12.01.1996

Die Netze werden ausgeworfen

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Die Netze werden ausgeworfen

Von

ASDRAD

TORRÈS *

ALS die Privatisierung der Telekommunikation in Europa beschlossen wurde, nahm davon kaum jemand Notiz. Wenn das Thema jetzt Schlagzeilen macht, zeigt das, wie weit die 1987 von der Europäischen Kommission in Gang gebrachte Entwicklung gediehen ist.1 Sobald sich abzeichnete, daß der Abbau von öffentlichen Leistungen drohte und Arbeitsplätze in Gefahr gerieten, waren die Regierungen mit Kritik an der Kommission bei der Hand. Der Vorwurf an die Brüsseler Behörden, sie fasse Beschlüsse, für deren Umsetzung die Regierungen verantwortlich sind, ist nicht neu und betrifft nicht nur die Telekommunikation.2 Dabei war es der Europäische Rat (also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs), der 1989 einstimmig beschloß, die wertschöpfungsintensiven Dienstleistungen und die Datenübermittlung dem freien Wettbewerb zu öffnen. Das gleiche Gremium beschloß im Juli 1993, einstimmig, das Wettbewerbsprinzip bis spätestens zum 1. Januar 1998 im Bereich der Telefonnetze einzuführen.3 Sechzehn Monate später wurde die Kommunikations-Infrastruktur miteinbezogen.

Auf die politische Verantwortung der Staatschefs und Minister hinweisen heißt nicht, jene der Kommission zu ignorieren: Vor und nach jeder Entscheidung auf Regierungsebene machte sie sich stark für eine ultraliberale Politik – sogar gegen den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten, die ihr die alleinige gesetzgeberische Kompetenz in Fragen des Wettbewerbs absprachen.4 1992 traten zunächst die damaligen EG-Kommissare für Wettbewerb und Telekommunikation, Sir Leon Brittan und Fillipo Pandolfi, als Scharfmacher auf, indem sie eine sofortige Einführung des Wettbewerbs im Bereich der Kommunikationsdienste innerhalb der Gemeinschaft befürworteten. Ihre Nachfolger durften sich dann etwas kompromißbereiter zeigen: Im Januar 1993 versprachen sie, die Probleme der Grundversorgung (siehe den Artikel von Christian Barrère) und der abgelegenen Regionen zu prüfen. Prompt brachte der damalige französische Postminister Emile Zuccarelli seine Erleichterung zum Ausdruck: „Die Kommission hat unsere Einwände berücksichtigt.“

Lange hielt die Illusion nicht vor; drei Monate später legte die Kommission das Jahr 1998 als spätesten Zeitpunkt für die völlige Liberalisierung des Sektors fest.5 Im April 1993 erklärte Martin Bangemann, der für Telekommunikation zuständige EU-Kommissar: „Es ist unbestreitbar, daß die bisherigen Monopole durch den technischen Fortschritt ihren Sinn verlieren.“6 Der süffisante Tonfall beherrschte die weitere Diskussion, in der die „Datenautobahnen“ den Vorwand zur Deregulierung der Telekommunikation lieferten.7 Ähnliche Vorhaben sind inzwischen von den europäischen Regierungen in den Bereichen Eisenbahn, Luftfahrt sowie Gas- und Stromversorgung lanciert worden, in denen von technischen Umwälzungen kaum die Rede sein kann.

Selbst im Kreis der Brüsseler Exekutive kommen heute Zweifel auf. Im Dezember 1994 gab der Wirtschafts- und Sozialausschuß der EU eine Studie in Auftrag, um „kurz- und mittelfristige, direkte und indirekte Folgen der Liberalisierung/ Privatisierung von Telekommunikationsdiensten zu untersuchen“. Karel Van Miert, der gegenwärtige EU-Kommissar für Wettbewerb, präzisierte: „Die Entscheidung, bestimmte Branchen zu liberalisieren, in denen auch öffentliche Dienstleistungen angeboten werden, ist keineswegs ideologischer Natur (...), sondern Ausdruck einer natürlichen Anpassungsbereitschaft an wirtschaftliche, soziale und technologische Entwicklungen.“8 Aber macht nicht gerade das die Ideologie aus – ein Eigeninteresse zur „natürlichen“ Haltung zu erklären?

