Im Namen von Groß-Israel
EIN Monat ist nun schon vergangen, und noch immer weiß man nicht, inwieweit Jigal Amir, der Mörder des israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin, das Instrument eines regelrechten Komplotts gewesen ist. Doch die Beweggründe für seine Tat sind zweifellos in der haßerfüllten Feindschaft der nationalistischen und religiösen extremen Rechten gegen den Friedensplan und seine Architekten zu suchen. Erklärtes Ziel dieser in der Geschichte des Staates Israel verwurzelten Denkrichtung ist die Verwirklichung von Groß-Israel – und zu diesem Zweck schrecken die Anhänger vor terroristischen Mitteln nicht zurück.
Von JOSEPH ALGAZY *
Der Mörder von Ministerpräsident Jitzhak Rabin ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht: Schon immer war die extreme nationalistische Rechte eine zwar kleine, aber bedeutende Komponente des politischen Lebens der jüdischen Gemeinschaft, erst in Palästina, später im Staat Israel.1 Sowohl die Ezel (eine militärische Kampforganisation, bekannt unter dem Namen Irgun) als auch die Lechi (Kämpfer für die Freiheit Israels oder auch Stern- Gruppe, nach dem Namen ihres Gründers Avraham Stern) beeinflußten vor 1948 durch ihre Ideologie ebenso wie durch ihre Terrorakte nicht unwesentlich den Gründungsprozeß des Staates Israel. Trotz ihrer Auflösung hatten sie auch später noch Gewicht im politischen Leben.
Die Wiedergeburt der extremen Rechten begann mit dem Juni-Krieg von 1967 und mit der israelischen Besetzung der arabischen Gebiete, besonders von Ost- Jerusalem und dem Westjordanland, das die Nationalisten mit dem biblischen Namen „Judäa und Samaria“ belegten. In der Siegeseuphorie setzte sich die Ideologie des sogenannten Erez Israel Haschlema (Groß-Israel) durch, die von der säkularen wie religiösen nationalistischen Rechten getragen wurde, aber auch von Persönlichkeiten anderer Richtungen (einschließlich Teilen der damals regierenden Arbeitspartei). Der Besetzung folgte ab Sommer 1967 eine von den Machthabern initiierte und finanzierte Siedlungsbewegung, und so entstanden jüdische Siedlungen auf dem Sinai, auf der Hochebene von Rafah und entlang dem Jordantal, in der Gegend von Hebron, in Ost-Jerusalem und auf dem Golan.
Ab 1977 treiben die Likud-Regierungen die Errichtung neuer Siedlungen verstärkt voran, mit dem erklärten Ziel, Fakten zu schaffen, die jegliche Aussicht auf einen palästinensischen Staat beseitigen sollen. Diese werden rasch zu Bastionen der extremen Rechten, die sich auf zwei ideologische Pfeiler stützt2: auf einen fremdenfeindlichen, gegen die Gojim im allgemeinen und die Araber im speziellen ausgerichteten Nationalismus sowie auf religiösen Mystizismus. Grundlage dieses Mystizismus ist eine rassistische Interpretation der religiösen Vorstellung vom auserwählten Volk sowie eine proannektionistische Vereinnahmung der biblischen Überlieferung des Abraham von Gott „verheißenen Landes“.
Vier Monate nach dem von Israel initiierten Sechstagekrieg, am 14. Oktober 1967, wird der Abgeordnete Meir Vilner, Generalsekretär der Israelischen Kommunistischen Partei – der einzigen Gruppierung, die den Krieg verurteilt hatte – schwer verletzt. Sein Attentäter arbeitete in der Druckerei der Tageszeitung Hajom, dem Organ des Gachal-Blockes, dem Vorgänger des Likud. Dies ist erst der Anfang: Jahrelang bedrohen terroristische jüdische Gruppen – vor allem DOV (Dikui Bogdim, Unterdrückung der Verräter) und TNT (Terror neged Terror, Terror gegen Terror) – Anhänger und Führer der Linken, weil diese die Übergriffe der Militärs gegen die palästinensische Bevölkerung kritisiert hatten. Trotz ihrer kriminellen Aktivitäten nimmt die Polizei diese beiden Untergrundorganisationen nicht ernst.
