Hoffnung
Von IGNACIO RAMONET
MIT ihrer beeindruckenden sozialen Revolte haben die Franzosen im Dezember 1995 zum ersten Mal kollektiv ihrer Ablehnung gegenüber einem Gesellschaftsmodell Ausdruck verliehen, das auf dem Primat der Wirtschaft, dem unbegrenzten Liberalismus, dem Totalitarismus der Märkte und der Tyrannei der Globalisierung beruht. Sie haben der politischen Führung der Nation ein altes republikanisches Prinzip in Erinnerung gerufen: Den Bürgern ist Unruhe lieber als Ungerechtigkeit.
Die Grenze des Zumutbaren war erreicht – von nun an ist nichts mehr wie zuvor. Zumal der Protest gleichermaßen die Krise der Herrschaftsstruktur, der Demokratie und der Eliten manifest gemacht hat. Einer Herrschaft, die immer mehr als rein ausführendes Organ auftritt, als Werkzeug in den Händen der eigentlichen Machthaber der Welt: der Finanzmärkte.1 Einer Demokratie, welche an Politikern Schaden nimmt, die sofort nach den Wahlen die zuvor gemachten Versprechungen ungeniert zurücknehmen, wie Jacques Chirac am vergangenen 26. Oktober. Und von Eliten, die mit Eifer das „einheitliche Denken“ verteidigen und mit Begriffen wie „Modernisierung“, „Realismus“ und „Verantwortungsbewußtsein“ jeglichen kritischen Ansatz verunglimpfen.
Sie glauben fest an die „Unausweichlichkeit der aktuellen Entwicklungen“, predigen die intellektuelle Kapitulation und verweisen all jene ins Schattenreich der Unvernunft, die nicht akzeptieren wollen, daß „der natürliche Zustand der Gesellschaft der Markt ist“.
So gesehen könnte der große französische Aufstand einer der reaktionärsten Perioden der zeitgenössischen Geschichte ein Ende setzen. Einer Periode, in der selbst sozialistische Führungskräfte und Intellektuelle in den Jahren 1983 bis 1993 jegliche Hoffnung auf eine Veränderung der Welt preisgegeben und gegen eine einzige Parole ausgetauscht haben, die der sozialdarwinistischen Terminologie der Ultraliberalen enstammt: „Anpassung“, also: Verzicht, Entsagung, Unterwerfung.
Daß die französischen Bürger trotz des enormen Drucks und der ungeheuren Einschüchterung ihrer Wut tatkräftig Ausdruck verliehen haben, zeigt, wie groß die soziale Not geworden war. Selbst im schwärzesten Moment der Großen Krise von 1929 gab es nicht so viele Verlierer wie jetzt. Denn wenn man zu den 3,5 Millionen Arbeitslosen die anderen Ausgeschlossenen jeglicher Art hinzuzählt, kommt man auf eine Bevölkerung von 6 Millionen Verarmten. Die Hälfte davon leben unter der absoluten Armutsgrenze, mit weniger als 60 Franc (20 Mark) pro Tag. Diese Risse im sozialen Netz vertragen sich nicht mit unserem Verständnis der Republik, ist doch das Elend eine Beleidigung der Menschenrechte. Die Arbeits- und die Obdachlosen, die mit den Mindesteinkommen und den Zeitverträgen verkörpern auf dramatische Weise jene Opfer, die seit zwei Jahrzehnten ohne Gegenleistung von der französischen Gesellschaft verlangt werden. Sie sind das konkrete Ergebnis rein ideologischer Entscheidungen über Sparhaushalte, Produktauslagerung, Konkurrenzfähigkeit, Produktivität etc. Doch die Leute haben es satt, daß etwas „Reform“ genannt wird, was in Wirklichkeit eine Gegenreform ist, eine Rückkehr in die überkommene Sozialordnung aus den Werken von Dickens und Zola.
SO sind die antieuropäischen Ressentiments all derer nur zu verständlich, die sich von den brutalen Brüsseler Strukturanpassungsmaßnahmen und der blinden Anwendung der Maastrichter Konvergenzkriterien bedroht fühlen.
Zu einer Zeit, in der sowohl innerhalb Europas als auch an seinen Grenzen ein extremer Nationalismus um sich greift, muß der Aufbau eines geeinten Europa ein vorrangiges Ziel sein. Doch ein solch achtenswertes Ziel wird nicht durch Zinssätze oder Konvergenzkriterien erreicht. Der einzige Bereich, in dem heute noch Hoffnungen wachsen können, ist der des Sozialen. Europa hat den Wohlfahrtsstaat erfunden. Wie nirgends sonst auf der Welt können die Bürger Altersvorsorge, Krankenversicherung, Familienbeihilfen, Arbeitslosengeld und Arbeitsrechte in Anspruch nehmen. Dieses Arsenal an sozioökonomischen Errungenschaften, das die Arbeiterbewegung erkämpft hat, bildet das Herzstück der modernen europäischen Zivilisation.
Die Logik der Globalisierung und des freien Welthandels hingegen verlangt eine Angleichung der Löhne und Sozialleistungen an die wesentlich schlechteren Bedingungen im asiatisch-pazifischen Raum.2 Aber kann es sich die französische Regierung leisten, weiterhin im Namen wirtschaftlicher Effizienz die Zerstörung der sozialen Struktur voranzutreiben, selbst um den Preis, den nationalen Zusammenhalt aufzubrechen? Und hat eine Wirtschaft ohne soziale Effizienz überhaupt irgendeinen Sinn?
Die Aufmerksamkeit, mit der die europäischen Lohnabhängigen die Ereignisse in Frankreich verfolgt haben, zeigt, daß überall die gleiche Angst umgeht.3 Unter dem Druck der Finanzmärkte werden überall nach gleichen Kriterien und in ähnlichen zeitlichen Abläufen ungerechte und die Ungleichheit verstärkende Maßnahmen durchgesetzt. Überall fragen sich die Bürger, ob es sich lohnt, auf den Ruinen des Wohlfahrtsstaates, auf dem sozialen Rückschritt, dem Verlust der Arbeitsplätze und dem Sinken der Löhne ein geeintes Europa aufzubauen. Sie fragen sich, was das mit Fortschritt zu tun hat.
Der französische Aufstand zeigt, daß der Internationalismus die Seite gewechselt hat. Früher eine Waffe in den Händen der Arbeiter, ist er heute zur Globalisierung mutiert und wird von den weltumspannenden Märkten, den Multis und der Technokratie in Brüssel nutzbringend eingesetzt. Kann die Antwort auf diesen Großangriff eine örtlich begrenzte sein? Und wann wird es, auf dem Weg zu einem sozialen Europa, endlich einen gemeinsamen Protest der Gesamtheit der Gewerkschaften und der Bürger der Fünfzehn geben?
1 s. „Les nouveaux maitres du monde“, Manière de voir, No. 28, November 1995.
2 So lag der Stundenlohn 1993 bei 0,28 Dollar in Indonesien gegenüber etwa 20 Dollar in Frankreich.
3 s. Le Monde, 17.Dezember 1995.