Auf den Spuren der Erinnerung
IN den Jahren nach der „Nelkenrevolution“ galt die Suche nach einer portugiesischen Identität bei all denen als reaktionär, die Schluß machen wollten mit der Splendid isolation, die dem Land von Diktator Salazar aufgezwungen worden war. Wenige haben wie der Schriftsteller Miguel Torga schon früh erkannt, wie sehr sich in Zukunft die Gemüter erhitzen würden bei allem, was den Kern des nationalen Selbstverständnisses berührt: „Es darf nicht länger unser Ziel sein, nach fernen Welten zu suchen oder uns dessen zu vergewissern, was uns von der Wiege an vorenthalten wurde, sondern wir müssen endlich auf innere Entdeckungsfahrt gehen. Darum haben wir uns jahrhundertelang gedrückt.“1
Diese Rückbesinnung auf die Ursprünge hat in der Musikszene begonnen. Als Pedro Ayres de Magalhaes in den achtziger Jahren mit einer Handvoll „junger Portugiesen, die gern über Portugal sprachen“, die Gruppe Herois do Mar („Helden des Meeres“) gründete, löste er heftige Kontroversen aus. In einer Zeit, da die revolutionäre Stimmung im Lande noch lebendig war, wurden die Herois do Mar geradezu als Faschisten verschrieen. Andere sprachen allerdings schon damals von der Suche nach einer neuen Form des „portugiesischen Gesangs, der unmittelbar in einer geschichtlichen Vergangenheit verwurzelt ist, die man nicht verleugnen kann.“2
Ende der achtziger Jahre verstummten die Anfeindungen angesichts des beeindruckenden Auftretens der Gruppe „Madredeus“ (benannt nach einem Lissabonner Stadtviertel). Fünf schwarz gekleidete Männer und die wunderschöne Stimme von Teresa Salgueiro lassen eine alterslose Musik wiederaufleben, die ihre Inspiration direkt aus den volkstümlichen Traditionen des Landes schöpft. Ein Lied wie „O Pastor“, das im Sommer 1992 auch bei uns einen beachtlichen Erfolg hatte, bringt diese besondere portugiesische Melancholie in ihrer ganzen Sinnlichkeit und all ihren Nuancen zum Ausdruck. Auch die Gruppe GNR greift unterschiedliche musikalische Traditionen auf, die bis in die keltisch-iberischen Ursprünge Lusitaniens zurückreichen. Das Album „Rock in Rio Douro“, das diese nahezu vergessenen Traditionen und Lieder vorstellt, brachte der Gruppe 1992 in Portugal zwei goldene Schallplatten ein.
In den Großstädten haben die Jugendlichen ihre Leidenschaft für ein uraltes Volksspiel, das ziemlich martialische jogo do pãu (Knüppelspiel), wiederentdeckt. Überall schießen Kunstgewerbemärkte aus dem Boden, die dem Geschmack der heutigen Zeit traditionelle Kunsterzeugnisse wie Keramiken, Mosaiken und Webteppiche nahebringen.
DIE erste Generation von Modeschöpfern tritt in Portugal erst nach der Ära Salazar auf den Plan. Volkstümliche Elemente werden schon bald als Inspirationsquelle entdeckt, etwa von Anabela Baldaque. Ähnliches gilt für die Kollektion von Modabarr, in der sich Einflüsse aus Tras-os-Montes zeigen (vgl. hierzu nebenstehenden Kasten). Nuno Gama, der „Portugiesischste“ seiner Branche, hat sich mit Kreationen einen Namen gemacht, die den mit barocken Stickereien besetzten Brautschal der nördlichen Landbevölkerung zitieren. In letzter Zeit interessiert er sich auch für die Motive der empredados, jener Muster aus schwarzem Granit, die die weißen Bürgersteige seines Landes zieren. Doch die Weltoffenheit der portugiesischen Kultur – zu deren Vorreitern der Dichter Fernando Pessoa zählt – gerät darüber keineswegs in Vergessenheit. Lissabon, Kulturhauptstadt Europas 1994, sieht der Weltausstellung von 1998 erwartungsvoll entgegen.
A. N. P.
1 Miguel Torga, „En franchise intérieure“, Tagebuchseiten (1933-1977), zitiert von Yves Léonard „Les Pays d'Europe occidentales (1994)“, Paris (La Documentation française), 1995, S. 212.
2 A Capital, 26. November 1981.