15.12.1995

Ohne Führer kein Erfolg?

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Ohne Führer kein Erfolg?

RECHTSEXTREME Parteien, die auf legalem Weg die Macht erobern wollen, haben in Frankreich, Italien, Österreich oder auch in Belgien so bedeutende Wahlerfolge erzielt, daß sie schon heute öffentliche Ämter erlangen und so die Politik auf lokaler, regionaler oder sogar nationaler Ebene unmittelbar mitbestimmen können. Neuartig und beunruhigend ist hierbei der Umstand, daß diese Parteien sich (gerade in Frankreich) zunehmend in den unteren Bevölkerungsschichten verankern und daß in diesen durch den Sozialabbau verunsicherten Schichten die extremistische Demagogie besonders verfängt. Gleichzeitig aber verstärkt sich nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt ein Netzwerk rechtsextremer Gruppierungen (siehe auch den Artikel über die extreme Rechte in Israel, S. 11). Es handelt sich um Gruppen, die systematisch auf Gewalt und Terror zurückgreifen – von Skinheads bis zu Neonazis, inklusive der militanten Kommandos der „Lebensschützer“.

Von RINKE VAN DEN BRINK *

Vor dem Hintergrund der fortschreitenden sozialen und politischen Krise hat sich in Westeuropa eine offen fremdenfeindliche und rassistische Ideologie herausgebildet: Schuld an der Arbeitslosigkeit, der sozialen Unsicherheit, den mit der europäischen Einigung verbundenen Unwägbarkeiten, der Verunsicherung durch die EU-Politik, an der Staatsverschuldung wie an den fehlenden Geldern und Ressourcen – schuld an all diesen Entwicklungen sind, gemäß dieser rechten Ideologie, einzig und allein die Ausländer. Ob die französische Front National (FN) oder der Vlaams Blok, ob die Nationalliberalen aus Österreich (die FPÖ), die deutschen Republikaner oder die Gruppierungen, die aus der niederländischen Centrum Partij (CP) hervorgegangen sind – die Centrum Demokraten (CD) und die Centrum Partij 86 (CP 86) –, sie alle setzen auf die ewig gleiche Litanei: ohne Ausländer keine Probleme.

Doch die Fremdenfeindlichkeit reicht als Begründung für den wahlpolitischen Durchbruch der rechtsextremen Parteien nicht aus. Wie ließe sich sonst erklären, warum sich manche von ihnen dauerhaft etabliert haben (etwa in Frankreich, Italien, Österreich oder im belgischen Flandern), während andere just dies nicht schaffen – was zum Beispiel für Deutschland, die Niederlande und Großbritannien gilt, oder erst recht für Spanien, Portugal und Griechenland, wo solche Parteien kaum existieren? Bis auf wenige Nuancen entspricht der immigrantenfeindliche Diskurs der erfolgreichen Parteien wie Front National oder Vlaams Blok inhaltlich exakt dem der Gruppierungen, die seit Jahren auf der Stelle treten, wie etwa die verschiedenen deutschen oder niederländischen rechtsextremen Parteien.

Auch die unterschiedlichen Wahlsysteme in den einzelnen Ländern spielen offenbar keine entscheidende Rolle. Das Mehrheitswahlrecht, das in Frankreich und Großbritannien durchaus vergleichbar ist, führt in beiden Ländern zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. In Frankreich wächst der Stimmenanteil der Front National seit zwölf Jahren unaufhörlich, und die Partei verfügt mittlerweile über mehr als dreizehnhundert Mandatsträger auf kommunaler, kantonaler, regionaler und europäischer Ebene (siehe hierzu auch den Artikel von Alain Bihr, S. 9). In Großbritannien hingegen lassen sich die Wahlmandate der Rechtsextremen an einer Hand abzählen: Im Mai 1976 hatte die National Party, eine Abspaltung der National Front, zwei Gemeinderatssitze in Blackburn erobert. Seitdem hat die British National Party im September 1993 nur noch einen weiteren Gemeinderatssitz bei einer Nachwahl in Tower Hamlets im Londoner East End errungen, den sie aber bereits im Mai 1994 wieder verlor.

