Der Krieg und das Nichts
NACH offiziellen Angaben hat der Konflikt in Sierra Leone seit seinem Ausbruch 1991 zehntausend Tote gefordert, überdies mehr als zwei Millionen Vertriebene – fast die Hälfte der Bevölkerung – davon 300000 Flüchtlinge in Guinea und Liberia. Lange unbeachtet geblieben, ist er mittlerweile der mörderischste Westafrikas. Und dennoch: Wie weit man auch zurückblickt in die Geschichte der dreizehn Ethnien, die unter britischer Kolonialherrschaft diese Nation gebildet haben – die Hypothese von atavistischen Bruderkriegen läßt sich nicht beweisen. Sierra Leone ist nicht Liberia. Die Auseinandersetzungen keimten in erster Linie auf dem Nährboden des außerordentlichen Wirtschaftschaos, das die von der Natur reich ausgestattete ehemalige „kleine Schweiz“ Westafrikas schließlich zu einem der fünf ärmsten Länder des Planeten gemacht hat. Bereits vor Anfang des Krieges war der Begriff Staat dort nur noch eine semantische Übereinkunft. So konnte sich das Regime von General Momoh gegen die Guerilla der Revolutionären Einheitsfront (Revolutionary United Front – RUF), die am 23. März 1991 vom Gefreiten Foday Sankoh ins Leben gerufen und zu Beginn vom liberianischen Kriegschef Charles Taylor unterstützt wurde, nicht behaupten. Am 29. April wurde Momoh von fünf Dutzend jungen, unzufriedenen Offizieren gestürzt. Valentine Strasser, ein sechsundzwanzigjähriger Hauptmann, wird zum Chef des neuen Provisorischen Nationalen Regierungsrats (National Provisional Revolutionary Council – NPRC). Doch drei Jahre später stehen die Rebellen vor der Hauptstadt Freetown. Inzwischen ist die Armee von 3000 auf 13000 Mann angewachsen. Zwar kontrolliert die RUF in diesem Krieg ohne klaren Frontverlauf keine einzige größere Stadt, doch kann sie überall angreifen. Der Süden, die Kornkammer des Landes, ist menschenverlassen und verwüstet. Das Gebiet der Diamantenförderung im Osten ist isoliert. Die Regierung wird dadurch finanziell ausgehungert. Gleichzeitig breitet sich die Kriminalität aus. Brandschatzungen von Dörfern, blindwütige Metzeleien, Folterungen und massenhafte Hinrichtungen sind weiterhin ein düsteres Merkmal der RUF, die auch Kinder und Frauen zwangsrekrutiert. Ihr Programm ist vage, ihr Anführer phantomhaft. „Wir haben die Waffen ergriffen, um das von der APC (der 1992 gestürzten ehemaligen Einheitspartei) und der Armee errichtete verrottete System zu zerschlagen“, verkündet Foday Sankoh. „Wir werden keine Militärregierung bilden. Wir sind gegen den Militarismus. Doch wir werden die Macht auch nicht ergreifen, um sie den Politikern zu geben. Nein, ihr (die Stabsführer) werdet sie behalten. Deshalb müßt ihr Disziplin üben.“1
Diszipliniert sein heißt, sich von den Regierungstruppen unterscheiden. Denn die Übergriffe werden auch von Militärs verübt. Viele von ihnen wurden Hals über Kopf aus den ärmsten Schichten rekrutiert, sie werden schlecht geführt und kaum bezahlt. Auch hier sind die Kämpfer manchmal noch Kinder.2 Oft setzen sie die Plünderungen der RUF fort, wenn sie nicht von Anfang an selbst dahinterstecken. So hat der Volksmund die Wörter „Soldat“ und „Rebell“ zu einem neuen Begriff zusammengefaßt, dem „Sobel“. Dies ist ein Krieg, in dem keine Gefangenen gemacht werden. Bei dieser Spielart des Straßenräubertums weiß niemand, wer was kontrolliert. Einige Beobachter gehen davon aus, daß nur vier der sieben Armeebataillone hinter dem NPRC stehen. Der NPRC wird von Guinea und Nigeria unterstützt und zählt seit neuestem auf ausländische Söldner. Nach einem ersten, wenig erfolgreichen Versuch mit nepalesischen Gurkhas greift das Regime nun auf die Dienste einer privaten südafrikanischen Firma zurück.3 Wie schon in Angola haben diese Waisen des Apartheidsystems ein Auge auf die Diamanten geworfen. Im Austausch gegen eine Diamantenkonzession im Osten, der dann auch prompt befreit wurde, sorgen die 150 Söldner für den militärischen Drill der Regierungssoldaten. Das Resultat scheint alle zu entzücken: Die RUF wurde umgehend auf 80 Kilometer vor der Hauptstadt zurückgedrängt. Tatsächlich hegt man die Hoffnung, ein „Unentschieden“ zwischen den Konfliktparteien werde alle dazu zwingen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Bis heute sind die Friedensverhandlungen und die internationalen Vermittlungsbemühungen gescheitert. Mitte September hat die RUF jedoch eine Begegnung mit Vertretern der Zivilgesellschaft gefordert. Viele Sierraleoner sind dazu bereit: Ohne je die Rebellion zu unterstützen, haben sie sich doch immer um Ausgleich bemüht. Außerdem ist der andere Ausweg aus der Krise unsicher. Der Prozeß der Rückkehr zu einer zivilen Regierung hat begonnen. Fünfzehn Parteien treten zu den im Februar vorgesehenen Wahlen an. Doch die RUF hat sich geweigert, daran teilzunehmen, und die Organisierung von Wahlen auf dem jetzigen Hintergrund scheint ein aussichtsloses Unterfangen.
Thierry Cruvellier *
1 New African, Juni 1995.
2 1993 zählte man 1000 Jugendliche von unter fünfzehn Jahren in der Armee. Im Juni 1993 wurden 370 Minderjährige zwischen acht und siebzehn Jahren ausgemustert. 20 Prozent davon sind, trotz eines modellhaften Integrationsprogramms, im Laufe eines Jahres wieder zur Armee zurückgekehrt.
3 Vgl. The Economist vom 29. Juli 1995; The Observer zitiert nach Courrier International Nr. 252, und Le Monde vom 27. Juni und 1./2. Oktober 1995.
* Journalist