Im Anschluß an das politische Erdbeben des Jom-Kippur-Krieges von 1973 entsteht 1974 der Gusch Emunim (Block der Getreuen). Zu den Gründern dieser religiösen und nationalistischen außerparlamentarischen Bewegung finden sich Rabbiner, an erster Stelle Mosche Levinger, Abgeordneter der zionistischen Mafdal- Partei, und Zevulun Hammer, ferner die Leiter der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und auf dem Golan. Ihre Galionsfigur ist der Rabbiner Zvi Jehuda Kook, der unter Berufung auf die Bibel Groß-Israel und die Siedlungspolitik rechtfertigt. Er verurteilt die Gebietsabtretungen von Teilen des Sinai und des Golan, zu denen die israelische Regierung als Folge des Jom-Kippur-Krieges 1973 gezwungen ist, denn ihm gilt die Inbesitznahme von „Judäa-Samaria“ als göttliches Vermächtnis. Verbündete findet der Block der Getreuen sowohl unter den Anführern des späteren Likud, etwa General Ariel Scharon, als auch bei den Falken der Arbeitspartei; auf dem Hintergrund dieser Sympathien errichten sie neue Siedlungen, einige mit, andere ohne Billigung der Regierung, die jedoch nachträglich legalisiert werden. Die Siedlerbewegung wird rasch stärker; sie hat Gönner in Israel und im Ausland, ihr Einfluß reicht von der Rechten bis hinein in die Arbeitspartei, sie nutzt das stille Einverständnis innerhalb der Armeeführung und hat ein breites Echo in den Medien.
Wie sieht das Idealbild des neuen chaluz (Pionier) der Gusch Emunim aus? Ein bärtiger junger Mann mit der Kippa auf dem Kopf, in einer Hand das Buch „Orot Hakodesch“ (Licht in der Heiligkeit) des verstorbenen Rabbiners Abraham Jitzhak Kook und in der anderen ein Maschinengewehr der israelischen Armee. Seine Gefährtin trägt wadenlanges Kleid und Kopftuch und kümmert sich um ihre zahlreichen Kinder. Die Bewegung gleicht einer Verjüngungskur für den jüdischen Nationalismus, dessen religiösen Charakter sie hervorhebt – sowohl in Israel als auch in der Diaspora. Und es wird 1977 nicht zuletzt ihr Beitrag sein, der dem Likud den Sieg über die Arbeitspartei verschafft.3
Gegenüber den Palästinensern predigt der Block der Getreuen eine Politik der „eisernen Faust“ und der rassischen Diskriminierung, wobei sie den traditionellen zionistischen Parolen einen gewissen Messianismus und antiarabischen Nationalismus beimischen. Viele Anhänger der Bewegung in den Siedlungen bilden faktisch bewaffnete Milizen. Aber erst die Unterstützung und die Gelder, die die Gusch Emunim von den verschiedenen Likud-Regierungen erhält, verschaffen ihrer Ideologie und ihren Aktivitäten die nötige Legitimität.4
Terroristen unter staatlichem Schutz
IM Juni 1980 werden die palästinensischen Bürgermeister von Nablus, Ramallah und al-Bireh Opfer blutiger Attentate. Am 26. Juli 1983 kommen bei einem Angriff in der islamischen Schule von Hebron drei Menschen ums Leben, rund vierzig werden verletzt. Und trotzdem scheint es dem Sicherheitsdienst unmöglich, die Urheber zu ergreifen. Anfang 1984 kritisiert Teddy Kollek, der Bürgermeister von Jerusalem, öffentlich die Passivität der Behörden angesichts des jüdischen Terrorismus. Wenig später prangert ein offizieller Bericht des Justizministeriums, der mit zwanzig Monaten Verspätung veröffentlicht wird, die kriminellen Aktivitäten gewisser Siedler und die Nachsicht staatlicher Stellen an.
Erst nach den versuchten Attentaten auf arabische Busse und dem erfolglos gebliebenen Bombenanschlag in der Jerusalemer Omar-Moschee werden die Terroristen im Mai 1984 verhaftet. Und erst jetzt wird öffentlich, welch breite Sympathie sie in den Siedlungen bei Rabbinern und rechtsextremen Persönlichkeiten genießen. Im Verlaufe des Prozesses geben sie an, sie hätten aus Rache für die zahllosen arabischen Attentate gehandelt und seien entschlossen, das durch das Abkommen von Camp David gefährdete Groß- Israel auch mit terroristischen Mitteln zu verteidigen. Die meisten Angeklagten werden nur zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt, sie haben bevorzugte Haftbedingungen und kommen infolge einer Amnestie bald wieder frei.