Das Mehrheitswahlrecht, das bekanntlich kleine und neu etablierte Parteien benachteiligt, erschwert sicherlich einen Durchbruch der Rechtsextremen an den Urnen. Doch verhindern kann es ihn nicht, wie das Beispiel der französischen Kommunalwahlen vom Juni 1995 zeigt. Umgekehrt vergrößert das reine Verhältniswahlrecht, wie es in Österreich, in den Niederlanden oder in Belgien praktiziert wird, ganz offensichtlich für die rechtsextremen wie für alle anderen Parteien die Chancen, in die Parlamente zu gelangen. Doch es stellt auch in diesem Falle keine Erfolgsgarantie dar.

In Österreich hat die FPÖ ihren Stimmenanteil in zwölf Jahren von 4,9 Prozent bei den Parlamentswahlen vom April 1983 – den letzten, bevor Jörg Haider an die Spitze der Partei gelangte1 – auf 22,6 Prozent gesteigert, die sie am 9. Oktober 1994 erzielte.

In den Niederlanden ist die Situation völlig anders: Während die Centrum Partij bei den Wahlen vom September 1982 0,8 Prozent der Stimmen und damit einen Sitz im Parlament erlangte, konnte die eine der beiden Nachfolgeparteien, die Centrum Demokraten (CD), zwölf Jahre später bei den Parlamentswahlen vom 3. Mai 1994 diesen Stimmenanteil zwar auf 2,5 Prozent verdreifachen, doch einen wirklichen Durchbruch schaffte sie nicht. Hinzu kommt, daß nur 41 der am 2. März 1994 gewählten 77 kommunalen Mandatsträger heute noch dieser Partei angehören. Die übrigen 36 haben die Centrum Demokraten entweder verlassen oder wurden ausgeschlossen.

In Belgien dagegen kam das Verhältniswahlrecht dem Vlaams Blok voll und ganz zugute: Von 1,8 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen vom 17. Dezember 1978 (ein Abgeordneter) schafften die flämischen Extremisten am 24. November 1991 den Sprung auf 10,4 Prozent (zwölf Abgeordnete im Parlament und sechs Senatoren) und verbesserten sich am 21. Mai 1995 noch einmal auf 12,3 Prozent. Heute verfügen sie über elf Sitze im Bundesparlament, fünfzehn im flämischen Parlament, fünf Sitze im Senat und zwei im Parlament der Region Brüssel.2

Wenn Ausländerfeindlichkeit und Wahlsysteme demnach keine ausreichende Begründung für die Erfolge der rechtsextremen Parteien liefern, müssen noch andere Faktoren im Spiel sein. Alle erfolgreichen rechtsextremen Bewegungen sind Führerparteien [dt. im Original] – mit eiserner Hand geführt von Männern, die über ein starkes Charisma verfügen. Dies gilt sowohl für Jean-Marie Le Pen in Frankreich als auch für Jörg Haider in Österreich, Gianfranco Fini in Italien und, wenn auch in geringerem Maße, für Karel Dillen, der auf Lebenszeit zum Führer des Vlaams Blok bestimmt wurde. Dasselbe gilt für Filip Dewinter, das eigentliche Oberhaupt dieser Partei. Franz Schönhuber, der ehemalige Chef der deutschen Republikaner, schien zwar ebenfalls Charisma zu besitzen, doch im Unterschied zu Le Pen, Haider, Fini und Dillen ist es ihm nicht gelungen, die rechtsextremen Reihen hinter sich zu schließen.

Denn die Front National, der Vlaams Blok oder der Movimento Sociale Italiano (MSI), der sich neuerdings Alleanza Nazionale nennt, sind in erster Linie Ansammlungen verschiedener rechtsextremer Fraktionen, die sich um ihren „Führer“ zusammengeschlossen haben. Auch die FPÖ war ursprünglich, wenngleich weniger ausgeprägt, ein Zusammenschluß stark verschiedener politischer Strömungen, die ein breites Spektrum von NS- Sympathisanten bis zu Liberalen wie Heide Schmidt abdeckten.3

In Deutschland, den Niederlanden und Wallonien sieht die Lage anders aus. Die Republikaner waren schon seit ihrer Gründung einer harten Konkurrenz der Deutschen Volksunion (DVU) und der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) ausgesetzt, zu denen 1991 noch die Deutsche Liga (DL) und 1994 der Bund freier Bürger (BfB) hinzukamen. In den Niederlanden stolperte die extreme Rechte mangels einer unumstrittenen Führerfigur von einer Spaltung in die nächste. Auch in Wallonien brachten die wallonische Front National und die Gruppe Agir mit ihren Wahlstreitigkeiten mehrere miteinander konkurrierende Grüppchen hervor. Im Innern der FN kam es sogar zum offenen Kampf: Dr. Daniel Féret, Parteivorsitzender auf Lebenszeit, schloß eine der beiden Parlamentsabgeordneten, die ehemalige Richterin und Exliberale Marguerite Bastien, aus der Partei aus, die freilich von Dutzenden kommunaler Mandatsträger der Partei unterstützt wurde.

