15.12.1995

Von der Bürde der autoritären Strukturen

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Von der Bürde der autoritären Strukturen

Von

ANA

NAVARRO PEDRO *

ZUM krönenden Abschluß einer mit dem Versprechen eines „behutsamen Wechsels“ geführten Kampagne hat die Sozialistische Partei Portugals (PS) unter António Gutérres die Parlamentswahlen vom vergangenen 1. Oktober mit 43,8 Prozent der Stimmen gewonnen. Sie verfügt damit über eine komfortable relative Mehrheit von 112 der 230 Sitze im Abgeordnetenhaus. Dieses Ergebnis bedeutet das Ende der zehnjährigen sozialdemokratischen Hegemonie unter der Führung Anibal Cavaco Silvas, der im übrigen darauf verzichtet hatte, erneut als Spitzenkandidat für die Sozialdemokraten (PSD) in den Wahlkampf zu gehen. Fraglich ist noch, ob man die Wahl als Niederlage des „Cavaquismo“ interpretieren muß oder als Neubesinnung einer jungen Demokratie, die schon im Begriff gewesen war, einen hemmungslosen Ausverkauf der Errungenschaften der „Nelkenrevolution“ von 1974 zu betreiben.

Die Präsidentschaftswahl am 14. Januar 1996 wird darauf vielleicht eine erste Antwort geben. Da die Verfassung eine dritte Amtszeit verbietet, wird Mário Soares nicht wieder kandidieren können und sich wohl aus dem politischen Leben zurückziehen. Als Indiz für den Willen der portugiesischen Wähler könnte die Entscheidung zwischen dem Kandidaten der Sozialisten und gegenwärtigen Bürgermeister von Lissabon, Jorge Sampaio, und Expremier Anibal Cavaco Silva gelten. Das Ergebnis wird Auskunft darüber geben, ob der Umschlag des Stimmungsbarometers im Oktober einen tiefgreifenden politischen Wandel anzeigt oder nur das bekannte Ritual des Regierungswechsels in einer Demokratie fortführt.

Der neue Premierminister António Gutérres hat erklärt, er wolle im Umgang mit allen politischen und sozialen Gruppierungen „hinhören, hinhören und nochmals hinhören“1. Eine Haltung, die sich deutlich von der seines Vorgängers abhebt, der für seinen politischen Starrsinn bekannt war. Eine der ersten Entscheidungen der neuen Regierung – die Rettung der in Foz Coa entdeckten Felsmalereien vor den Wassermassen eines Stausees – ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Cavaco Silva hatte sich den Ärger kultureller und wissenschaftlicher Kreise zugezogen, als er zustimmte, dieses nationale Erbe dem Bau eines modernen Wasserkraftwerks zu opfern. Am 7. November ordnete Gutérres einen Baustopp an und setzte dem Streit damit ein vorläufiges Ende: Experten werden nun Gelegenheit haben festzustellen, ob die Malereien tatsächlich aus dem Paläolithikum stammen, was manche bezweifeln. In der gleichen Weise hat der Regierungschef einem Konflikt mit der Studentenschaft um universitäre Rechte die Spitze genommen.

In einem Land, in dem die Toleranz eine lange (mitunter direkt bedrückende) Tradition besitzt, kommt der kürzlich vorgefallene Streit mit einer Verantwortlichen des Weltwährungsfonds (IWF) einer kleinen Revolution gleich und zeugt von einer veränderten Einstellung. Während einer Tagung am 30. Oktober 1995 in Madeira hatte sich eine Portugal-Expertin dieser Organisation die Freiheit genommen, eine strengere Haushaltspolitik anzumahnen. Dabei hatte sie insbesondere das Programm der PS kritisiert, das für ein garantiertes Mindesteinkommen, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und eine verstärkte Dezentralisierung eintritt. „In Portugal geben Portugiesen die Anweisungen, sonst niemand“, antwortete ihr António Gutérres tags darauf.2 Auch in europäischen Angelegenheiten, wo Portugal neun Jahre lang den Musterknaben gespielt hat, ist ein veränderter Ton zu bemerken. In seiner Stellungnahme zu dem letzthin getroffenen Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union und Marokko richtete Außenminister Jaime Gama scharfe Worte an die Adresse der Brüsseler Kommission: „Gegen die Maßlosigkeit und die Arroganz in dieser konzeptlos agierenden Organisation muß entschieden vorgegangen werden.3

Man darf darüber spekulieren, ob dieses entschiedene Auftreten nicht auch den Zweck verfolgt, der von Manuel Monteiro geführten Volkspartei (PP) den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ihre „vaterländischen“ und antieuropäischen Positionen haben dieser Gruppierung 9 Prozent der Stimmen eingebracht. Das macht deutlich, welche Möglichkeiten sich einer offen auftretenden populistischen Rechten bieten könnten, aber bislang spielt die PP unter Monteiro ebenso eine Nebenrolle wie seinerzeit ihre christdemokratische Vorgängerin, die CDS.4 Die kleineren Gruppierungen des linken Spektrums haben sich im Zentrum der Demokratischen Einheit (CDU) zusammengeschlossen, angeführt von der Kommunistischen Partei, die mit 7,2 Prozent (gegenüber 8,8 Prozent bei den Wahlen von 1991) weiter an Boden verloren hat.

