12.01.1996

Die sechste Welle

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Die sechste Welle

Von

MICHEL

DREYFUS *

DIE Streiks vom Dezember 1995 sind die bedeutsamsten seit jenen des Mai 1968. Auch wenn sie kein vergleichbares Ausmaß erreicht haben – es gab keinen Generalstreik, im Privatsektor streikte fast niemand, und nur ein Teil des öffentlichen Sektors schloß sich dem Streik an –, stellt dieses Ereignis doch die vielen Analysen in Frage, in denen das Ende der Arbeiterklasse vorhergesagt wurde.

Die französische Gewerkschaftsbewegung, in deren Zentrum lange Zeit hindurch die CGT stand, die im vergangenen Jahr ihren hundertsten Geburtstag feierte, hat fünf wichtige Streikwellen erlebt. Im Mai 1906 scheitert die CGT bei dem Versuch, den Achtstundentag durchzusetzen. Doch durch ihre Fähigkeit, eine landesweite Protestbewegung auszulösen, beweist die noch ungefestigte Organisation, in der die Anarchisten noch eine wichtige Rolle spielen, ihre Existenzberechtigung. Der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung ist zu diesem Zeitpunkt ebenso niedrig wie heute (unter 10 Prozent), aber die Gewerkschaftsbewegung steht erst am Anfang.

In den Jahren 1917 bis 1920 sind die großen Streiks der Metallarbeiter und Eisenbahner eine Antwort auf die Schwierigkeiten des Krieges. Innerhalb der CGT kommen Meinungsverschiedenheiten über die seit 1914 verfolgte Politik und die Haltung zur Russischen Revolution hinzu. Nach Beendigung dieser Streiks ist die französische Gewerkschaftsbewegung stärker als 1914, aber sie ist auch gespalten. Diese Spaltung konnte bis heute nicht überwunden werden.

Im Jahr 1936 folgt auf den Sieg der Linken bei den Parlamentswahlen der Sieg der Gewerkschaften bei den Juni-Streiks. Die Gewerkschaften können in dieser Situation die Vierzigstundenwoche, Tarifverträge und bezahlten Urlaub durchsetzen. Diese Streiks, die zu einer Stärkung der CGT führen (die Zahl ihrer Mitglieder wächst auf das Fünffache), sind ebenso wie die vom Dezember 1995 eine Antwort auf den Sozialabbau, der auf die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre folgte. Mit dem Münchner Abkommen, dem Scheitern des Generalstreiks vom 30. November 1938 und dem Hitler-Stalin-Pakt dreht sich das Rad schnell in eine andere Richtung. Unmittelbar nach seiner Konstituierung löst das Vichy-Regime alle Gewerkschafts- und Berufsorganisationen auf.

Die Streiks der Jahre 1947 und 1948 haben wie die der Jahre 1917 bis 1920 ihre Ursache vor allem in der allgemeinen Unzufriedenheit, die aus der schwierigen Lage der Kriegsjahre resultierten. Die äußerst gewalttätigen Auseinandersetzungen, die die Kommunisten der CGT so weit wie möglich verschärfen, scheitern schließlich und ziehen strenge Repressionsmaßnahmen und das Ausscheiden vieler Gewerkschafter nach sich. Wenig später kommt es mit der Gründung von Force Ouvrière (FO) im Klima des beginnenden Kalten Krieges zu einer weiteren Spaltung.

Der Mai 1968 als größte gesellschaftliche Protestbewegung endet mit einem nur relativen Sieg der Gewerkschaften, denn die erreichten Lohnerhöhungen werden von der Inflation wieder aufgezehrt. Wie auch 1995 spielt die Verteidigung des sozialen Netzes eine entscheidende Rolle. Seitdem 1967 die „Jeanneney-Verordnungen“ erlassen worden waren, mit deren Hilfe man die CGT unter Verweis auf eine angebliche Neuorganisierung aus der Verwaltung der Sozialversicherung hinausgedrängt hatte, kämpfte die CGT für deren Aufhebung. Trotz der Schlagkraft des Mai 1968 scheitert sie in diesem Punkt: Diese Verordnungen bleiben in Kraft, ebenso wie gegenwärtig die großen Züge des Juppé-Plans. Bis 1968 hatte die Zahl der Streikenden von einer Streikwelle zur anderen immer zugenommen, während diese Zahl 1995 sehr viel geringer war.1

Während es 1953 nur 100000 und 1968 400000 Arbeitslose gab, fand die Protestbewegung vom Dezember 1995 in einem Land statt, in dem seit zwanzig Jahren fast 8 Millionen Menschen von der stetigen Zunahme der Arbeitslosigkeit und der befristeten Arbeitsstellen betroffen sind. Im Gegensatz zu den vorherigen Protestbewegungen fand diese in einer von Privatisierungen geprägten Situation statt, in der der öffentliche Dienst als Ganzes in Frage gestellt ist. Deswegen hatte seine Verteidigung vielfach Vorrang vor Lohnforderungen.

Die jüngsten Streiks sind ebenfalls vor dem Hintergrund einer schweren Krise der Gewerkschaftsbewegung ausgebrochen: In den letzten fünfzehn Jahren hat die CGT etwa zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren, bei der CFDT und der FO wird der Mitgliederrückgang kaum geringer sein. In den letzten drei Jahren scheint er abgebremst worden zu sein, aber werden die Gewerkschaften im Aufwind der Dezember-Kämpfe das verlorene Terrain zurückgewinnen können? Diese Protestbewegung wird vielleicht auch zu einer Neuordnung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung beitragen. Schon seit einigen Jahren war zu beobachten, daß Force Ouvrière härtere Forderungen stellte, während die CFDT eher als der bevorzugte Gesprächspartner von Regierung und Arbeitgebern erschien. Alle fünf Streikwellen waren auch von der internationalen Politik geprägt (Russische Revolution, die Notwendigkeit einer Aktionseinheit gegen den Faschismus, Kalter Krieg). Zum ersten Mal seit 1917 war dies jetzt nur von zweitrangiger Bedeutung. Das Verschwinden der Sowjetunion – und des „sozialistischen Lagers“ – entschärft die Fronten der Vergangenheit und verändert die Debatten, die von entscheidender Bedeutung für die Geschichte der Arbeiterbewegung waren.

dt. Christian Voigt

* Historiker, Verfasser von „Histoire de la CGT“, Brüssel (Complexe), 1995.

1 Zu diesen fünf Streikwellen lassen sich noch die Streiks vom August 1953 hinzufügen, die sich gegen das Regierungsvorhaben richteten, 4000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abzubauen. Dieses Vorhaben war mit einer Überprüfung der besonderen Altersversorgung des öffentlichen Dienstes verbunden. Die Parallele zu den Ursachen der Protestbewegung im Dezember 1995 ist frappierend.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Michel Dreyfus