Zwar müssen sich die rechtsextremen Gruppierungen, wenn sie Boden gewinnen wollen, um eine Führerfigur scharen, doch sie sind zugleich darauf angewiesen, ein demokratisches Erscheinungsbild zu zeigen, das der freiheitlichen Tradition der meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union entspricht. Denn von einem bestimmten Entwicklungsstadium an wirkt das Etikett einer faschistischen Herkunft als ein kaum überwindbares Hindernis. Deshalb haben mehrere rechtsextreme Organisationen eine Kursänderung eingeleitet, die darauf abzielt, sich als Kraft der radikalen Rechten darzustellen, die gleichwohl auf der Grundlage der Verfassung steht; kurz gesagt, als regierungsfähige Partei.

Ein gutes Beispiel ist die Umwandlung des Movimento Sociale Italiano in die Alleanza Nazionale, die einen Chef vorweisen kann, der nicht nur für das höchste Amt im Staate kandidiert hat, sondern auch wirkliche Popularität genießt. Dasselbe Phänomen ist auch in Frankreich zu beobachten, wo Le Pen sein altes Image abzulegen versucht, indem er die Rücknahme der „Diffamierung“ von Carpentras fordert4 und von den Medien verlangt, seine Partei nicht mehr als rechtsextrem einzustufen. Im Gegensatz zu diesen Bemühungen halten sie jedoch an ihrer traditionellen Denk- und Redeweise fest, um den harten Kern ihrer Wähler (und ihren Kampfgeist) nicht zu verlieren: Der Geist, den man zur Vordertür hinausjagt, kommt durch die Hintertür wieder herein ...

Ein weiterer Schlüsselfaktor für den Zuwachs der Rechtsextremen ist offensichtlich die soziale Lage. In allen Ländern, in denen die Rechten sich durchgesetzt haben, sind Probleme wie die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot und die Krise des Sozialversicherungssystems immer weniger zu beherrschen. Doch auch hier ist Vorsicht angebracht: In Österreich, wo Jörg Haider seinen Aufstieg ungebrochen fortsetzt, ist die Arbeitslosenquote nach wie vor niedrig, und das soziale Netz ist stabil geblieben. Umgekehrt hat die extreme Rechte in Portugal, Spanien oder Griechenland keine durchschlagenden Erfolge erzielt, obwohl in diesen Ländern die soziale Lage sehr schwierig ist – auch wenn sie sich seit dem Beitritt zur Europäischen Union verbessert hat. In diesen Ländern sind die Menschen wohl gerade aufgrund ihrer Erfahrungen unter jahrelangen Diktaturen gegen neue totalitäre Experimente zu einem guten Teil immunisiert.

Auch die Schwäche der bürgerlichen Rechten, die sich nicht unbedingt immer in Wahlergebnissen niederschlägt, spielt für die rechtsextremen Erfolge eine Rolle. Nehmen wir das Beispiel Frankreich: Zwar beherrscht hier die Rechte ausnahmslos alle Bereiche der politischen Macht, doch die internen Zwistigkeiten, die Konkurrenz mehrerer Kandidaten um das Präsidentenamt, die diversen Affären, in die nacheinander die verschiedenen Regierungen verwickelt waren, präsentieren nicht gerade das Bild einer starken und gefestigten Rechten. Die Front National weiß das zu nutzen. Dasselbe gilt für Italien, wo die Alleanza Nazionale vom Zusammenbruch der Christdemokraten profitiert hat und diese sogar teilweise beerben konnte.

Während es auf der italienischen Halbinsel auch noch eine linke Perspektive gibt, ist das in Österreich nicht mehr der Fall. Hier geht der atemberaubende Aufstieg der Haider-Partei mit dem Popularitätsverlust der Sozialisten wie der Konservativen einher. Auch in Belgien wurde das Ansehen der Sozialisten und Christdemokraten durch Machtmißbrauch und Skandale strapaziert, und zwar im wallonischen wie im flämischen Teil des Landes. Der liberalen Rechten ist es im Unterschied zur extremen Rechten nicht gelungen, diese Situation zu nutzen. Und die Versuche einiger flämischer und Brüsseler Liberalen, den Rechtsextremen durch Parolen nach dem Vorbild des Vlaams Blok oder der FN Stimmen abzujagen, haben nur dazu geführt, die Fremdenfeindlichkeit noch gesellschaftsfähiger zu machen.