Auch auf die „Globalisierung“ hat man sich berufen, um die „unausweichliche“ Öffnung der Märkte zu begründen. Allerdings wirkt dieses liberale Credo in bezug auf die Telekommunikation etwas verfehlt: Ein weltweites öffentliches Telefonnetz gibt es ja bereits, und es konnte trotz aller Monopole und Vorschriften entstehen. Natürlich verlangen die international tätigen Unternehmen ein breiteres Angebot als bloße Telefonverbindungen (z.B. Datenaustausch, Videokonferenzen). Außerdem sind sie daran interessiert, alle Dienste aus einer Hand zu erhalten – sie erwarten den gleichen Service, ganz gleich in welcher Stadt, in welchem Land sie gerade Niederlassungen gründen, Forschungsstätten und Fabriken einrichten wollen. Aber auf diese Nachfrage haben die Betreiber der Telefonnetze längst reagiert, indem sie Gemeinschaftsunternehmen gründeten oder Konsortien bildeten, so etwa die Allianz von British Telecom (BT) und der amerikanischen MCI unter dem Namen Concert. So können Netzbetreiber, die vielleicht auf dem eigenen nationalen Markt als Monopolisten auftreten, weltweite Dienste anbieten und lokale Bestimmungen umgehen.9 Solche Rechtfertigungen für die Deregulierung wirken wie billige Vorwände, zumal jene neuen Dienstleistungen für Unternehmen, die eine radikale Änderung der geltenden Bestimmungen erforderten, nur etwa 3 Prozent des Umsatzes (13 von 450 Milliarden Dollar) auf dem Weltmarkt ausmachen.

Ihre Zustimmung zu den Verträgen haben die US-Behörden von der Öffnung ausländischer Märkte – vor allem für amerikanische Netzbetreiber – abhängig gemacht. Zwischen den beiden Fragen besteht jedoch kein logischer, nur ein machtpolitischer Zusammenhang. Die Briten haben sich derart bereits zu einer unverhältnismäßigen Öffnung ihres Marktes zwingen lassen, um die Zustimmung zum Projekt Concert zu erhalten.10

Die Vereinigten Staaten machen kein Hehl daraus, daß sie auch künftig nach diesem Muster verfahren wollen: „Die Öffnung des britischen Marktes und die effiziente Regelung des britischen Telekommunikationssektors haben bei unserer Entscheidung eine wichtige Rolle gespielt“, hieß es in einer offiziellen Stellungnahme.11 Aber vielleicht gelingt es den Lobbyisten von AT&T ja noch, die Behörden ihres Landes davon zu überzeugen, daß – nach Meinung ihres Vorstandsvorsitzenden – „der Markt in Großbritannien immer noch viel zu stark von BT beherrscht wird, um von freiem Wettbewerb sprechen zu können“12. Nach dem Prinzip der ungleichen Beziehungen findet die amerikanische Regierung jedoch nichts daran auszusetzen, daß ein Konsortium 49,9 Prozent der Belgacom übernimmt...

Abgesehen von den eingesetzten Druckmitteln wird aus der Art der Verhandlungen deutlich, worum es bei den gegenwärtigen Umwälzungen geht: Die großen transatlantischen Telefongesellschaften lassen zwar die besonders dynamischen Marktsegmente nicht aus13, aber den entscheidenden Schlag im Herzen Europas wollen sie auf dem Feld der Grundversorgung führen. 85 Prozent ihrer Umsätze macht die Branche in diesem Bereich; das weckt Begehrlichkeiten auch bei europäischen Konzernen, die bislang nur in Randbereichen (vor allem Funktelefone) im Geschäft waren. Amerikaner und Europäer stehen sich dabei nicht im Wege, sondern erheben gemeinsam die Forderung nach Aufgabe der letzten Bastion staatlicher Monopole. Allein in Deutschland sind dazu vier neue Firmengruppen angetreten, zu ihren Mitgliedern gehören der Stahlkonzern Thyssen, der Energieversorger RWE und das Industrieunternehmen Viag, aber auch die Telefongesellschaften BT, AT&T und BellSouth.

