12.01.1996

Aserbaidschans Filmschaffen in der Krise

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Aserbaidschans Filmschaffen in der Krise

Von

GÖNÜL

DÖNMEZ-COLIN *

ASERBAIDSCHAN gehört nicht zu den kaukasischen Republiken, die für ihre Filmkunst bekannt sind. Georgien kann sich der Familie Schengelaja oder auch eines Otar Iosseliani rühmen und Armenien eines Sergej Paradschanow. Doch welcher Kinogänger kennt schon den Namen eines aserbaidschanischen Filmemachers? Die Retrospektive, die im Rahmen des siebzehnten „Festival des trois continents“ in Nantes organisiert wurde, bedeutete denn auch für eine bisher isolierte Kultur die Öffnung zur Welt.

Das Filmschaffen hat sich in Aserbaidschan im Zug des rasanten Wirtschaftsaufschwungs Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Baku erlebte seine ersten Vorführungen nur drei Jahre später als Paris. Der erste aserbaidschanische Film stammt aus dem Jahr 1916. Rasch bahnten sich volkstümliche Opern den Weg zur großen Leinwand, so etwa das populäre Stück „Handelsmann aus Liebe“ aus dem Jahr 1917. In Nantes war eine Neuverfilmung des Stoffes aus dem Jahr 1945 zu sehen, zugleich der erste Nachkriegsfilm. Reza Tachmasib und Nicolas Leschtschenko inszenieren darin die Liebesintrigen, die sich in einer exotischen Stadt mit orientalischem Charme abspielen.

Ebenfalls von Liebe handelt „Am Ufer des blauen Meeres“ aus dem Jahr 1935, der erste Tonfilm, den Boris Barnet und Samed Mardanow noch im Stil des Stummfilms inszeniert hatten. Diese Geschichte der Leidenschaft zweier Gestrandeter, des blonden Aljoscha und des dunklen Jussuf, für die Kolchosschönheit Mascha, die jedoch einen anderen liebt, atmet eine so herrliche Naivität, daß sie die dick aufgetragene politische Symbolik in den Hintergrund drängt.

Im Revolutionseifer der zwanziger und dreißiger Jahre sind solche Co-Regien recht häufig. Neben Wsewolod Pudowkin und Igor Sawtschenko kamen auch der Georgier Nikolaj Schengelaja und der Armenier Amo Bek-Nasarow nach Baku, um dem aserbaidschanischen Kino auf die Sprünge zu helfen. Mit „Das Haus auf dem Vulkan“ (1929) drehte Bek-Nasarow einen der ersten Filme, die dem multinationalen Proletariat von Baku gewidmet sind. Die jungen aserbaidschanischen Filmemacher wurden von diesen Arbeiten geprägt. In seinem Streifen „Die Bauern“, der sich 1939 mit dem zwanzig Jahre zurückliegenden Aufstand beschäftigte, führte Samed Mardanow geschickt eine neue kinematographische Sprache ein, die ganz offensichtlich von Eisenstein beeinflußt war und deren Anmut den Film davor bewahrte, reine Propaganda zu sein.

In den sechziger Jahren tendierte die Mode zu Dramen wie „Warum schweigst du?“, ein Nachdenken über Liebe, Treue und Gewissen, das Hassan Seibeili 1967 in die Form eines Roadmovies kleidete. „In dieser südlichen Stadt“ heißt ein Film Eldar Kulijews aus dem Jahr 1969; mit seinem zwischen Industriemetropole und kleinstädtisch-provinziellem Vorort hin und her gerissenen Helden markiert der Film den Bruch mit den Musikkomödien und den Propagandafilmen der Vergangenheit. Kein Wunder, daß er ernsthafte Schwierigkeiten mit der Zensur bekam...

Mit dem Auftauchen neuer, guter Drehbuchautoren wie Rustam Ibrahimbekow (Autor des Drehbuchs für Kulijews „In dieser südlichen Stadt“ sowie jüngst für Nikita Michalkows „Die Sonne, die uns täuscht“) werden in den Filmen auch neue Themen aufgegriffen: die Identitätskrise, der Konflikt zwischen alter und neuer Ordnung oder die Mißstände im gesellschaftlichen Leben (Mafia und Korruption) – was sich besonders in den Filmen „Der Landsmann“ (1987) und „Der schmerzende Milchzahn“ (1988) niederschlägt.

