12.01.1996

Weder Krieg noch Frieden in Berg-Karabach

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Weder Krieg noch Frieden in Berg-Karabach

DAS Statut von Berg-Karabach, Hauptkonfliktpunkt zwischen Armenien und Aserbaidschan, ist immer noch Gegenstand schwieriger Verhandlungen, in denen Moskau eine bedeutende Rolle spielen möchte. Da es an Vereinbarungen fehlt, drohen die Auseinandersetzungen die von nationalen Feindschaften bereits verwüstete Region erneut in Brand zu stecken – insbesondere in Tschetschenien, wo mehr als ein Jahr nach der Intervention der Truppen der Russischen Föderation die Kämpfe weiter andauern. Auch in Georgien hat Präsident Eduard Schewardnadses Durchgreifen (siehe den Artikel von Jean Radvanyi auf S. 5) die Konflikte mit den Abchasen und den Osseten nicht beenden können.

Von unserem Sonderkorrespondenten JEAN GUEYRAS

Der Waffenstillstand, der im Mai 1994 unter russischem Druck in Berg-Karabach abgeschlossen wurde, hat die Kämpfe zwischen den armenischen und den aserbaidschanischen Truppen praktisch beendet. Auf diplomatischer Ebene ist es den beiden Parteien jedoch trotz zahlreicher russischer und westlicher Vermittlungsversuche nicht gelungen, auch nur den Ansatz einer politischen Lösung für diesen seit sieben Jahren andauernden Konflikt zu finden. So herrscht in der Region eine gefährliche Situation zwischen Krieg und Frieden.

Eine der Ursachen – und nicht die geringste – für diese diplomatische Sackgasse liegt in der Rivalität zwischen den Friedensinitiativen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, seit Dezember 1994 OSZE: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und jenen Rußlands: Der russische Vertreter in der sogenannten Minsker Gruppe1 hat in seiner Rolle als Abgesandter des Präsidenten Boris Jelzin lange Zeit Vermittlungsbemühungen unternommen, die parallel und konkurrierend zu denen der OSZE verliefen.

Im Dezember 1994 wurde schließlich auf der Gipfelkonferenz der OSZE in Budapest beschlossen, Rußland eine Kopräsidentschaft der Minsker Gruppe einzuräumen, um so die beiden Initiativen zu vereinen. Seither dringen die Meinungsverschiedenheiten nicht mehr an die Öffentlichkeit, bestehen jedoch fort, denn Rußland, so ein armenischer Diplomat, „will nach wie vor seine unmittelbaren Nachbarn kontrollieren“.

Solcherart „befriedet“, ist die Minsker Gruppe der OSZE inzwischen häufiger zusammengetreten und hat Pläne erarbeitet, die indes sogleich von der einen oder anderen der verschiedenen Parteien verworfen wurden. Weder Moskau noch die OSZE haben bislang die Wunderlösung gefunden, die nicht nur Aserbaidschan und Armenien zufriedenstellen könnte, sondern auch Berg-Karabach, das sich, was die Sache noch komplizierter macht, zum unabhängigen Staat erklärt hat.

Die von Aserbaidschan geforderte Rückgabe der von Armenien 1992 und 1993 besetzten Gebiete (laut Baku 12000 Quadratkilometer) wird für jeden Entwurf zur Beilegung des Konflikts zum wichtigsten Hindernis. Die Verantwortlichen in Eriwan erklären sich bereit, alle besetzten Gebiete an der Peripherie von Arzach2 zurückzugeben, mit Ausnahme des Korridors von Latschin, der Armenien und die Enklave verbindet – jedoch nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß die internationale Gemeinschaft die Sicherheit der Bewohner Berg-Karabachs zu hundert Prozent garantiert.

