12.01.1996

Es bewegt sich doch ...

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Es bewegt sich doch ...

DIE französische Streikbewegung „verkörpert die Hoffnungen aller Völker Europas“: diese Erklärung des Allgemeinen Griechischen Arbeiterverbandes bringt ein auf dem Kontinent weit verbreitetes Gefühl zum Ausdruck.1 Ein Beweis dafür sind die Streiks, die im vergangenen Dezember in Belgien, Luxemburg, Spanien und Italien in den staatlichen Verkehrsbetrieben ausbrachen. Das Ansteigen der Fieberkurve ist nur die Fortsetzung der gewaltigen sozialen Bewegungen, die Europa seit zwei Jahren erschüttern.2 Denn die Tatsache, daß die „goldenen Regeln“ von Maastricht – bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt darf das Haushaltsdefizit 3 Prozent, die Staatsverschuldung 60 Prozent nicht übersteigen – unter Hochdruck verfolgt werden, bedroht in allen Ländern die Kaufkraft, die Arbeitsbedingungen, aber auch die Unternehmen des öffentlichen Dienstes selbst und damit die Arbeitsplätze. Ein Rückblick scheint angebracht.3

DEUTSCHLAND

Östlich des Rheins, sagt man, ist der Streit die Ausnahme und der Kompromiß die Regel. Diese Weisheit hat sich sowohl 1994 wie 1995 bewahrheitet. In der Metallindustrie genügten Warnstreiks, um die Arbeitgeber zu Gehaltserhöhungen (insbesondere im Osten, wo die Löhne 1996 an das Westniveau angeglichen werden sollen) und Arbeitszeitverkürzung (auf 35 Stunden seit vergangenem Oktober) zu bewegen. Wie üblich diente diese Vereinbarung auch anderen Bereichen als Vorgabe. Zu erwähnen sind noch der siebzehnwöchige Streik in der Druckindustrie und die Aktionen der Postangestellten, die, wenn sie auch die Privatisierung des Unternehmens nicht verhindern, so doch zumindest ihre sozialen Vergünstigungen bewahren konnten.

BELGIEN

„Die Pläne der Europäischen Kommission und die gelebte Wirklichkeit der Arbeiter liegen meilenweit auseinander.“4 Der damalige (sozialistische) Minister der staatlichen Unternehmen, Elio di Rupo, hätte schwerlich das Gegenteil behaupten können: am 29. November 1994 legte ein Generalstreik den gesamten öffentlichen Dienst (Transport und Verkehr) lahm, dessen Selbstverwaltung der Privatisierung den Weg bereitet. Die Vielzahl langwährender Konflikte kommt am 13. Dezember 1995 anläßlich eines nationalen Aktionstages erneut zum Ausbruch. 50000 Demonstranten fordern in Brüssel ein „soziales Europa“ anstatt „englischer Verhältnisse“.

DÄNEMARK

Die wenigen Auseinandersetzungen erklären sich aus einer traditionell kompromiß- und konsensorientierten Sozialpolitik, aus der gesetzlichen Friedenspflicht während der Laufzeit von Tarifverträgen und nicht zuletzt aus dem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Einzige Ausnahmen sind die Bewegung der Fahrer im öffentlichen Verkehr im April und der Krankenpfleger im Mai 1995. Der gleiche „soziale Friede“ herrscht auch in Schweden und in Finnland, wo die Gewerkschaften an der Politik der sozialdemokratisch geführten Regierungen beteiligt sind.

SPANIEN

Am Freitag, dem 27. Januar 1994 herrscht Sonntagsstimmung in Madrid, das an diesem Tag Massendemonstrationen und die größte Streikwelle seit 1988 erlebt. Die von Regierungschef Felipe González anstelle des erhofften Sozialpakts durchgesetzte „Reform des Arbeitsmarktes“ ist nach Ansicht der Gewerkschaften „ein beispielloser Angriff“ auf Kaufkraft und soziale Absicherung. Das führt zu einem Wiederaufleben heftiger Arbeitskämpfe mit erbitterten Auseinandersetzungen im Bergbau, der Fischerei, den Werften und bei Iberia – die beiden letzteren dauern an.

