12.01.1996

Die Abkehr vom Engagement

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Die Abkehr vom Engagement

Von

PHILIPPE

VIDELIER *

ENDE der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren überall in Frankreich kleine rote Bücher in Umlauf, in denen die subversiven Gedanken der Zeit Verbreitung fanden. „Zu Recht fordert der Bürger von der Gesellschaft, daß sie seine Lage verbessert“, las man dort etwa. Oder auch: „Dürfen die Gesetze, die doch dem Recht und der Freiheit dienen sollen, uns erniedrigen und unglücklich machen? Der in unserem Innersten verwurzelte Wunsch, glücklich zu sein, erhebt unablässig Einspruch gegen die Unbill und Gewalt, die uns angetan wurde. Warum sollte ich nicht das Recht haben, mich gegen Gesetze zu wehren, die nicht zu leisten imstande sind, was die Gesellschaft von ihnen erwartet?“1

So schrieb Mably in seinem Essay „Über die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers“, der 1868 – im Kleinformat mit rotem Einband – in der Reihe „Die besten Autoren der Antike und Moderne“ der Pariser Bibliothèque Nationale neu aufgelegt worden war. In einhundertsechzehn Bänden war versammelt, was man damals der Beachtung für wert hielt; moralische Werke, die über Jahrhunderte hinweg dazu beitrugen, die Conditio humana zu verbessern, darunter zum Beispiel Dantes „Hölle“, Condorcets „Entwurf eines historischen Überblicks über die Fortschritte des menschlichen Geistes“ sowie Jean- Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“.

Noch ein Jahrhundert später hielten die französischen Intellektuellen das Gemeinwesen für vervollkommnungsfähig und die Kritik an den Mächtigen zugunsten einer besseren Welt für notwendig. Roland Barthes dekodierte das Schauspiel, das die Jahre des Wirtschaftswachstums boten, Michel Foucault warf Licht auf die dunklen Stellen der Klassengesellschaft, und Pierre Bourdieu beschrieb bereits die Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion. Gilles Deleuze sah früh „die Unterwerfung des Denkens unter die Medien“ voraus, und Félix Guattari erkannte im Kapital eine „umfassende semiotische Beziehung“, die unter dem Deckmantel scheinbarer Rationalität alles beherrscht. Und man hat das Bild von Simone de Beauvoir vor Augen, die am Nationalfeiertag zwischen Frauen steht, die Geschirrtücher verbrennen, oder das von Sartre, der auf einer Tonne vor den Renault-Werken steht. Gut möglich, daß man bei diesen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten schmunzeln muß.

Aber wie ist es mit dem Bild, das das Fernsehen am Abend des 10. Dezember 1995 ausstrahlte und auf dem man Emmanuel Le Roy-Ladurie sah, wie er in einer Miniatur-Demonstration aufgebrachter Bus- und Metrobenutzer mitmarschierte? Und was soll man von dem Unterstützungsaufruf für den Juppé-Plan halten, den die Zeitschrift Esprit veröffentlicht hat, deren Bedeutung für das neoliberale Denken der letzten Jahre einmal genauer analysiert werden sollte?2 Die Unterzeichner des Aufrufs begrüßten „den Mut“ und „die geistige Unabhängigkeit“ der Gewerkschafterin Nicole Notat, die nichts Eiligeres zu tun hatte, als der sozialen Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, und strichen dann aufs deutlichste heraus, warum gerade sie kompetent seien, Juppés „grundlegende Reform“ zu unterstützen: „Auch wir, Intellektuelle, politische Vordenker, Führungskräfte und Experten, nehmen unsere Verantwortung ernst.“3

Als würde das Autoritätsprinzip genügen, um die Proteste zu ersticken, verbreiteten Radio und Fernsehen umgehend diesen Aufruf „linksgerichteter Intellektueller“, die „Realitätssinn“ bewiesen hatten: der Soziologe etwa, der in den Medien zu allem seinen Kommentar abgibt, der Philosoph der wechselnden Moden, der Hofdichter des Elyseepalastes aus der Ära Mitterrand, der alte Guru einer linksradikalen Zeitschrift der fünfziger Jahre und so weiter.

Auf die theoretisch verbrämte Abkehr vom Engagement in den achtziger Jahren folgte die subtile Bekehrung der wortgewaltigen Experten zum liberalen Fatum. Nur mit Hilfe der ökonomischen Lehren, die gerade en vogue sind, können sie noch die Welt philosophisch begreifen. Wie alle frisch Konvertierten sind sie von Missionseifer erfüllt und verkünden, daß es nur ein einziges mögliches Gesetz gibt, das des Marktes, daß Modernität ohne den Kult des Dow Jones nicht zu haben ist, daß die sozialen Errungenschaften nur unverdiente Privilegien sind und daß es den Armen vor allem an Anpassungsfähigkeit fehlt. Ganz wie die Ökonomen der Klassischen Schule, die Karl Marx kritisierte, sehen sie in der gegenwärtigen Organisation der Welt nur die Verwirklichung einer naturgegebenen Ordnung.

Die Intellektuellen müssen die Welt nicht mehr verändern, ja nicht einmal mehr interpretieren. Konzepte haben sie so gut wie keine, und jeder Analyse kommen sie mit dem Einwand der „Komplexität“. Nach dem „Tod der Utopien“ und dem „Ende der Ideologien“ bleibt ihnen nur die beschränkte Funktion eines technischen Beraters: Ihr Denken ist kurzsichtig und engstirnig geworden. Daß die Idee der sozialen Gerechtigkeit die Gesellschaft in Bewegung bringt, scheint ihnen von Grund auf unvernünftig und daher verwerflich zu sein.