Ein weiteres Phänomen im Israel der achtziger Jahre ist die Kach-Bewegung des Rabbiners Kahane (Kach = So ist das!). Kahane war in den Vereinigten Staaten ein Anführer der (als rassistisch und terroristisch bekannten) Jüdischen Verteidigungsliga gewesen, bevor er 1971 nach Israel kam, wo er im Juli 1984 zum Abgeordneten gewählt wird. Geschützt durch seine parlamentarische Immunität geht er nun mit verbaler und auch physischer Gewalt gegen Araber in den besetzten Gebieten und gegen die in der Friedensbewegung engagierten Israelis vor. Der rassistische Gesetzentwurf, den er im Parlament einbringt, atmet den Geist der Nürnberger Rassengesetze.5 Der Oberste Gerichtshof begründet schließlich 1988 die Nichtzulassung der Kach-Partei zu den Wahlen damit, ihr Programm und ihr gewalttätiges Verhalten fielen unter das Antirassismusgesetz von 1986.
Rabbi Kahane läßt sich von seinen Aktivitäten dadurch nicht abbringen. Er gründet das Sicherheitskomitee für die Straßen im Westjordanland, um die palästinensische Bevölkerung zu provozieren, und proklamiert den „Staat Judäa“.6 Schließlich wird Kahane im November 1990 in New York erschossen. Viele politische Beobachter in Israel bezeichnen ihn nicht nur als faschistisch, sondern als nazistisch, und folgen dabei dem Jounalisten Jair Kotler, der ein Kapitel seines Buches über Kahane7 betitelt hatte: „Meir Kahane in Hitlers Fußstapfen“.
Im Parlament sind zu jener Zeit drei weitere Gruppierungen der extremen Rechten vertreten: Die eine ist Tehija (Wiederauferstehung), geleitet von Professor Juval Néeman und Geulah Cohen, zwei Überläufern aus dem Likud; sie tritt ein für eine Annektierung der besetzten Gebiete, wo sie häufig Gewaltakte verübt. Die zweite ist die aus einer Abspaltung der Tehija hervorgegangene Gruppe Tsomet (Wegkreuzung), angeführt von dem ehemaligen Generalstabschef Raphael Ejtan; dieser gibt zwar vor, die Legalität zu wahren, doch er spart nicht mit rassistischen Äußerungen – so bezeichnet er einmal die Palästinenser als „besoffene Kakerlaken in einer Flasche“. Auch der Gründer der dritten rechtsextremen Gruppierung, der Partei Moledet, ist ein General: Rechawan Seewi (genannt Gandhi). Moledet führt in der Knesset rassistische Tiraden und Angriffe auf arabische Abgeordnete, um sein Programm der „Umsiedlung“ der Bevölkerung des Westjordanlandes und des Gazastreifens zu untermauern.
Die Erben von Rabbiner Kahane sind in zwei Gruppen gespalten: Kahane Chai (Kahane lebt!), die Bewegung seines Sohnes Benjamin Kahane, sowie Kach. Beide rufen zu unzähligen Demonstrationen gegen die Friedensverhandlungen auf und potenzieren die Gewalttätigkeiten, indem sie tödliche Attentate auf Palästinenser organisieren. Nach dem von Baruch Goldstein im Februar 1994 in Hebron verübten Massaker werden Kahane Chai und Kach von den Behörden verboten. Trotzdem können sie ihre umstürzlerischen Aktivitäten fortsetzen und weitere Untergrundorganisationen gründen, ohne von den Behörden behelligt zu werden. Eine dieser Organisationen ist die Gruppe Ejal, von der mehrere Mitglieder in den Mord an Jitzhak Rabin verwickelt zu sein scheinen. Sie plante desweiteren einen Mordanschlag auf Schimon Peres und antiarabische Attentate mit Autobomben.
