Medien im kollektiven Fieberwahn
Von
SERGE
HALIMI
FAST fünfzehn Jahre lang hatte man den Eingriff vorbereitet: Frankreichs Eliten und ihre Vertreter in den Medien dachten, sie wären am Ziel. Sie hatten „Es lebe die Krise!“ gesungen, Europa und die Modernität gefeiert, für Abwechslung ohne Wandel gesorgt und die soziale Gerechtigkeit in den Zwinger des Kapitalismus gesperrt. Als man zur großen strukturellen Anpassung schritt, um Frankreich von den letzten archaischen und irrationalen Resten zu befreien, hätte nichts mehr schiefgehen sollen. Die regierungserprobte Linke war längst bekehrt, die Gewerkschaften geschwächt, die Hof- und Bildschirmintellektuellen hatten sich von einer Gesellschaft verführen lassen, die es ihnen erlaubte, sich entspannt in Kolloquien und Kommissionen zu tummeln, um abends das Geld im Schlaf zu verdienen. Das war der Stand vor zwei Monaten.
Dann sprach Juppé. Der Inhalt seiner „Reform“ tut wenig zur Sache: Wieder einmal ging es darum, „die einzig mögliche Politik“ zu verfolgen, d.h. die Arbeitnehmer zahlen zu lassen. Ohne sich um Kohärenz zu kümmern – die Medien würden für die ideologische Hintergrundmusik sorgen –, bekundete Juppé seinen Wunsch, das soziale Netz abzusichern, ohne die Finanzmärkte zu verärgern.
Die Diagnose („Bankrott“) war bekannt, die Therapie („Opfer“) vorauszusehen, das Argument („Jedem das Seine“ und Modernität) vertraut – der Erfolg hätte so sicher sein sollen wie bei früheren Plänen. Françoise Giroud, Bernard-Henri Lévy, Jean Daniel, Jacques Julliard, Pierre Rosanvallon, Raymond Barre, das Wall Street Journal, Alain Duhamel, Libération, Alain Touraine – alle billigten rasch einen „mutigen“, „kohärenten“, „ehrgeizigen“, „bahnbrechenden“ und „pragmatischen“ Plan. Mit der schreibenden Zunft waren auch die Spekulanten („die Märkte“) entzückt. Die Sache schien klar zu sein: Nach sechs Monaten personeller Fehlgriffe und konturloser Politik hatte der Premierminister sein Format bewiesen. Und „Juppé II.“ oder „Juppé der Kühne“ – wie die Tageszeitungen von Serge July und Rupert Murdoch titelten1 – nahm im Herzen der marktgläubigen Journalisten den Platz ein, den Barre, Bérégovoy und Balladur vakant gelassen hatten.
Aber vor den Bettlern kann man nie genug auf der Hut sein. Man glaubte, mit dem „Ende der Geschichte“ hätten sie sich in Luft aufgelöst oder in „Ausgeschlossene“ verwandelt, um die sich eine mildtätige Stiftung kümmern würde. Aufrecht standen sie plötzlich wieder da. Eine solche Ungehörigkeit löste bei unseren liberalen Journalisten Haßtiraden aus, die an jene Tocquevilles während des Juni-Aufstands 1848 erinnerten. Der Redaktionsleiter des Figaro (und ehemalige Chefredakteur des Nouvel Observateur), Franz- Olivier Giesbert, tobte: „Die Eisenbahner und die Angestellten der Pariser Verkehrsbetriebe nehmen Frankreich in den Würgegriff, um es noch mehr auszusaugen“, und sprach von „sozialer Erpressung“.2 Claude Imbert, Chef der Wochenzeitung Le Point, war glücklich, endlich wieder die alte Leier gegen „Mama Staat“ und die „überfließenden Geschenkkörbe“ des öffentlichen Sektors anstimmen zu können: „Auf der einen Seite steht das Frankreich, das arbeiten und sich behaupten will, auf der anderen das Frankreich mit Bleisohlen, das sich auf dem einmal errungenen Vorteil ausruht.“
Das Leiden von Giesbert und Imbert war ansteckend. Gérard Carreyrou, der Nachrichtenchef von TF 1, der den Streikenden schon deshalb wenig Verständnis entgegenbringt, weil sein Jahresgehalt sich auf 2,8 Millionen Franc beläuft3, fand deutliche Worte: „Juppé hat politischen Mut gezeigt. Aber er setzt alles auf eine Karte, denn er hat es mit einer Bewegung zu tun, deren Sinn für die Realität oft von Phantasmen und Irrationalität getrübt wird.“4 Die hölzerne Sprache der Wichtigtuer trieb ihre schönsten Blüten: auf der einen Seite – der der Macht und des Geldes – der „Mut“ und der „Realitätssinn“; auf der anderen – der des Volkes und der Straße – die „Phantasmen“ und die „Irrationalität“. Sollten die Streikenden etwa die Stirn haben, fünfzehn Jahre Erziehung zur Unterwürfigkeit in Frage zu stellen?
