12.01.1996

Den Traum erfüllen

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Den Traum erfüllen

DER schöne elfjährige Yussuf liebt die schöne Aida. Um die junge „Zigeunerin“ zu erobern, muß er nach Südamerika, um dort mit Hilfe seines Freundes Salah nach den drei in einem Familienerbstück fehlenden Diamanten zu suchen. Doch das junge Paradies der erwachenden Liebe ähnelt hier einer blutigen Hölle.

Denn diese Kinder, deren Handlungen und Träume der palästinensische Filmemacher Michel Khleifi in Szene gesetzt hat, leben im Gazastreifen, inmitten der Intifada. Wie könnte das Märchen angesichts der erdrückenden Realität der Besetzung dem normalen Lauf der filmischen Fiktion folgen? Man sieht schlammige Flüchtlingslager, Wellblechhütten mit Wänden aus Kanistern, überall Stacheldraht; es herrscht Ausgangssperre, Militärfahrzeuge, vollbeladen mit israelischen Soldaten, kämpfen sich durch den Staub, Tränengasgranaten explodieren, es wird scharf geschossen; über allem liegt das ohrenbetäubende Heulen der Flugzeuge der israelischen Armee ...

In Südamerika hofft Yussuf etwas zu finden, womit er Aida für immer an sich binden kann. Sie symbolisiert für ihn auch die Flucht vor dem täglichen Grauen. Da ist zum einen der Vater, der nach langer Haft endlich freigelassen wird, doch an den Folgen von Gefangenschaft und erlittenenen Mißhandlungen zerbricht. Da ist der schwer verletzte Bruder, ein Kämpfer der Intifada, und die kaltblütige Ermordung von jungen Aufständischen durch die berüchtigten israelischen „Spezialeinheiten“, aus nächster Nähe, vor seinen Augen, innerhalb weniger Sekunden. Einer dieser Soldaten, die schneller schießen als denken können, wird auch den kleinen Yussuf grundlos niedermähen – bevor er wiederaufersteht, um seinen Traum zu erfüllen. „Er stirbt und stirbt zugleich nicht“, erläutert Michel Khleifi. „Der Film will diejenigen besingen, die gestorben, und diejenigen, die am Leben sind.“

Der Film „Conte des trois diamants“, der als einziger arabischer Beitrag auf dem diesjährigen Filmfestival in Cannes, im Rahmen der Quinzaine des Réalisateurs, sehr positiv aufgenommen wurde, liefert einen weiteren Baustein zu dem Bild der palästinensischen Gesellschaft, an dem Michel Khleifi mit Talent und Mut seit über fünfzehn Jahren arbeitet – von „La Mémoire fertile“ über „Noces en Galilée“ bis hin zu „Cantique des pierres“.

Der inmitten der Streikbewegung in Paris uraufgeführte Film verdient ein zahlreiches Publikum – wegen der anregenden Verflechtung von orientalischer Vorstellungswelt und annähernd dokumentarischem Bericht: „Das Gedächtnis und das Imaginäre ins reale Leben zu integrieren“, sagt Michel Khleifi, „bedeutet der individuellen Schizophrenie ein Ende zu setzen.“ Wegen seiner zugleich brutalen und schönen Bilder, die ein häufig falsch verstandenes Gaza entdecken lassen. Wegen des unverklärten Gefühls, das die Kinder (Mohammad Nahdal, Hanna Nemeh und Ghassan Abu Libda) in uns erwecken. Und weil seine Bilder schon heute einen Kontrapunkt der Erinnerung an die Barbarei der Besatzungszeit setzen, da sie möglicherweise der Vergangenheit anzugehören beginnt: Selbst vermint ist der Frieden kostbar ...

DOMINIQUE VIDAL

dt. Eva Groepler

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Dominique Vidal