Die politische Landschaft polarisiert sich also um die Machtzentren von PS und PSD. Die ideologischen Grenzen zwischen beiden Formationen jedoch verwischen sich zusehends. So ist nicht damit zu rechnen, daß sich die Wirtschaftspolitik von Gutérres von der seines Vorgängers unterscheiden wird, und der Sieg der Sozialisten dürfte sich eher einer Ablehnung des Cavaquismo verdanken. Möglich auch, daß die portugiesischen Wähler ihrem Präsidenten Mário Soares recht geben wollten, der mehrfach die Gefahr einer „Diktatur der Mehrheit“ und die Konzentration der Macht in den Händen eines einzigen Mannes, Cavaco Silva, angeprangert hat. Der Konflikt zwischen diesen mächtigen Persönlichkeiten hat sich im Verlauf der letzten Jahre stark zugespitzt; gleichwohl verkörpern beide gemeinsam die wirtschaftliche und politische Wende, für die der Beitritt Portugals zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am 1. Januar 1986 den Grundstein gelegt hat.

Der „estado laranja“ – so benannt nach der Parteifarbe der PSD (Orange) – wurde zum Sündenbock aller Mißstände der portugiesischen Gesellschaft gemacht: Anstieg der Arbeitslosigkeit (von 4 auf 7 Prozent in weniger als zwei Jahren), soziale Konflikte, nationale Identitätskrise, die sich seit neuestem auch in offenem Rassismus und Ausschreitungen gewalttätiger Skinheads äußert, schließlich und vor allem: Korruption. Zur Unzufriedenheit beigetragen hat die Rezession von 1993, die dem Land ein um 0,4 Prozent gesunkenes Bruttosozialprodukt beschert hat, nachdem die Wachstumsrate sechs Jahre lang kontinuierlich bei jährlich durchschnittlich 4 Prozent gelegen hatte. Auch nach einem zaghaften Wiederanstieg auf 1 Prozent seit 1994 blieb eine gewisse Unzufriedenheit mit den Resultaten des Cavaquismo insgesamt, dem man immerhin zugestehen muß, daß er die rasche Modernisierung eines Landes bewirkt hat, das 1986 noch auf halbem Wege zwischen einem archaischen Industrie- und Agrarstaat und freier Marktwirtschaft verharrte. Die Zuwendungen seitens der EG – rund 30 Milliarden Mark in neun Jahren – haben dabei mit einem Anteil von 0,5 Prozent am jährlichen Wachstum zweifellos eine bedeutende Rolle gespielt. Im selben Zeitraum ist die Inflation von 22 auf 5 Prozent zurückgegangen, allerdings um den Preis einer gesunkenen Produktion. In Portugal sind daher viele der Meinung: „Die Wirtschaft wächst, aber sie entwickelt sich nicht.“

Die notorische Vetternwirtschaft der PSD hat António Gutérres veranlaßt, sich zum Vorreiter einer Kampagne gegen Protektionismus unter dem Motto „Keine Jobs für die alten Kumpel!“ aufzuschwingen. Aber das wirkliche Problem ist das Fehlen einer demokratischen Kultur in einem Land, auf dem eine jahrhundertealte Erbschaft autoritärer Strukturen lastet. In der jungen Demokratie mangelt es an echten parlamentarischen Auseinandersetzungen, die gesellschaftliche Differenzen und unterschiedliche Interessenlagen widerspiegeln. Noch folgen die Parlamentarier dem Herdentrieb: Meist schließt man sich einfach der Mehrheit an. Die eigentliche Veränderung, die Portugal noch bevorsteht, ist ein grundsätzliches Nachdenken über die Schwächen seiner repräsentativen Demokratie.

dt. Christian Hansen

1 Publico, 16. Oktober 1995.

2 Diário de Noticias, 1. November 1995.

3 Publico, 7. November 1995.

4 Durch Parteitagsbeschluß im Februar 1995 wurde aus der CDS die PP.

* Journalistin bei der Lissaboner Zeitung Publico.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Ana Navarro Pedro