiets von der territorialen Verteilung der konventionellen Streitkräfte, wie das VKSE-Abkommen sie vorsieht, nicht betroffen ist.

Es wird also Neuverhandlungen geben, die den Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Vertrages Rechnung tragen und im Mai 1996 zu einem Ergebnis führen sollen. Dies kann um so leichter gelingen, als die Unterzeichner grundsätzlich gewillt sind, das Abkommen als solches nicht in Frage zu stellen. Insbesondere die russische Regierung hat zu keinem Zeitpunkt den Eindruck aufkommen lassen, sie wolle aus dem Vertrag aussteigen – was sie mit Verweis auf dessen Überholtheit selbstverständlich hätte tun können. Zur Debatte steht einzig die Karte, auf der die Stationierung konventioneller Streitkräfte in den verschiedenen Zonen festgelegt ist; eine Festlegung, die nicht Bestandteil des Abkommens ist, sondern lediglich Teil einer Zusatzvereinbarung, über die folglich gesondert verhandelt werden könnte, ohne dabei das ganze Abkommen in Frage zu stellen. Andererseits ist aber das Prinzip der Aufteilung in geographische Zonen, was die Aufstellung der konventionellen Streitkräfte betrifft, im Abkommen enthalten – und genau an diesem Punkt können die westlichen Verhandlungsführer ihre russischen Gesprächspartner in die Zange nehmen.

Scheinen diese erst einmal nicht mehr gewillt, sich ganz aus dem Vertrag zurückzuziehen, betrifft die Diskussion nur noch dessen Umsetzung, das heißt die Frage, wie die russischen Streitkräfte zahlenmäßig auf die verschiedenen Militärregionen Rußlands verteilt werden, und zwar vorrangig auf der Südflanke. So läßt sich verstehen, weshalb der Westen diskussionsbereit ist: Es ist ihm vor allem anderen daran gelegen, sich dieses Einfluß-, wenn nicht gar Druckmittel zu bewahren, das der Vertrag ihm an die Hand gibt und das ihm erlaubt, einen beträchtlichen Druck auf das Verteidigungssystem Rußlands auszuüben.

Die Gründe und Motive, die dem Ganzen zugrunde liegen, sind dieselben wie bei der geplanten Osterweiterung der Nato: Diese ist ganz offensichtlich für die Vereinigten Staaten nicht von vitalem Interesse, wird aber von Präsident Jelzin als Signal des Mißtrauens, wenn nicht gar einer feindlichen Haltung interpretiert. Auch wenn es kurzfristig zu keiner Westintegration von Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts kommt, so dient deren Eventualität ebenso wie die Verhandlung über die durch das VKSE-Abkommen vorgesehene Südflanke als dauerhaftes Druckmittel auf Rußland. Daran erinnern müssen wird es sich gerade bei jenen außenpolitischen Entscheidungen, die in den Augen Washingtons weit dringlicher und bedeutsamer sind, etwa im Fall des Irak oder Exjugoslawiens.

Daß die amerikanische Regierung bei ihren Verhandlungen mit Rußland um die Südflanke dieser Tatsache Rechnung tragen wird, steht außer Zweifel. Hat nicht der russische Außenminister am 20. November erklärt, eine Osterweiterung der Nato könne das Abkommen über die konventionellen Streitkräfte „zum Platzen bringen“? ...

dt. Eveline Passet

1 Vgl. Paul-Marie de La Gorce, „Failles et contradictions du nouveau système de sécurité occidental“, Le Monde diplomatique, Juli 1994.

2 Die Obergrenze, wie sie 1990 von dem Abkommen für die russischen Streitkräfte festgeschrieben wurde, beläuft sich auf 13300 Panzer, 20000 Panzerfahrzeuge, 13700 Geschütze, 5150 Flugzeuge und 1500 Hubschrauber; es handelt sich hier um Gesamtzahlen; die Aufteilung auf die acht ausgewiesenen Regionen wurde dann in einer Zusatzvereinbarung festgeschrieben.

* Autor unter anderem von „39-45. Une guerre inconnue“, Paris (Flammarion), 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Paul-Marie de la Gorce