„In dieser durch die Lebensweisen und die Finanzmärkte scheinbar vereinheitlichten Welt bleibt ein französisches Spezifikum übrig: die Lust am Aufruhr.“5 Für die Entscheidungsträger, Berater und offiziellen Experten in Sachen „Rationalität“ konnten die Streiks in der Tat nur einen „Anfall von Mondsüchtigkeit“ (Claude Imbert) darstellen, einen „kollektiven Fieberwahn“ (Alain Duhamel), eine „Phantasmagorie“ (Franz-Olivier Giesbert), einen „Karneval“ (Guy Sorman), einen „schizophrenen Schub“ (François de Closets). Denn der „Traum“ der Gemäßigten, der Traum von einer „Republik der Mitte“6, hatte plötzlich Millionen „geistig verirrter“ Demonstranten gegen sich aufgebracht. Sie boten der Welt, wie es schien, „das Bild eines archaischen Frankreich, das auf italienische Lösungen setzt (Verschuldung, Inflation und Vetternwirtschaft) statt auf deutsche (Tarifverhandlungen und straffes Management)“7.
Während auf den Straßen der französische Karneval tobte, meldete sich auf den Finanzmärkten die Modernität auf englisch zu Wort. So machte das Wall Street Journal am 5. Dezember die ersten Regierungszugeständnisse für das Fallen des Franc verantwortlich: „Jedes neue Zeichen von Schwäche wird sich sofort negativ auf den Franc auswirken. Wenn Juppé den Demonstranten nachgibt und auf die angekündigten Reformen verzichtet, dürfte es mit der Risikoprämie vorbei sein.“ Tags darauf war die Stimmung besser: „Die Märkte haben sich erholt, weil die Investoren darauf setzen, daß die Regierung Juppé aus der Kraftprobe mit den streikenden Arbeitnehmern als Sieger hervorgehen wird.“ Eine Woche später hatte sich das Klima wieder verschlechtert: „Die Äußerungen Alain Juppés wurden als ,große Zugeständnisse ohne Gegenleistung‘ gewertet und haben den Enthusiasmus der Märkte gedämpft. Die Franc- Schwäche ist eine direkte Folge des Eingreifens Juppés, der sich nicht gescheut hat, das Tabuwort ,Verhandlung‘ zu benutzen.“ Mußte man das zutiefst soziale Denken der Spekulanten noch verdeutlichen? „Erneut wird an das Beispiel der Eisernen Lady erinnert, die es verstand, die britischen Bergarbeiter zu bändigen.“8
Doch um die Streikenden mit Hilfe der Meinungsmacher zu „bändigen“, mußte der „Korporatismus“ der sozialen Bewegung bei der Mehrheit der Franzosen erst einmal auf Ablehnung stoßen. Viele Journalisten gaben ihr Bestes und berichteten in stündlicher Monotonie von „kilometerlangen Staus“, „erschöpften Benutzern“, „Lichtern der Verzweiflung auf der Stadtautobahn“ und „Unternehmen am Rand des Zusammenbruchs“. Ganz unschuldig gestand ein Journalist von France 2, wie sehr die Ereignisse die Phantasie der Redaktion beflügelt hatten: „Seit achtzehn Tagen erzählen wir Ihnen dasselbe.“
Eine Tageszeitung, die schnell Nachahmer fand, ging zu Schicksalsberichten über: „Christian, ein sechsundfünfzigjähriger Obdachloser, frißt seine Wut in sich hinein: Seit dem Streik der Verkehrsbetriebe und der Schließung der Pariser Metrostationen bleibt den von der Gesellschaft Vergessenen nur noch die Straße. Hunderte müssen wie Christian durch die Straßen streifen, um nicht zu erfrieren.“10 Wann würden sich die Arbeitslosen endlich gegen die „unsinnigen materiellen Forderungen“ der Streikenden erheben?