Dagegen verlangen – ebenfalls mit dem Argument der Sicherheit – die neuen politischen Führer von Stepanakert, der „Hauptstadt“ Berg-Karabachs, die Kontrolle über einige strategische Punkte an den Rändern der Enklave, unter anderem über Kelbadschar, wodurch ein zweiter Korridor nach Armenien geschaffen würde. Für Baku schließlich ist das einstige Autonome Gebiet Berg-Karabach integraler Bestandteil Aserbaidschans und muß folglich wie alle anderen besetzten Gebiete zurückgegeben werden.

Aserbaidschans Präsident Gejdar Alijew hat sich während eines Kurzbesuchs in Paris im Dezember 1995 hierzu unmißverständlich geäußert: „Die Armenier müssen begreifen, daß wir niemals die Besetzung eines Teils unseres Landes akzeptieren werden. Sie müssen ihre Truppen aus Berg-Karabach und den angrenzenden Gebieten, die sie erobert haben, zurückziehen. Dann wird alles möglich sein. Wir sind bereit, den Armeniern Berg-Karabachs, die Staatsbürger Aserbaidschans sind, eine sehr weitreichende und in ihrer Großzügigkeit vielleicht weltweit einzigartige Autonomie einzuräumen. Wir garantieren ihnen auch eine normale Verbindung zu ihrem Mutterland durch den Korridor von Latschin, der internationalen Friedensstreitkräften unterstellt würde.“

Letztlich propagiert der aserbaidschanische Präsident die Rückkehr zum Status quo ante, nur mit ein paar Sicherheiten mehr. Damit greift er einer Entscheidung der Minsker Konferenz vor, die allein berechtigt ist, sich am Ende der Friedensgespräche, die unter der Schirmherrschaft der OSZE stehen, über die Zukunft von Berg-Karabach zu äußern.

Ein „zweiter Staat“ der Armenier

DIE selbsternannte „Republik“ von Stepanakert ist trotz Bakus Protesten von der Minsker Gruppe neben Aserbaidschan und Armenien als Konfliktpartei anerkannt worden. Im Kleinstaat glaubt man, alles wäre geregelt, wenn Aserbaidschan Berg-Karabach als „zweiten armenischen Staat“ anerkennen würde. Die Aserbaidschaner lehnen das kategorisch ab mit der Begründung, dieses Gebilde widerspreche den internationalen Normen und habe mithin keine rechtmäßige Existenz. Die Machthaber in Eriwan stehen der jungen Republik zwar auf alle erdenkliche Weise zur Seite und haben ihr zu ihren militärischen Erfolgen verholfen. Formell hat Armenien jedoch die Unabhängigkeit Berg-Karabachs nicht anerkannt, um die Beziehungen zu Baku nicht noch mehr zu verschlechtern und dem Ergebnis der Minsker Konferenz nicht vorzugreifen. Armenien schlägt einen Kompromiß vor – eine Art Halbsouveränität, die der Unabhängigkeit nahekäme –, unter der Bedingung, daß die Lösung von der internationalen Gemeinschaft garantiert wird und nicht auf vagen mündlichen Versprechungen beruht.

Der gegenwärtige Status quo scheint Stepanakerts Politikern nicht zu mißfallen, hoffen sie doch, ihre selbsternannte Republik werde mit der Zeit zur unumkehrbaren Tatsache. Der armenische Präsident Lewon Ter-Petrossjan sieht die Sache indes anders. Er ist sich der Bedrohung bewußt, die das Scheitern der Verhandlungen für die Armenier darstellte: Es würde die Aserbaidschaner zwingen, wieder zu den Waffen zu greifen, um die Rückeroberung der verlorenen Gebiete zu versuchen. So bemüht sich Ter-Petrossjan, vertrauensvolle Beziehungen zwischen seinem Land und den Nachbarstaaten zu etablieren, um die Gefahr einer Wiederaufnahme der Kampfhandlungen zu bannen. Er weiß genau, daß die gerade begonnene und noch zaghafte Verbesserung der ökonomischen Lage Armeniens solange prekär bleiben wird, wie der Konflikt um Berg-Karabach – dessenthalben gegen sein Land eine Wirtschaftsblockade verhängt wurde – nicht beigelegt ist.

