Gewerkschaftsbewegung Glanz und Elend der
Von
GEORGE
ROSS *
IN ihrer gegenwärtigen Form gibt es die Gewerkschaftsbewegung seit hundert Jahren. Die Bedeutung ihrer Geschichte ist unbestreitbar. Die Gewerkschaften wurden stärker, weil sie denjenigen trotzten, für die der Markt der einzige Mechanismus der ökonomischen Verteilung war. Sie haben zur Entstehung eines sozialen Staatsbürgertums beigetragen und die sozialen Absicherungen mitaufgebaut, die heute in Frage gestellt werden. Sie haben für die Humanisierung der Arbeit und für die Zivilisierung der Kapitalisten gekämpft. Sie haben an einem Gesellschaftsentwurf mitgearbeitet, der in unsere Industriestaaten den Begriff der Solidarität einführen will. Und sie haben den Gewaltherrschern die Stirn geboten.
Trotzdem steckt die Arbeiterbewegung in Europa und in den Vereinigten Staaten in einer der schlimmsten Krisen ihrer Geschichte. Um es mit den Worten von Karl Marx zu sagen, einem Freund der Arbeitswelt, der ein wenig in Vergessenheit geraten ist: Das Kapital hat tatsächlich einen bedeutenden Sieg im weltweiten Klassenkampf errungen. Die „Globalisierung“ – ein etwas unscharfer Begriff, mit dem zugleich die Ausweitung des Handels, die Liberalisierung der Finanzmärkte, der Sieg der Freihandelsideologie, die unkontrollierte Macht der multinationalen Unternehmen, die Internationalisierung des Arbeitsmarktes und die Umstrukturierung der Volkswirtschaften gemeint ist – hat die Gewerkschaften weiter geschwächt. Darüber hinaus sind die einzelnen Staaten immer weniger in der Lage, auf ihrem eigenen Staatsgebiet regelnd einzugreifen.
Sowohl die Arbeitslosigkeit in Europa als auch die in den Vereinigten Staaten verfolgte Niedriglohnstrategie haben die gewerkschaftlichen Anstrengungen untergraben, ihre Mitglieder zu schützen und neue zu gewinnen. Zusätzlich zur Privatisierungswelle im öffentlichen Dienst haben neue Haushaltszwänge die Gewerkschaften in den Bereichen bedroht, in denen sie am stärksten waren, und den Begriff des „öffentlichen Dienstes“ selbst in Frage gestellt. Mit dem Argument der „Flexibilität“ haben die Arbeitgeber vorrangig Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene abgeschlossen, womit sie den Einfluß der Gewerkschaften in den einzelnen Wirtschaftszweigen und im ganzen Land zurückdrängen konnten.
Die Gewerkschaften mußten aber auch feststellen, daß die geschwächten Linksparteien immer weniger dazu bereit waren, Arbeitnehmerrechte zu verteidigen. Die Ideologie der Marktwirtschaft besetzt gegenwärtig die entscheidenden Bereiche der Politik, und zwar auch dann, wenn die neoliberalen Parteien nicht an der Macht sind. Die Medien haben das Ihre dazu getan, daß an die Stelle der Legitimität, die man den Gewerkschaften als den Sprechern der kleinen Leute früher zusprach, nun das wenig schmeichelhafte Bild vom Verteidiger von „Gruppeninteressen“ getreten ist. Damit hat die Arbeiterbewegung sowohl ihre früher fast uneingeschränkte Macht als auch die Legitimation verloren, den Fortschritt zu definieren.