Die reichen Journalisten waren bedrückt, also mußten die Franzosen es ebenfalls sein: „Die Leute hasten still vorbei. Ihre Kleidung ist trist, schwarz oder grau. Man denkt an Warschau... Verstörte Fußgänger laufen mechanisch weiter, den Blick gesenkt.“11 Doch auf TF 1 versuchte Claire Chazal tapfer, uns von unserem Unglück abzulenken: „Bevor wir zum lahmgelegten Verkehr und zu der Krise kommen, in der unser Land versinkt, hier erst die gute Nachricht von einem Lottogewinner.“ Der glückliche Gewinner, „Bruno“, wurde ins Studio eingeladen.
Doch nichts half, weder „Christian“ noch „Bruno“. Hartnäckig sprachen die Umfrageergebnisse eine andere Sprache als die Märkte und Kommentatoren, und die Franzosen blieben mit denen, die den Kampf begonnen hatten, solidarisch. Die Medien mußten ihre Zustimmung zum Juppé-Plan vergessen12 und seine Gegner zu Wort kommen lassen. Meist ließ man sie im verbalen Mahlstrom der Experten und ehemaligen Minister untergehen. Alain Touraine, wohl weil er gerade ein ultraliberales Pamphlet verfaßt hatte und den Plan der Regierung unterstützte, wurde in den Medien zum Dauergast. Auch Bernard Kouchner, Alain Madelin und Dominique Strauss-Kahn fehlten in keiner Diskussionsrunde. Aber ihre Phrasen waren so abgestanden, daß sie vor den wenigen Einwürfen, die man den Akteuren der sozialen Bewegung zugestand, nicht bestehen konnten. Selbst verstümmelt vom unversiegbaren Redestrom eines Jean-Marie Cavada oder Daniel Bilalian wog das Wort eines Streikenden doch mühelos das von zehn Leitartiklern auf.
Raymond Barre hatte verkündet: „Es wird Mühen und Opfer kosten, aber die Menschen werden sich damit abfinden.“ Diesmal wurde dem „Unausweichlichen“ ausgewichen: Die Eisenbahner und die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe triumphierten über Barre und seinesgleichen. Das scheint unerheblich zu sein: „Man wird sich hieran so wenig erinnern wie an den Eisenbahnstreik von 1986“13, hat einer unserer brillantesten Kommentatoren bereits erklärt ...
dt. Andreas Knop
1 Libération, 16. November 1995, und The Times, 17. November 1995.
2 Le Figaro, 4. Dezember 1995.
3 Laut Le Nouvel Observateur, 16. November 1995. Bei TF 1 soll das Jahresgehalt von Patrick Poivre 6 Millionen Franc betragen, das von Anne Sinclair 3 Millionen.
4 TF 1, 20 Heures, 5. Dezember 1995.
5 Alain Minc, Le Figaro, 4. Dezember 1995.
6 La République du centre, Titel eines 1989 erschienenen Werks, verfaßt von François Furet, Jacques Julliard und Pierre Rosanvallon.
7 Jacques Julliard, Le Nouvel Observateur, 7. Dezember 1995. Eine der Zumutungen in dieser Zeit war zweifellos, auf Europe 1 allwöchentlich eine „Links- rechts“-Debatte zwischen den Herren Imbert und Julliard zu hören und danach ein „Face-à-face“, in dem sich Duhamel und July gegenübersaßen ... alle vier Befürworter des Juppé-Plans!
8 Les Echos, 4. Dezember 1995.
9 France 2, 12. November 1995.
10 France-Soir, 5. Dezember 1995. Während der Streiks zeigte der Parisien hingegen, wie eine gute populäre Tageszeitung aussehen könnte.
11 Bertrand de Saint Vincent, „Les regards sont tristes“, Le Figaro, 2./3. Dezember 1995.
12 Laut einer Umfrage von Ipsos-Opinion, veröffentlicht im Nouvel Observateur vom 14. Dezember 1995, bewerteten 60 Prozent der Medien den Plan des Premierministers positiv, und nur 6 Prozent übten Kritik an ihm.
13 Alain Minc, „Arrêt sur image“, La Cinquième, 9. Dezember 1995.