Nach einer Zeit der Öffnung während der Perestroika kommt die aserbaidschanische Produktion nach der Unabhängigkeitserklärung zum Stillstand, was mit dem Abbruch der Bindungen an Moskau zu tun hat. Die UdSSR gab zwar die Inhalte vor und zensierte die Produktionen, doch sicherte sie andererseits die Finanzierung und den Vertrieb der Filme. Die neue Generation von Filmemachern hat nun immerhin die Freiheit, ihre Sicht der Dinge zum Ausdruck zu bringen, doch zögert das private Kapital, in unbekannte Talente zu investieren. Ajas Salajew, dessen erster Film, „Die Fledermaus“ von 1995, in Nantes gezeigt wurde, ist einer der wenigen, die einen unabhängigen Produzenten gefunden haben – trotz der etwas ungeschickten Dialektik, mit der er das Verhältnis von Leben und Kunst thematisiert.

Seit 1994 finanziert die aserbaidschanische Regierung nun Filmprojekte, doch in unzureichendem Maße. Es gibt zwar private Produzenten, doch die Studios und die technische Ausrüstung sind noch immer in der Hand der Behörden. Ein weiteres Problem stellt die Ausbildung dar. Vormals erlernten alle Filmemacher ihr Handwerk am WGIK, dem Moskauer Institut für Kinematographie. Erst vor kurzem wurde in Aserbaidschan am Kunstinstitut eine Abteilung für Filmkunst eingerichtet.

Da es im neuen Parlament Abgeordnete gibt, die dem Kulturbereich entstammen, hoffen die Künstler nun, ihre Stimme besser zu Gehör bringen zu können. Doch es bleiben zahlreiche Hindernisse.

Zu den üblichen Schwierigkeiten jeder neugewonnenen Unabhängigkeit kommt das Chaos hinzu, das aus sieben Jahren Krieg mit Armenien herrührt. Solange das tägliche Brot die Hauptsorge ist, denken die Leute wenig ans Vergnügen. Dessenungeachtet steht Hollywood in den Startlöchern: Die Mehrzahl der siebenundachtzig Kinos von Aserbaidschan haben amerikanische Filme im Programm. Und für die Mehrheit der Bevölkerung stellt das Fernsehen die wichtigste Freizeitbeschäftigung dar – die Satellitenschüsseln wuchern auf den Dächern.

Der angrenzende Nachbar Iran verfügt über eine wirkliche Filmindustrie, und ein bedeutender Anteil seiner Bevölkerung ist aserbaidschanisch. Dennoch zeigen, von seltenen Ausnahmen abgesehen, weder Teheran noch Baku einen echten Willen zur Zusammenarbeit. „Die Schwierigkeiten hängen mit dem Glauben zusammen“, erklärt Rassim Balajew, ein aserbaidschanischer Schauspieler, der in mehreren iranischen Filmen mitgespielt hat. „Die iranischen Schauspielerinnen müssen den Tschador tragen, und man darf ihre Hand nicht berühren, ja nicht einmal an ihrer Seite gesehen werden. Deshalb verschmäht das aserbaidschanische Publikum diese Filme, die als islamistisch gelten. Auch der Iran hat kein Interesse daran, mit uns enge Verbindungen zu knüpfen. Insbesondere seit der ehemalige Präsident Eltschibej sich den Schnitzer geleistet hat, eine aserbaidschanische Wiedervereinigung nach deutschem Modell herbeizuwünschen.“ Die Zusammenarbeit mit der Türkei ist kaum stärker entwickelt, obwohl diese beiden Länder die gleiche Sprache sprechen.

Es hängt wohl mit seiner ethnischen Zusammensetzung (82,7 Prozent der Bevölkerung sind Aserbaidschaner) und seiner geographischen Lage zusammen, daß Aserbaidschan immer dazu neigt, sich zu isolieren. Selbst zur Sowjetzeit behielt die aserbaidschanische Sprache ihren Vorrang, und Schauspieler wie Rassim Balajew sprachen Russisch nicht fehlerfrei. Die Filme wurden in der Muttersprache gedreht, und die fünf Dutzend abendfüllender Filme, die Moskau jedes Jahr in die ganze Sowjetunion schickte, wurden synchronisiert.

Neuerdings spürt man das Verlangen, sich dem Westen gegenüber zu öffnen. Die Kinder sollen Fremdsprachen lernen, und die Filmemacher wollen sich im Westen einen Namen machen. In der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Situation bleibt dies allerdings ein Traum.

dt. Eveline Passet

1 Vom 21. bis zum 28. November 1995. Siehe Le Monde vom 30. November 1995.

2 Zunächst Schauspieler und später Regisseur, drehte der Russe Boris Barnet unter anderem 1930 „Okraina“, der als einer der schönsten sowjetischen Filme gilt.

3 Dieses Filmgenre, in dem die Protagonisten durchs Land reisen, häufig auf der Suche nach sich selbst, entstand in den USA. Berühmte Beispiele sind „Easy Rider“ (1969) von Dennis Hopper, „Paris Texas“ (1984) von Wim Wenders und „Stranger than Paradise“ (1984) von Jim Jarmusch.

* Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Gönül Dönmez-Colin