Fast überall hat die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder und der Grad ihrer Mobilisierung bei Streiks und Demonstrationen abgenommen. Vergleicht man jedoch die einzelnen Länder, dann werden große Unterschiede im Grad der gewerkschaftlichen Organisierung sichtbar (prozentualer Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Gesamtzahl der Beschäftigten – siehe Tabelle auf der nächsten Seite). Ein Rückgang ist überall festzustellen, auch wenn dieser, abgesehen von Großbritannien, in jenen Ländern weniger stark war, die vor zwanzig Jahren über eine starke Gewerkschaftsbewegung verfügten.1
Nicht in allen Ländern ist die Lage gleich düster. In Deutschland zum Beispiel hat sich die Gewerkschaftsbewegung gut gehalten. Es ist ihr sogar gelungen, die Folgen der Wiedervereinigung zu bewältigen. Bei ihrem Vorgehen spielt die Mitbestimmung eine wichtige Rolle, wodurch die Gewerkschaften für die Arbeitgeber nützlich geworden sind. So ist es ihnen gelungen, die hohen Löhne zu verteidigen, aber zugleich haben sie versucht, die Beschäftigten zu einer Erhöhung der Produktivität, einer Verbesserung der Arbeitsorganisation und stärkerer Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien zu bewegen. Obwohl ihre Stärke in den Großunternehmen liegt, konnten sie die hohen Löhne auch in den kleinen Unternehmen durchsetzen. Diese Verpflichtung verhinderte, daß die Löhne zu einem wettbewerbsträchtigen Parameter wurden, und bewahrte somit die großen Unternehmen vor einem Sozialdumping durch die kleinen. Darüber hinaus wurden die kleinen Unternehmen veranlaßt, zu investieren und zu modernisieren.2
Zunehmende Schwierigkeiten
SOLANGE dieses System erhalten bleibt, wird die deutsche Gewerkschaftsbewegung ihre Macht bewahren können. Aber in den gesellschaftlichen Beziehungen ist das Schicksal der Arbeitnehmer so eng mit dem der Arbeitgeber verknüpft, daß ein Rückgang der Produktivität des Landes oder eine Arbeitgeberstrategie der Produktionsverlagerung nach Osten auf die gesamte deutsche Arbeiterbewegung zurückfallen würde. Und wenn die enge Zusammenarbeit zwischen Großunternehmen und Gewerkschaften die kleinen und mittleren Unternehmen nicht mehr dazu zwingen würde, ihren Beschäftigten ebenfalls hohe Löhne zu zahlen, dann geriete das gegenwärtige Gleichgewicht umgehend ins Wanken. Auch eine stärkere Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben würde, zumindest in der ersten Zeit, kaum eine Unterstützung für eine Arbeiterbewegung bedeuten, die auch weiterhin von Männern beherrscht wird.
Auch den italienischen Gewerkschaften, die nach den deutschen Tugenden und Vorteilen streben, ist es relativ gut gelungen, auf Distanz zu den politischen Organisationen zu gehen und die schädlichsten Auswirkungen des gewerkschaftlichen Pluralismus im Zaume zu halten. Die Rahmenbedingungen sind in Italien aber viel weniger gefestigt als in Deutschland. Die Maastrichter Konvergenzkriterien und die daraus folgenden strengen Sparvorgaben für den Staatshaushalt führen gezwungenermaßen zu einer Überprüfung der Aufgaben des öffentlichen Sektors und damit des Bereichs, in dem die Gewerkschaften am stärksten vertreten sind.
Das beste Beispiel für die Macht der Gewerkschaften war Schweden. Jeder gehörte einer Gewerkschaft an und profitierte davon. Das gesamte System kreiste um die für das ganze Land ausgehandelte Politik der Lohnsolidarität. Sie garantierte hohe Löhne, die aber die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht in Frage stellten, förderte Produktivinvestitionen und Vollbeschäftigung und finanzierte eine aktive Ausbildungspolitik und den am besten ausgestatteten Wohlfahrtsstaat der Welt.
Seit dem Ende der achtziger Jahre nahmen die Schwierigkeiten zu. Die schwedischen multinationalen Unternehmen haben den Gewerkschaften und den politisch Verantwortlichen mit Produktionsverlagerungen in andere Teile Europas gedroht und so die Lohnsolidarität zerschlagen. Die Arbeiterbewegung wurde uneins, und die Beschäftigten der Großunternehmen stehen in Konfrontation zu den übrigen Beschäftigten, insbesondere denen des öffentlichen Sektors. Die Arbeitslosigkeit entspricht inzwischen fast dem europäischen Durchschnitt.