Das Gegenbeispiel bieten die Niederlande: Dort ist Frits Bolkestein, der Vorsitzende der an der Regierungskoalition beteiligten konservativen Liberalen5, mit der Übernahme rechtsextremer Inhalte als Sieger aus den Provinzwahlen vom 8. März 1995 hervorgegangen, während die extreme Rechte selbst eine herbe Niederlage hinnehmen mußte ...

Schließlich wird die Entwicklung der fremdenfeindlichen Parteien auch durch die Art und Weise der staatlichen Reaktion beeinflußt. Eine vergleichende Studie über Frankreich, Belgien, Deutschland, Großbritannien und die Niederlande hat ergeben, daß „unter den fünf untersuchten die belgische Demokratie am stärksten gefährdet ist“, während „die deutsche Demokratie am besten gegen die Bedrohung des Rechtsextremismus gefeit ist“; Frankreich verfüge über „beachtliche strafrechtliche Sanktionsinstrumente, die jedoch nur relativ selten zur Anwendung kommen“.6

In den Niederlanden geht ein sehr offenes politisches System mit weitreichenden Möglichkeiten der Strafverfolgung einher. Deshalb gelingt es der extremen Rechten nur selten, Demonstrationen oder öffentliche Versammlungen durchzuführen: Die Bürgermeister verbieten sie mit dem Hinweis auf angedrohte Gegenkundgebungen, wobei sie sich auf den Schutz der öffentlichen Ordnung berufen. Darüber hinaus stehen die Rechten permanent im Visier der Justiz. So hat 1986 eine lange Reihe von Gerichtsverfahren zum Konkurs der ehemaligen Centrum Partij geführt. Und im Mai 1995 wurden fünf Leitungsmitglieder der CP 86 wegen „Aufhetzung zum Rassenhaß“ und „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ verurteilt. Sollte dieses Urteil in den weiteren Instanzen standhalten, würde dies letzten Endes das Verbot der Partei bedeuten.

Hüten wir uns also vor Vereinfachungen. Das Schicksal der extremen Rechten, ihre Erfolge und Mißerfolge, werden von einem komplizierten Zusammenspiel verschiedenster Faktoren bestimmt. Die Antwort auf die Bedrohung, die diese Parteien für die Demokratie darstellen, muß diesen differenzierten Befund in Rechnung stellen.

dt. Sophie Mondésir

1 Jörg Haider wurde auf dem Parteitag vom September 1986 in Innsbruck zum Vorsitzenden der FPÖ gewählt.

2 Die beiden Vlaams-Blok-Abgeordneten im Parlament der Region Brüssel haben von Amts wegen auch einen Sitz im flämischen Parlament, so daß der VB dort faktisch über insgesamt 17 Abgeordnete verfügt.

3 Heide Schmidt, ehemalige Präsidentschaftskandidatin der FPÖ, sowie vier weitere Parlamentsabgeordnete der FPÖ haben die Partei Anfang Februar 1993 verlassen und das Liberale Forum gegründet, das bei den Wahlen vom 9. Oktober 1994 5,74 Prozent der Stimmen und zehn Parlamentssitze erhielt.

4 Am 11. November 1995 demonstrierte die Front National im südfranzösischen Carpentras, wo 1990 zur Empörung der gesamten französischen Öffentlichkeit ein jüdischer Friedhof geschändet wurde. Jean- Marie Le Pen war von mehreren Seiten die politische Verantwortung für die Tat zugeschrieben worden. Mit der Demonstration wollte die FN fünf Jahre danach ihre „Unschuld“ an der Friedhofsschändung beteuern und erreichen, daß sie in Zukunft nicht mehr mit der Tat in Verbindung gebracht würde.

5 Die Regierungskoalition setzt sich aus konservativen Liberalen, Sozialdemokraten und Linksliberalen zusammen.

6 Jaap Van Donselear, „De staat paraat?“, Amsterdam (Babylon/De Geus), 1995.

* Rinke van den Brink arbeitet als Journalist bei der niederländischen Wochenzeitung Vrij Nederland. Er ist Autor von „De Internationale van de Haat. Extreem-rechts in West-Europa“, Amsterdam (Verlag SUA), 1994.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Rinke van den Brink