GROSSBRITANNIEN

Zehn Jahre nach dem Sieg, den Margaret Thatcher gegen die streikenden Bergarbeiter durchfocht, treibt der Kampf gegen die drohenden Privatisierungen die britischen Arbeitnehmer auf die Straße. Aktionen entwickeln sich insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen, bei der Post und den Banken, im öffentlichen Dienst und Personennahverkehr sowie in den Rundfunk- und Fernsehstationen. Signalwirkung hat der Arbeitskampf der Stellwerker: Nach mehrmonatigem Streik und trotz brutalen Vorgehens seitens der Bahndirektion schlagen sie für sich Arbeitszeitverkürzung und eine Erhöhung der Basislöhne heraus. Während des Aktionstages zur Verteidigung der staatlichen Unternehmen am 21. Oktober 1995 erlebt London die seit Jahren größte Massendemonstration. Die vernichtenden Attacken der Eisernen Lady gegen die Rechte der Gewerkschaften stellen indes ein beträchtliches Hindernis dar.

GRIECHENLAND

Ein vierundzwanzigstündiger Streik gegen die Lohnpolitik der Regierung am 14. Dezember 1994 ist Auslöser für eine wachsende soziale Bewegung vor allem im Verkehrswesen: unter den Seeleuten, Fluglotsen und Eisenbahnern.

IRLAND

In den achtziger Jahren rangierte Irland, was die Zahl seiner sozialen Konflikte anbelangt, noch auf Platz vier in Europa – hinter Griechenland, Spanien und Italien. Inzwischen ist die Anzahl der Streikstunden von 1 Million im Jahr 1980 auf ungefähr 100000 im Jahr 1995 gesunken. Diese Rückkehr zum „sozialen Frieden“ verdankt sich einer Einigung zwischen der Regierung und den Angestellten im öffentlichen Dienst (dem sogenannten Programme for Economic and Social Progress), die ihnen eine jährliche Lohnerhöhung über die Inflationsrate hinaus zusichert. Aber das völlige Fehlen gewerkschaftlicher Rechte in zahlreichen, vor allem US- amerikanischen, Unternehmen ist auch hier eine schwere Belastung.

ITALIEN

Der große Sieger der Parlamentswahlen vom März 1994, Silvio Berlusconi, versucht, sein Land auf den Zug der gemeinsamen Währung zu setzen. Als erste Station soll die Reform des Rentensystems angesteuert werden. Berlusconi hat die Rechnung ohne die Bevölkerung gemacht, deren Mobilisierung im Herbst ihren Höhepunkt erreicht: An zwei Tagen legt ganz Italien die Arbeit nieder und geht auf die Straße (3 Millionen Demonstranten am 14. Oktober, dann 1 Million allein in Rom am 12. November). Der dritte nationale Streiktag findet nicht statt: Bevor der Ministerpräsident am 22. Dezember 1994 sein Amt niederlegt, zieht er seinen Entwurf zurück; sein Nachfolger Lamberto Dini handelt eine abgemilderte Version aus. Die Verteidigung des öffentlichen Dienstes, die unweigerlich mit dem Kampf um den Erhalt von Kaufkraft und Arbeitsplätzen einhergeht, führte sowohl 1994 wie auch 1995 zu zahlreichen Konflikten – bei den Eisenbahnen und bei der Alitalia, im Verkehrswesen allgemein und in der Energieversorgung, bei den Rundfunk- und Fernsehstationen sowie bei Fiat usw.

PORTUGAL

1994, das Jahr des zwanzigsten Jahrestags der „Nelkenrevolution“, beginnt mit einer Woche des gemeinsamen Kampfes für Arbeitsplätze, höhere Löhne, Arbeitszeitverkürzung und die Verteidigung der Arbeiterrechte. Nach einer langen Serie landesweiter Streiks in einzelnen Branchen findet am 17. November ein Aktionstag statt, der alle Berufsgruppen miteinbezieht. 1995 stellt sich das gleiche Bild dar: Der berufsübergreifende Aktionstag vom 16. Februar hat den Arbeitskämpfen neuen Schwung verliehen, sie haben sich im weiteren Verlauf des Jahres im öffentlichen wie im privatwirtschaftlichen Bereich noch ausgeweitet.

Dominique Vidal

1 Vgl. die in L'Humanité Dimanche vom 14. Dezember 1995 veröffentlichten Interviews und Grußbotschaften.

2 Dies belegen die von Eurostat, dem statistischen Amt der EU, veröffentlichten Zahlen.

3 Die Zusammenfassung entstand mit Unterstützung der Dokumentationsabteilungen von Le Monde, CGT und Liaisons sociales.

4 Le Monde vom 30. November 1994.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Dominique Vidal