Momentan umgeht der armenische Staat die Blockade dank der freundschaftlichen Beziehungen, die er, trotz amerikanischer Warnungen, mit dem Iran geknüpft hat. Ein nicht abreißender Strom iranischer Lastwagen rollt Tag und Nacht über die lange, bergige Straße, die die kleine Brücke von Megri an der iranischen Grenze mit Eriwan verbindet; er allein hat Armenien vor Engpässen und Not bewahrt. Von Januar bis Juli 1995 hat der Iran Waren im Wert von 40 Millionen Dollar nach Armenien exportiert (gegenüber 1 Million Dollar im Jahr 1992). Auch auf diplomatischer Ebene herrschen beste Beziehungen, und obwohl Teheran ebenso wie Baku die schiitische Glaubensrichtung vertritt, steht es paradoxerweise im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt eher auf der Seite der Armenier.

Wichtiger ist die Politik der gutnachbarlichen Beziehungen, die der armenische Präsident gegenüber dem türkischen „Erbfeind“ pflegt und die durch die Ereignisse in Berg-Karabach nur zeitweilig gestört wurde. Sie hat dazu beigetragen, daß Ankara rasch sein Engagement in einem Konflikt reduziert hat, der es nur am Rande interessiert. So hat die Türkei im vergangenen April die Blockade gelockert und ihren Luftraum für Flüge nach Armenien wieder freigegeben.

Bezeichnenderweise ist der türkische Vertreter in der Minsker Gruppe allmählich auf Distanz zu Baku gegangen und verfolgt nun selbst nach Ansicht der armenischen Seite eine Neutralitätspolitik gegenüber beiden Staaten. Sogar ein Dialog zwischen Eriwan und Ankara ist inzwischen vorsichtig eingeleitet worden. Gleichwohl ist die Türkei nicht bereit, ihre Landgrenze zu Armenien wieder zu öffnen – was die Blockade beenden würde – und auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen steht so lange außer Frage, wie die armenischen Truppen auf aserbaidschanischem Territorium stehen. Ter- Petrossjan hingegen verzichtet darauf, als Voraussetzung für die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten von der Türkei das Eingeständnis ihrer Verantwortung für den Genozid an den Armeniern zu fordern.

Die Opposition, welche die nationale Frage als stärkstes Geschütz in ihrem Kampf gegen den Präsidenten aufgefahren hat, wirft ihm deshalb vor, die „heilige Sache aller Armenier“ verschleudern zu wollen. Doch der Handlungsspielraum dieser ebenso lauten wie unbedeutenden Opposition wurde im Dezember 1994 durch das Verbot der Daschnak-Partei eingeschränkt, die in der Diaspora für ihre terroristischen Aktionen bekannt ist. Überdies hat die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen im Mai 1995 einen (allzu) strahlenden – von Unregelmäßigkeiten überschatteten – Sieg davongetragen.

Die Machthaber in Eriwan haben nun freiere Hand, um eine ehrbare Kompromißlösung für den Konflikt zu finden. Dennoch unterliegen sie auch weiterhin ein wenig dem Zwang des „Berg-Karabach-Kults“, der sich im Lande selbst ebenso wie in der Diaspora während der sieben Jahre der Auseinandersetzung mit Aserbaidschan entwickelt hat. Um die große Nachsicht zu rechtfertigen, die sie den maximalistischen Forderungen aus Stepanakert gegenüber walten lassen, obgleich diese sie häufig in ihrer Politik der Mäßigung behindern, verweisen sie auf das Fehlen von Druckmitteln gegenüber den Karabachzy. „Letztlich sind sie unsere verwöhnten Kinder“, beteuert man, „die wir nicht bestrafen können.“

Die Machthaber in Stepanakert, denen ihre politischen und militärischen Erfolge zu Kopfe gestiegen sind und die sich der Unterstützung aller Armenier sicher glauben, sind in Wirklichkeit innerlich nicht bereit, die besetzten Gebiete zurückzugeben. Sie mißtrauen jedem, selbst ihren armenischen Beschützern. An den Unterredungen der OSZE nehmen sie nur teil, um Zeit zu gewinnen, damit die „Republik“ Berg-Karabach zu einer unumkehrbaren Tatsache reifen kann.