Es steht außer Frage, welchen Vorteil diese Unternehmen von der Auflösung der letzten Staatsmonopole haben werden, aber was hat der Bürger davon? Mit der Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Kriterien im Bereich der Telekommunikation gefährden die europäischen Regierungen letztlich das Prinzip der Finanzierung öffentlicher Leistungen. Bislang erlaubten Monopole den Betreibern, defizitäre, aber sozial erwünschte Dienste mit Mitteln aus rentablen Geschäftsbereichen zu finanzieren. Die Ferngespräche finanzierten die Ortsverbindungen, die Fernsprechteilnehmer in einer Großstadt leisteten einen Beitrag zu den Anschlüssen in ländlichen Gebieten, der Großkunde half dem Kleinverbraucher, das Geschäft mit den Hauptachsen trug die Querverbindungen mit. Die Spanne zwischen Gebühren und tatsächlichen Kosten diente dem Ausgleich der sozialen und geographischen Unterschiede bei den Benutzern.

Nach der Deregulierung werden Europas Anbieter nicht mehr verpflichtet sein, jedem einen Telefonanschluß bereitzustellen; es wird zu einer Aufteilung der Märkte kommen. Um die Auswirkungen der Deregulierung auf die Gebühren zu verfolgen, muß man nicht bis 1998 warten. Großbritannien bietet bereits jetzt den Unternehmen besonders günstige Tarife, während Ortsgespräche die teuersten Verbindungen sind. Unter dem Eindruck einer partiellen Deregulierung in Frankreich hat auch France Télécom die Preise für internationale und nationale Ferngespräche sowie die Firmentarife gesenkt, während die Kommunikation im Ortsnetz teurer geworden ist. Die für 1996 vorgesehene Tarifreform dürfte diesen Trend fortsetzen, wobei sich die Anschlußgebühren verdoppeln oder verdreifachen könnten.

Gerade die Erhöhung der Anschluß- und der Grundgebühr – die bei 30 Prozent der Benutzer schon die Hälfte der Rechnung ausmacht – bedeutet eine Benachteiligung für alle, deren Telefon zu Hause steht und deren Einheitenverbrauch bescheiden ist. Und wenn der Anschluß gestört ist? Künftig wird ein Kunde, der nicht selbst bei der Firmenvertretung vorbeigehen kann, für die Entsendung eines Technikers runde 240 Francs in Rechnung gestellt bekommen. Man verweist gern auf amerikanische Vorbilder, vergißt aber zu erwähnen, daß der Anteil der Neuanschlüsse seit der Deregulierung um zwei Prozentpunkte zurückgegangen ist – und zwar zu Lasten der ärmsten Schichten.14

Obwohl die Frage der öffentlichen Dienstleistungen ein soziales Problem ersten Ranges darstellt, genießt sie bei der Europäischen Kommission keine Priorität. Sie, die sonst so eifersüchtig über ihre Vorrechte wacht, hat sich hier mit einer Minimaldefinition begnügt und es den Staaten überlassen, die Einzelheiten der Finanzierung zu regeln. Derart ermutigt hatten die Regierungen nichts Eiligeres zu tun, als gar nichts zu tun. In Deutschland hielt man sich an die Kräfte des Marktes, und in Frankreich unterstrich Franck Borotra, der französische Minister für Industrie, Post und Telekommunikation, seine Vorstellungen von künftigen öffentlichen Leistungen mit Verweisen auf die „französische Kultur“ – die Telekommunikation gehörte allerdings nicht zu jenem Grundstock an Diensten, die er gegen die „liberalen Tendenzen“ der Kommission verteidigen will.

Für die Konkurrenz wie für die künftigen Aktionäre von France Télécom muß zunächst die Frage geklärt werden, wie die öffentlichen Dienste in Zukunft aussehen sollen. Erst dann kann man die Kosten und damit die Rentabilität der Investitionen kalkulieren. Nach den Schätzungen der Kommission müßte die Umstrukturierung in Frankreich mit etwa 2 Prozent des Gesamtumsatzes im Telekommunikationsbereich vorzunehmen sein. Die Gewerkschafter bei France Télécom legen allerdings wesentlich anspruchsvollere Schätzungen vor – sie gehen von 25 Prozent des jetzigen Umsatzes aus.15 Wo ihr Plan noch Hilfen für wenig Begüterte, soziale und geographische Gebührenanpassung und Investitionen in die Modernisierung des Netzes vorsieht, begnügt sich der erste Vorschlag damit, die öffentlichen Telefonzellen, das Telefonbuch, die Auskunft, die Störstelle und den Notdienst zu erhalten. Offensichtlich will Europas Führungsschicht ein recht dürftiges Bündel öffentlicher Leistungen schnüren, das zu ihrem liberalen Konzept und zu den Profitgelüsten mächtiger Interessengruppen paßt.

