12.01.1996

Die Politik neu erfinden

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Die Politik neu erfinden

Von

EDGARD

PISANI

ÜBER Generationen hinweg hat man sich in vielen Ländern daran gewöhnt, Staat, Nation, Territorium, Vaterland, Sprache und Kultur als eine feste Einheit zu betrachten.1 Frankreich, das jakobinische Frankreich, ist das Urbild des Nationalstaats, und vielen Forschern und Verfassungstheoretikern fällt es sichtlich schwer, von einem Modell loszukommen, das sich einst durchgesetzt und während Jahrhunderten fortentwickelt hat, das mittlerweile aber fragwürdig geworden ist: einerseits wegen des Anspruchs auf regionale und kulturelle Eigenständigkeit, andererseits wegen der Bildung länderübergreifender Institutionen, denen die Staaten, darunter Frankreich, einen Teil ihrer Hoheitsrechte abtreten.

Überall scheint sich das nationalstaatliche Geflecht heute auf die eine oder andere Weise aufzulösen. Wir neigen dazu, an Begriffen, die sich einmal als brauchbar erwiesen haben, auch dann noch festzuhalten, wenn sie ihre beste Zeit hinter sich haben, anstatt nach neuen zu suchen. Ein Weg, dies zu tun, bestünde vielleicht darin, sich zu fragen, ob man „zusammen sein“ oder etwas „zusammen machen“ möchte.

Betrachtet man sich die Liste der Vereinigungen, die entstehen, läßt sich anhand der Namen zwischen Interessenverbänden und kommunitären Organisationsformen unterscheiden. Die einen wollen etwas zusammen auf die Beine stellen, die anderen suchen nach verbesserten Formen des Zusammenlebens. Das entscheidende Wort ist „zusammen“. Ist es ein Zufall, daß während der jüngsten sozialen Unruhen in Frankreich die Losung aufkam: „Alle zusammen! Ja!“?

Ein zersplittertes Reich

DER Nationalstaat widmete sich in seiner Glanzzeit mit gleicher Leidenschaft dem Sein wie dem Machen, wobei der Staat sowohl das Werkzeug wie der Meister der nationalen Verschmelzung war. Im Bereich der politischen Analyse stellt man daher eine wahre Konfusion zwischen dem Sein und dem Machen fest, ein Durcheinander, in dem nicht mehr unterschieden wird zwischen Staat-Sein, Staat- Machen, Nation-Machen, Nation-Sein, die ja allesamt in denselben institutionellen Strukturen vermischt sind.2 Wir leben mehr und mehr in einem System der globalen Organisation. Sollen wir es ändern? Und wenn ja, wollen wir, daß es am Ende nur die Funktionen des Machens bewahrt? Oder wollen wir in unseren Institutionen auch den Gemeinschaften, den Orten des gemeinsamen Seins Platz einräumen? Kann sich neben der Staatsbürgerschaft (Machen) eine kulturelle Zusammengehörigkeit (Sein) entwickeln? Könnten beide, wenn man nur eine klare Definition und eine akzeptable Spielregel fände, koexistieren?

Stellen wir uns vor, wir befänden uns an Bord eines Wetterbeobachtungsballons über Sizilien. Im Nordosten sehen wir ein Reich, scheinbar so alt wie die Erde, das nach vorübergehenden Zerfallserscheinungen mit Gewalt und großer Energie wieder zusammengeschweißt worden ist. Ein Reich, in dem die Machthaber, welcher Couleur auch immer, versucht haben, nationale Unterschiede einzuebnen. Als dort das Politische – das Zusammen-Machen – seine Macht verloren hatte, erwies sich das Zusammen-Sein als zu schwach, und das Reich zersplitterte in viele getrennte, ja feindliche Gemeinschaften. Wir glauben einer Ballettveranstaltung beizuwohnen, deren abwechselnd friedliche und gewaltsame Pirouetten für uns keine rechte Choreographie ergeben wollen.

Wenden wir den Blick nach Süden, in die arabische Welt. Hier spricht man nahezu dieselbe Sprache, hat dieselbe Religion, und auch die Zivilisation ist im großen und ganzen dieselbe. Man ersehnt sich die Einheit, um im Weltmaßstab eine gewichtige Rolle zu spielen. Und doch konnte sich gegen das tiefverwurzelte Zusammengehörigkeitsgefühl eine nationalstaatliche Ordnung konsolidieren; denn der Wille des Staates deckt sich nicht mit dem des Volkes – jener besitzt eine Form, dieser eine vage Hoffnung.

Blicken wir jetzt nach Nordwesten, nach Europa: fünfzehn Länder, die allesamt Nationalstaaten sind. Sie stellen ihren eigenen Status in Frage und verzichten auf einen Teil ihrer Souveränität, um zusammenzuarbeiten, etwas zusammen zu machen. Würde man den Franzosen sagen, daß der Aufbau Europas zwangsläufig auf das Verschwinden der französischen Nation, des französischen Vaterlands hinausläuft, sie würden es nicht akzeptieren. Nur das Zusammen- Machen, die Attribute des Staats, wollen sie europäischen Instanzen übertragen, denn man arbeitet besser zusammen als allein.

