15.12.1995

Auferstehen aus Ruinen

zurück

Auferstehen aus Ruinen

Von IGNACIO RAMONET

MIT dem vorläufigen Frieden in Bosnien durch das Abkommen von Dayton und mit der Niederlage von Lech Walęsa bei den polnischen Präsidentschaftswahlen geht im Osten eine fünfzehnjährige Geschichtsperiode zu Ende.

Die erste Phase dieser Periode, die im August 1980 mit den machtvollen Werftarbeiterstreiks in Danzig begann und sich 1985 mit Gorbatschows Perestroika fortsetzte, mündete im Zusammenbruch aller kommunistischen Regime Europas. Nichts hatte diesen Zusammenbruch aufzuhalten vermocht: nicht die Ausrufung der Militärdiktatur in Polen durch Jaruzelski, nicht die Anwesenheit der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei, nicht die gefürchteten Methoden der Geheimpolizei der DDR, Rumäniens usw. Im Namen der Freiheit verwarfen die Bürger ein System, das ökonomisch am Ende war. 1989 fiel die Mauer, und im Dezember 1991 flog die sowjetische Staatengemeinschaft auseinander. Es schien, als seien die kommunistischen Parteien endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, und an einigen westlichen Universitäten verglich man die kommunistische Lehre gar mit jener des Nationalsozialismus ...

In der zweiten Phase begann äußerlich betrachtet der Aufbau der Demokratie auf den Trümmern der alten Regime, begleitet vom Anwachsen eines äußerst aggressiven Nationalismus auf dem Balkan und im Kaukasus. Begeistert wurden in allen ehemaligen kommunistischen Ländern auf wirtschaftlichem Gebiet die vom IWF und der Weltbank propagierten ultraliberalen Thesen aufgenommen.

Polen erwies sich als Musterschüler. Auf Betreiben des damaligen Wirtschaftsministers unterzog sich das Land einer brutalen „Schocktherapie“, die schließlich in einer gesellschaftlichen Katastrophe mündete. Im Namen einer Austeritätspolitik zog sich der Staat von heute auf morgen aus der öffentlichen Finanzierung des Gesundheitswesens und aller sozialen Einrichtungen zurück, desgleichen aus dem Wohnungsmarkt und aus dem Bildungswesen. Den Illusionen von der Rückkehr zur Demokratie folgte die Ernüchterung der Massenarmut auf dem Fuße. Produktivität, Einkommens- und Konsumniveau sanken bald stärker als in der Krise von 1929 bis 1932, und so verglich Karol Modzelewski, einer der Gründer von Solidarność, den „Sprung in den Markt“ mit einem Kopfsprung in ein Schwimmbecken ohne Wasser.1

Die Gewalt dieses Schocks trieb 15 Prozent der Polen binnen kürzester Zeit in die Arbeitslosigkeit – und 40 Prozent sanken unter die Armutsgrenze ... Eine kleine Minderheit hingegen bereicherte sich in teilweise schwindelerregendem Tempo. Mißgunst, Enttäuschung und Bestürzung breiteten sich aus. Dabei hatte gerade die polnische Bevölkerung so große Hoffnungen in die neue Zeit gesetzt; statt dessen präsentierte ihnen die aus der Solidarność hervorgegangene Regierung eine Politik der „unsichtbaren, lenkenden Hand des Marktes“. Und die katholische Kirche zwang der weitgehend laizistischen Gesellschaft zudem eine Moral auf, die aus einem anderen Zeitalter zu stammen schien; sie führte den Religionsunterricht an den Schulen wieder ein, stellte sich gegen die Abtreibung, verlangte ihre nach dem Krieg konfiszierten Güter zurück und entfaltete ein reges Treiben, dessen die Menschen bald überdrüssig wurden.

EINEN ähnlichen Überdruß lösten allmählich auch die politischen Reden aus, in denen unter Berufung auf die reine Lehre des Neoliberalismus die Periode von 1945 bis 1989 – wenn überhaupt – nur noch negativ besetzt wurde. Natürlich sehnt sich niemand in diesem Land nach der früheren Unfreiheit, nach den Warteschlangen, den leeren Geschäften oder den Lebensmittelmarken zurück, aber die unzähligen Opfer der „Schocktherapie“ wissen gleichwohl, was sie verloren haben: eine Lohngarantie, eine kostenlose Ausbildung und medizinische Grundversorgung, niedrige Mieten, Krippenplätze ... So erscheint ihnen die damalige Tristesse mittlerweile trotz allem attraktiver als die heutige Armut.

Auch wenn die Bürger in ihrer großen Mehrheit die Marktwirtschaft begrüßen, schenken sie der „Auferstehung aus Ruinen“ keinen Glauben und fordern einen begrenzten Staatsinterventionismus, der exzessiven Reichtum wie extreme Armut verhindern und für alle ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gewährleisten soll. Diese Forderungen haben die ehemaligen kommunistischen Führer Polens (das Bündnis der Demokratischen Linken) längst auf ihre Fahnen geschrieben, und so ist es ihnen gelungen, nach vierjähriger gesellschaftlicher Isolation wieder auf der politischen Bühne an Terrain zu gewinnen, bei den Parlamentswahlen im September 1993 zur stärksten Partei aufzurücken und nun mit Aleksander Kwaśniewski sogar den neuen Präsidenten des Landes zu stellen.

Polen ist nicht das einzige Land des Ostens, in dem sich die Bevölkerung von den politischen Kräften der Erneuerung lossagt. Auch in Litauen, Ungarn, der Slowakei und Bulgarien haben die Exkommunisten große Wahlerfolge; allen Umfragen zufolge ist bei den Wahlen in Rußland am 17. Dezember ähnliches zu erwarten ...

Wer diesen Ländern gegen den Widerstand der Bevölkerung eine ultraliberale Politik aufzwingen will, schwächt nicht nur die Demokratie, sondern nährt überdies einen kriegerischen Nationalismus, der sich nicht selten rechtsextrem gebärdet. Karol Modzelewski sieht dies als „eine Reaktion der Verzweiflung (...). Arbeiter, Ingenieure, verarmte und deklassierte Lehrer – sie alle suchen angesichts ihres unverständlichen Unglücks nach einfachen Erklärungen. Und die Schuldigen sind schnell gefunden: die Eliten, die Ausländer, die Leute mit anderer Sprache und anderer Religion ...“

Solange der ultraliberale Schock nicht gedämpft wird, bleibt der Osten eine der unsichersten und gefährlichsten Regionen der Welt, auch wenn es in letzter Zeit auf dem Balkan und im Kaukasus ruhiger zu werden scheint.

1 Karol Modzelewki, „Quelle voie après le communisme?“, La Tour d'Aigues 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.12.1995, von Von IGNACIO RAMONET