dt. Edgar Peinelt

1 Grünbuch Telekommunikation, Europäische Kommission, 1987.

2 Siehe Bernard Cassen, „La faute à Bruxelles“, Le Monde diplomatique, März 1994.

3 Für Luxemburg, Spanien, Portugal, Griechenland und Irland sind spätere Termine (zwischen 2000 und 2003) vorgesehen.

4 Deutschland, Frankreich, Italien und Belgien erhoben Einspruch gegen die Verordnung vom 27. Mai 1988, mit der die Freigabe des Marktes für Telekommunikationsterminals geregelt wurde. Die Kommission berief sich dabei auf den Artikel 90.3 des Vertrags von Rom, der ihr in Fragen der Wettbewerbs das Recht gibt, gesetzliche Regelungen per Verordnung einzuführen. Diese Bestimmung entspricht in etwa dem Artikel 38 der französischen Verfassung (über Verordnungen der Regierung).

5 Im Oktober vergangenen Jahres hat die Kommission ein Gemeinschaftsunternehmen (Atlas) von Deutscher Telekom und France Télécom abgesegnet, das als Partner für eine Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Anbieter Sprint (Phoenix) gedacht war. Am 15. Dezember räumte auch die amerikanische Bundeskommission für Kommunikationsfragen (FCC) die letzten Hindernisse aus dem Weg: Sie stimmte der Partnerschaft zu, verlangte allerdings von Sprint regelmäßige Berichte über die Fortschritte bei der Einführung der Wettbewerbsfreiheit in Frankreich und Deutschland.

6 Les Echos, 30. April 1993.

7 Siehe Asdrad Torrès, „Qui tirera profit des ,autoroutes de l'information‘?“, Le Monde diplomatique, November 1994.

8 La Tribune Desfossés, 6. Dezember 1995.

9 Neben Concert (das durch die zahlreichen Verträge gestützt ist, die beide Partner, MCI und BT, ihrerseits geschlossen haben) gibt es drei weitere große Zusammenschlüsse: Phoenix vereint Deutsche Telekom, France Télécom und den amerikanischen Anbieter Sprint, World Partners wird von AT&T, Singapore Telecom, Unisource (einer Allianz aus der niederländischen PTT Telecom, der schwedischen Telia, Swiss PTT und Telefonica España) sowie einer Unzahl kleinerer Netzanbieter (TCNZ, Telstra, Hong Kong Telecom, Unitel, PLDT) getragen, und schließlich existiert noch eine Gruppe aus Italtel, IBM und Cable & Wireless.

10 Das Abkommen sah vor, daß BT 20 Prozent des Kapitals von MCI übernimmt – den gesetzlich festgelegten Höchstanteil für ausländische Investoren. Als Ausgleich für diese Beteiligung mußte die britische Regierung drei großen amerikanischen Konzernen (darunter dem Branchenriesen AT&T) Zugang zu sämtlichen Zweigen des Telekommunikationsmarktes in Großbritannien gewähren, von den modernsten Dienstleistungen für die Unternehmen bis zum einfachen Telefon für jedermann.

11 Steven Sunshine, zweiter Stellvertreter des Justizministers, La Tribune Desfossés, 17. Juni 1994.

12 Robert Allen, „Customers Want More Choice“, Financial Times, 3. Oktober 1995. Allen ist Geschäftsführer von AT&T.

13 Fast ein Drittel der europäischen Mobilfunknetze ist in der Hand amerikanischer Unternehmen. Siehe Les Echos, 15. November 1995.

14 Thomas Lamarche, „Quelles trajectoires pour les réseaux de télécommunication en France?“, Terminal, Winter 1994.

15 „Service public: définition et financement“, Sud, 22. Oktober 1995.

* lehrt Informations- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Rennes II.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Asdrad Torres