Es ist zweifelhaft, ob es in der Vergangenheit jemals einen ähnlichen Fall geistiger Abdankung gegeben hat. „Was würden all die großen Männer denken, die an der Spitze der berühmtesten Völker der Antike standen; was würden Platon, Aristoteles, Cicero und alle antiken Philosophen denken, wenn sie uns sagen hörten, daß ein Staat nicht blühend und glücklich sein könne, wenn er keinen großen Handel treibt, und daß das Geld die Triebfeder seiner Anstrengung sein solle?“ fragte sich Mably im 18. Jahrhundert, mitten im Zeitalter der Aufklärung.4 Und doch ist das Geld mehr als je zuvor zum Maß der Politik geworden, zur Macht über allen Mächten und zur höchsten Vernunft. Selbst dem Begriff des Kapitals, der durch seine Geschichte das Gespenst der Klassenkämpfe und der proletarischen Errungenschaften beschwört, zieht das postmoderne Vokabular den Ausdruck ,Märkte‘ vor, der frei von allen Widersprüchen ist und um so tiefer beeindruckt, als er sich den Anstrich reiner und unausweichlicher Sachlichkeit gibt.

Roland Barthes wies seinerzeit darauf hin, daß die Bourgeoisie, diese große Erzeugerin von Mythen, diejenige Klasse war, die nicht als das benannt werden wollte, was sie war: Sie wollte hinter anonymen Kategorien verschwinden, die sie für alle akzeptabel machen sollten.5 Neu ist allerdings, daß sich in den letzten Jahren auch die intellektuellen und universitären Kreise selbst nachhaltig bemüht haben, ihr zu dieser Art Legitimierung zu verhelfen. Das technokratische Denken hat den kritischen Diskurs ausgehöhlt, und der Liberalismus hat die Köpfe umnebelt. Durch einen merkwürdigen Rollentausch ist es so weit gekommen, daß das Expertenurteil heute den Forderungen der Bevölkerung „Konservatismus“ vorwirft und statt dessen im Sozialabbau „den Fortschritt“ und „die Reform“ zu erblicken vermeint.

Doch „die Menschen lassen sich nicht gerne ein X für ein U vormachen“, wie ein junger Intellektueller bereits in der Krise der dreißiger Jahre feststellte. In der Avantgarde-Zeitschrift Bifur formulierte er einige recht bissige „Programmatische Bemerkungen zur Philosophie“: „Man muß schon sehr naiv sein, um zu glauben, daß ein Philosophiedozent zwangsläufig ein sanfter Neufundländer oder gar eine achtenswerte Person ist.“6 Und mit großer Respektlosigkeit erweiterte Paul Nizan seine Überlegungen zu einem Buch mit dem bösen Titel „Die Wachhunde“, das den Schlummer des Denkens in der akademischen Behaglichkeit geißelt.

Doch das Problem besteht nicht nur darin, daß die „Eliten“ auf ihren Stellen in den Institutionen träge geworden sind, sondern darin, daß sie aktiv dazu beitragen, eine Gesellschaft zu verwirklichen, wie sie die Finanzkreise erträumen. Mitunter erheben sich jedoch Stimmen gegen „diesen Staatsadel, der meint, akademische Titel und die Autorität der Wissenschaft, insbesondere der Ökonomie, würden genügen, um ihn zu legitimieren“. Der Soziologe Pierre Bourdieu, der die Kontinuität des kritischen Denkens verkörpert, traf sich mit streikenden Eisenbahnern: „Ich bin gekommen, um all denen Mut zuzusprechen, die seit drei Wochen gegen die Zerstörung einer zivilisatorischen Errungenschaft kämpfen, die aufs engste mit dem öffentlichen Dienst verbunden ist – die republikanische Gleichheit der Rechte.“7 Tatsächlich dürfte klar sein, daß das, was die Menschen in den Streik getrieben hat, weit über die Umstrukturierungsmaßnahmen der Regierung hinausgeht. Es ist ein großes „Nein!“ zur Gesellschaft der Unsicherheit, zur Zweiklassengesellschaft, die die Ideologen der Macht um jeden Preis durchsetzen wollen.

Die Sozialversicherung und der gemeinschaftsstiftende Geist des öffentlichen Dienstes entwickelten sich in der hoffnungsvollen Zeit nach der Befreiung, als man beim Wiederaufbau der Republik hochgesteckte Ziele hatte. Albert Camus erinnerte damals in Combat daran, daß „es keine Ordnung ohne Gerechtigkeit gibt“ und daß „die ideale Ordnung der Völker in ihrem Glück beschlossen liegt“. Gleichzeitig betonte er entschieden, „daß wir immer die Unordnung der Ungerechtigkeit vorziehen werden“8. Genau das sollte gegenüber der Staatsmacht und im Blick auf die Zukunft die Haltung des Intellektuellen sein, wenn er denn einer unruhigen Welt wieder einen Sinn geben will.

dt. Andreas Knop

1 Mably, „Des droits et des devoirs du citoyen“, Paris (Bibliothèque nationale), 1868, S. 11 f. Gabriel Bonnot de Mably lebte von 1709 bis 1785.

2 Vgl. die Zeitschrift Golias, Lyon, Nr. 39, Dezember 1994.

3 Le Monde, 3./4. Dezember 1995.

4 Mably, „Sur la théorie du pouvoir politique“, Paris (Editions sociales), 1975, S. 51.

5 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 1964, S. 123-130.

6 Paul Nizan, „Notes-programme sur la philosophie“, Bifur, Nr. 7, Dezember 1930, S. 27.

7 Le Monde, 14. Dezember 1995.

8 Albert Camus, „Actuelles, écrits politiques“, Paris (Idées-Gallimard), 1977, S. 47.

* Historiker am CNRS Lyon, Autor von „La Proclamation du nouveau monde“, Lyon 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Philippe Videlier