Auch die Machthaber in Baku haben nur ein begrenztes Interesse an den Verhandlungen der Minsker Gruppe. Sie müssen ihrerseits Zeit gewinnen, um die Fundamente einer Regierung zu festigen, die von unzähligen, mehr oder minder aus dem Ausland ferngesteuerten Umsturzversuchen geschwächt ist, und um überdies die von der Niederlage gedemütigte Armee neu aufzubauen. Im Berg-Karabach-Problem setzen sie eher auf den „freundschaftlichen Druck“, den die USA und Rußland auf Eriwan ausüben könnten.

Die aserbaidschanische Führung zählt dabei vor allem auf die Erdölquellen des Kaspischen Meeres, die in Washington wie in Moskau Gelüste wecken. Nachdem am 20. September 1994 ein westliches Konsortium (bei dem amerikanische Gesellschaften 44 Prozent innehaben) ein Abkommen über die Erdölgewinnung unterzeichnet hat, begannen die Vereinigten Staaten plötzlich Interesse an den Thesen Bakus zu zeigen und erklärten mehrmals feierlich, daß Berg-Karabach zu Aserbaidschan gehöre und Washington sich jeder Verschiebung der aserbaidschanischen Grenzen widersetzen werde.

Diese Auffassung wird von den Russen geteilt, die keine Grenzverschiebungen im Transkaukasus wünschen. Präsident Alijew hat seine Gesprächspartner maliziös wissen lassen, daß die Russen „dies seit einem Jahr genügend unter Beweis gestellt haben, indem sie sich mit Waffengewalt der Unabhängigkeit Tschetscheniens entgegenstellten“. Seit Aserbaidschan im September 1993 der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten beigetreten ist, haben sich die Beziehungen zwischen Moskau und Baku deutlich verbessert. Der einzige ernsthafte Streitpunkt zwischen den beiden Staaten ist die – wie es scheint prinzipielle – Weigerung der Aserbaidschaner, russische Militärstützpunkte auf ihrem Territorium zu akzeptieren. Es gibt jedoch Vermutungen, wonach dieses Problem geregelt werden könnte, wenn Moskau seine vielfältige Hilfe an Armenien einschränken würde.

Da es in den Verhandlungen keinerlei Forschritt gibt, kann der Konflikt um Berg-Karabach nach Auffassung der politisch Verantwortlichen in Eriwan nur unter zwei Bedingungen gelöst werden. Zunächst müßte das versteckte Tauziehen zum Thema Transkaukasus zwischen Rußland und den westlichen Mitgliedern der OSZE ausgesetzt werden. Dann müssen die beiden Parteien sich über ein gemeinsames Konzept einigen, wie der Konflikt beizulegen sei; dies wäre wohl eine Kompromißformel nach bosnischem Vorbild, die sie den Konfliktparteien aufzuzwingen hätten.

Derweil besteht die Gefahr, daß die Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Minsker Gruppe sich endlos in die Länge ziehen und als einziges – wenn auch nicht unwichtiges – Ergebnis die Wiederaufnahme kriegerischer Handlungen verhindern. Doch wie lange noch?

dt. Eveline Passet

1 Die Minsker Gruppe wurde im März 1992 innerhalb der KSZE ins Leben gerufen mit dem Ziel, noch im Sommer desselben Jahres eine internationale Konferenz über Berg-Karabach einzuberufen; neben Armenien und Aserbaidschan gehören ihr neun Länder an: Weißrußland, Deutschland, Frankreich, Italien, Rußland, Schweden, die Tschechische Republik, die Türkei und die Vereinigten Staaten.

2 Der armenische Name von Berg-Karabach.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Jean Gueyras