Auch die enge Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratischer Partei gehört der Vergangenheit an: Der Zustand der öffentlichen Finanzen und die notwendige Integration in die Europäische Union haben die Sozialdemokraten zu Einschnitten bei den Sozialleistungen veranlaßt. Durch diese Einsparungen sind Löhne und Arbeitsplätze in einem gesellschaftlichen Bereich bedroht, in dem vor allem Frauen beschäftigt sind.
Trotzdem ist es mit der besonderen Rolle und der Macht der schwedischen Gewerkschaften noch nicht völlig vorbei. Es werden langsam Strategien entwickelt, die eine größere Differenzierung bei den Löhnen, eine Ausweitung der Bildungsmaßnahmen und des Job-sharing ermöglichen und eine größere Mobilität mit einer Verminderung der Arbeitslosigkeit verbinden könnten. Aber für diese neue Form der Solidarität gibt es mehrere Hindernisse: Die Arbeitnehmer der multinationalen Unternehmen versuchen hauptsächlich, ihre Vorteile auszubauen, und die Folgen der Haushaltseinsparungen hätten vor allem die Frauen zu tragen. Zudem können die Gewerkschaften weder auf die bedingungslose Unterstützung der Sozialdemokraten noch auf das Wohlwollen des Staatsapparates zählen, wenn sie Hilfe für die Verwirklichung ihrer Strategie bekommen wollen.
Die Schweden sind freilich zu beneiden, wenn man an das Schicksal der britischen Gewerkschaften denkt, das zweifellos das tragischste von allen ist: Diese alte, mächtige Bewegung mit enger Bindung an die Arbeiterpartei wurde fast völlig zerschlagen. Zwar hat die ausgeprägte Dezentralisierung der Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien eine Logik gefördert, die gleichermaßen arbeiter- wie inflationsorientiert war und zu den Problemen der Industrie und der Arbeiterpartei beitrug. Aber Margaret Thatcher zerstörte systematisch die rechtlichen Grundlagen der britischen Gewerkschaftsbewegung. Ihre liberale und monetaristische Politik, die die Finanzwelt und nicht die Industrie, die ausländischen Investoren und nicht die britischen Unternehmen förderte3, hat jenen Bereichen der Wirtschaft das Rückgrat gebrochen, in denen die Gewerkschaften besonders stark waren.
Diese haben später versucht, eine Wüstenlandschaft wieder aufzuforsten, die Gewerkschaften einzelner Branchen zu größeren und mächtigeren Organisationen zusammenzufassen, einen weniger konfliktbeladenen Umgang mit den Arbeitgebern zu entwickeln und die Frauen ebenso zu organisieren wie die Beschäftigten im Dienstleistungs- und in den anderen Bereichen, die die Gewerkschaften bisher vernachlässigt hatten. Aber die neuen Investoren, allen voran die japanischen, wollen vor allem gefügige Arbeiterorganisationen, oder am besten gar keine. Daneben hält auch die rechtliche und politische Einschüchterungskampagne, die von den arbeitgeberfreundlichen Medien getragen wird, weiter an.4
Es ist nicht einmal damit zu rechnen, daß der voraussehbare politische Wechsel viel ändern wird: Die Gewerkschaften setzen kaum noch Vertrauen in die Arbeiterpartei, die sich wiederum nach Kräften bemüht, dieses Mißtrauen zu rechtfertigen.5 Den wirtschaftlich geschwächten Gewerkschaften, die ohne einen Verbündeten dastehen, bleibt nur noch die Hoffnung auf die „soziale Dimension“ des neuen Europa und der Kampf für eine verfassungsmäßige Garantie der Arbeiterrechte. Die Arbeiterbewegung, die vor allem in „insularen“ Kategorien dachte und auf das Abschließen von Verträgen fixiert war, hat eine zweifache Kehrtwendung vollzogen, an der sich die Misere der Situation nur zu gut ablesen läßt.