Ist nicht vielleicht ein demokratisch verfaßtes Modell denkbar, in dem sich das Zusammen-Machen und das Zusammen-Sein zu einer differenzierten, widersprüchlichen, ja spannungsgeladenen Einheit ergänzen; wo es für den Konfliktfall institutionelle Entscheidungssysteme gibt, um Krisen zu vermeiden? Ist nicht endlich die Zeit gekommen, unsere gewohnten Organisationsformen aufzugeben? Man sollte sich beispielsweise einmal fragen, ob das Kulturelle nicht eine Kategorie ist, die man vom Politischen loslösen kann und der ein autonomer Ausdruck zusteht. Alles deutet darauf hin, daß es in einigen Jahrzehnten zwei miteinander verzahnte Organisationsweisen geben wird: eine politisch-dezisionistische und eine kulturelle, die sich den Schutz und die Entfaltung der Individuen zur Aufgabe macht, die von wirtschaftlicher Globalisierung und staatlicher Bürokratisierung bedroht sind.

Der Fall Europas ist in dieser Hinsicht exemplarisch. Unter seinen „Vordenkern“ wollen einige, daß es einen Platz unter den Weltmächten einnimmt. Sie träumen nicht von einem europäischen Staat, der dem jakobinischen Frankreich gliche, sondern von einem politischen Gebilde, das währungspolitisch, ökonomisch, militärisch und kulturell imstande ist, in einer ungleichgewichtigen Welt für Ausgleich zu sorgen. Doch gibt es mehr Europäisten als man meint, die von nichts anderem träumen, als mit Hilfe des europäischen Mythos den Nationalstaaten den Garaus zu machen. Aber um sie wodurch zu ersetzen? Durch nichts. Europa wird eine Etappe gewesen sein auf dem Weg zu einer Globalisierung bar jeder regulierenden politischen Macht, die zwischen den Ansprüchen des Markts und denen der Gesellschaft vermitteln könnte. Und wohin führt uns das? In die soziopolitische Gesetzlosigkeit und Unordnung oder zu einer neuen unipolaren internationalen Ordnung. Mit der Gefahr, ein Wiedererwachen der Nationalstaaten zu provozieren.

Europa hat nur eine Zukunft, wenn es sich Kontrollfunktionen sichert und sich der wichtigsten deregulierenden Macht des Planeten entgegenstemmt: den Vereinigten Staaten. Gegenüber Kongreß und Zentralbank, diesem Gespann der Deregulierung, wird nur die effiziente Bündelung politischer, ökonomischer, kultureller und strategischer Machtfaktoren in der Lage sein, ein Versinken ins Chaos der Globalisierung zu verhindern.

Unter amerikanischer Führung und mit der aktiven Beteiligung all derer, die in der Brüsseler Kommission und anderswo unter dem unauffälligen Namen „transatlantische Allianz“ an der Schaffung einer euro-atlantischen Freihandelszone arbeiten, hat sich der Planet mittlerweile einer selbstmörderischen Entropie anheimgeben. Sich gegen diesen Willen zur Hegemonie, zur Vereinheitlichung und zur Nichtbeachtung der Vielfalt zu erheben, heißt vermeiden, daß überall auf der Welt Revolutionen ausbrechen. Denn ohne Regulierung werden die Ungleichheiten noch unerträglicher; ohne gleichwertige Währungen begibt sich die Welt unter die Vormundschaft des Dollar; ohne autonome Verteidigungssysteme erlöscht jede Eigenständigkeit; ohne wirkliche Schiedsgerichte werden die Herrschaftszwänge brutaler.

Wenn Globalisierung das Verschwinden jeder regulierenden Macht bedeutet, haben wir keine andere Wahl, als sie zu bekämpfen: weil wir verschieden sind und es bleiben wollen; weil wir von verschiedenen Orten stammen, mit Mängeln behaftet und mit Vorzügen ausgestattet sind, die wir gewinnbringend einsetzen wollen; weil uns die Vielfalt das Ferment bei der Suche nach jener wahren Einheit zu sein scheint, die ein hohes Ideal ist und alles andere als Gleichförmigkeit.

Die Einheit ist eine Naturgegebenheit. Sie ist zugleich die notwendige Antwort auf exzessive Vielfalt; wir würden sie nicht so sehr herbeisehnen, wenn es nicht potentiell gefährliche und konfliktträchtige Differenzen gäbe. Einheit und Vielfalt sind die Pole eines dialektischen Spiels. Um annehmbar zu sein, muß sich die Globalisierung auf dieses Spiel einlassen, in dem sie durch die Bewahrung der kulturellen Vielfalt, die Beachtung der natürlichen Verschiedenheit ausbalanciert wird.

Nur das Politische fehlt. Vielleicht muß man es neu erfinden.

dt. Andreas Knop

1 Dieser Artikel gibt die Grundgedanken eines Vortrags wieder, der auf dem internationalen Seminar „Mondialisation, interdépendance, souveraineté“ gehalten wurde. Es fand am 27. September 1995 statt und wurde mit Unterstützung der Délégation générale du Québec en France vom Institut d'études européennes de l'université Paris-VII und von Le Monde diplomatique veranstaltet.

2 Sind nicht auch die Demonstrationen, die im Dezember in Frankreich stattfanden, ein Zeichen für die zunehmenden Spannungen zwischen dem Staatsapparat und der Nation als Lebensgemeinschaft?

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Edgard Pisani