All diese terroristischen Elemente verschanzen sich seit langem hinter den Deklarationen von Politikern rechter und rechtsextremer Parteien, allen voran des Likud sowie der in der Knesset vertretenen Nationalreligiösen Partei. Auch werden sie von außerparlamentarischen Bewegungen gedeckt: früher war es Gusch Emunim, heute ist es der harte Kern der Siedler, vor allem Zu Arzenu (Das ist unser Land), deren Aufruf zum zivilen Widerstand an offene Rebellion grenzt. An diesen aufrührerischen Unternehmungen haben auch Rabbiner aktiv teilgenommen. Mit ihren Reden und halachischen (religionsgesetzlichen) Entscheidungen haben sie dazu beigetragen, der Regierung die Legitimität abzusprechen; diese repräsentiere nicht die jüdische Mehrheit in der Bevölkerung und, schlimmer noch, sie stütze sich in der Knesset auf die Stimmen der arabischen Abgeordneten.
„Rabin – Verräter“, „Rabin – Mörder“, „Rabin – Judenrat“8, so lauteten die häufigsten Parolen bei Demonstrationen; und auf den Plakaten sah man den Regierungschef mit einer palästinensischen Keffieh, in SS-Uniform und mit Hakenkreuzarmbinde – oder gar am Galgen baumelnd. Noch kurz vor seinem Tod hatte Rabin die Heuchelei der Likudführer attackiert, die sich zwar den Gruppierungen der extremen Rechten gegenüber kritisch geben, auf Parteiversammlungen jedoch rechtsextreme Haßtiraden dulden. Was noch schwerer wiegt: Nach dem Mord an Rabin erweist sich einmal mehr, mit welcher Nachlässigkeit die Sicherheitsdienste von Polizei und Justiz gegenüber diesen Gruppierungen gehandelt haben.
Der ehemalige General Ori Or, Präsident der Verteidigungs- und der außenpolitischen Kommission, schließt daraus: Die Sicherheitsdienste haben den von jüdischer Seite ausgehenden Attentatsdrohungen gegen Rabin keine Bedeutung beigemessen.9 Sie waren vielmehr überzeugt, daß eine solche Bedrohung nur von arabischen Terroristen ausgehen könne. Noch immer interessiert sich Shin Bet mehr für die Linke als für die Rechte ...
dt. Ursula Beitz
1 Siehe Marius Schattner, Histoire de la droite israélienne. De Jabotinski à Shamir“, erschienen in der Reihe „Questions au XXe siècle“, Brüssel 1991; und Ehud Sprinzak, „Beyn Mehaa Chuts-Parlamentarit leterror; alimut politit be Israel“ (Verbindungen zwischen außerparlamentarischem Protest und Terrorismus; politische Gewalt in Israel), Jerusalem (The Jerusalem Institute for Israel Studies), 1995.
2 Lesenswert ist Amnon Kapeliouk, „Sentinelles de la foi, fer de lance de l'occupation“ und „Discours racistes“, Le Monde diplomatique, April 1994.
3 Siehe Haggai Segal, „Achim Jekarim, Korot Hamachteret Hajehudit“ (Liebe Brüder, Geschichte des jüdischen Untergrunds), Jerusalem (Keter), 1987.
4 Siehe Danny Rubinstein, „Mi Leadonai Elai, Gusch Emunim“ (Wer mit Gott ist, folge mir, Gusch Emunim), Tel Aviv (Hakibbuz Hameuchad), 1982.
5 Im Hinblick auf die Vertreibung aller Araber aus Groß-Israel hatte Rabbi Kahane namentlich vorgeschlagen: Zwangsdeportation aller Nichtjuden, die sich weigerten, den (zweitklassigen) Status eines „ausländischen Bewohners“ anzunehmen; Verbot für alle Nichtjuden, in der Region von Jerusalem zu wohnen; Verurteilung zu fünfzig Jahren Gefängnis für jeden Nichtjuden, der sexuelle Beziehungen zu einer Jüdin hatte; die Einrichtung von „getrennten Stränden“ für Juden und Nichtjuden ...
6 Siehe Simon Epstein, „Les Chemises jaunes“, Paris (Calmann-Lévi), 1990.
7 Siehe Jair Kotler, „Heil Kahana“, Tel Aviv (Modan), 1985.
8 Diesen jüdischen Vertretungsorganen, die von den Nazis als Instrument der Erfassung in den besetzen Teilen Europas gegründet wurden, wird vielfach vorgeworfen, ihre von den Nazis bestimmte Vertretungsarbeit habe der Endlösung zugearbeitet.
9 Haaretz, 17. November 1995.
* Journalist bei der Tageszeitung Haaretz (Tel Aviv), Autor des Buches „La Mauvaise Conscience d'Israel“, Gespräch mit Jeshajahu Leibowitz, Paris (Le Monde Éditions), 1994.