In Frankreich hat das Ausmaß der November- und Dezemberstreiks 1995 gezeigt, daß einige Kommentatoren den Gewerkschaften wohl doch zu schnell den Totenschein ausgestellt hatten. Dabei hatte die Arbeiterbewegung drei Schläge einstecken müssen: Der erste war das Verhalten der Linken, auf deren Unterstützung die französische Gewerkschaftsbewegung sich zu sehr verlassen hatte. Während die Kommunisten durch ungeschickte Manöver immer mehr ins Abseits drifteten, haben die Sozialisten der Göttin „Modernisierung“ Arbeitnehmer, Arbeiterbewegung und soziale Kämpfe geopfert.
Die Ausrichtung der Gewerkschaften auf den Staat war die Ursache des zweiten Schlags. Von einer Generation zur anderen haben die Gewerkschaften die Erwartung weitergegeben, daß der Staat gegen die Willkür der Unternehmer die Lösungen bereitstellen würde, die die Gewerkschaften mit ihren Kämpfen nicht erzwingen konnten. Durch diesen Versuch, auf dem Gebiet der Politik ihre eigene Schwäche auszugleichen, sind sie noch schwächer geworden. Schließlich opferten sie ihre aktive Präsenz in den Unternehmen für eine Beteiligung an den vielen vom Gesetzgeber vorgesehenen Vertretungsinstanzen und beschränkten sich damit auf eine halboffizielle und fast berufsständische Rolle in der Verwaltung der neuen Institutionen (Betriebsrat, innerbetriebliche Wahlen und Gesprächsrunden, paritätische Mitbestimmung), die großenteils bei der Regierungsübernahme der Linken zugestanden worden waren.
Den dritten und vielleicht schwersten Schlag haben sich die Gewerkschaften selbst zugefügt, indem sie die selbstmörderischen Rivalitäten zwischen den verschiedenen Organisationen weiter angeheizt haben. Im Falle Frankreichs sind die Vorteile des „gewerkschaftlichen Pluralismus“, auf den die Gewerkschaften so stolz sind, für den einzelnen Beschäftigten kaum erkennbar. Wenn man von einigen Übergangsperioden gewerkschaftlicher Einheit (beispielsweise der Aktionseinheit von CGT und CFDT am Ende der sechziger und in den siebziger Jahren) absieht, haben die anhaltenden Rivalitäten dazu geführt, daß die großen französischen Gewerkschaften mehr Energie darauf verwenden, sich gegenseitig zu bekämpfen, als gemeinsam für die Erfolge der Beschäftigten zu arbeiten.
Neue Strategien nötig
DIE Protestbewegung vom Herbst 1995 ist dennoch die erste wichtige Revolte gegen die „Globalisierung“, gegen die Maastrichter Konvergenzkriterien und das damit verbundene „Einheitsdenken“. Die Ungeduld der Arbeiter und Studenten angesichts der Spar- und Arbeitslosigkeitspolitik hat auf wundersame Weise eine Annäherung der großen Gewerkschaften bewirkt. Der ungewohnte Anblick der Beschäftigten des Privatsektors, die ihre Kollegen aus dem öffentlichen Dienst unterstützten und sich damit der Isolationsstrategie der Regierung gegenüber den Streikenden verweigerten, war ein deutliches Zeichen für das Ausmaß der allgemeinen Unzufriedenheit. Die Gewerkschaften haben während dieser Auseinandersetzungen der Verweigerung und der Rebellion bestenfalls zum Ausdruck verholfen. Man sollte aber nicht vergessen, daß die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung reich an solchen Protestbewegungen ist, die die Gewerkschaften nicht ausgelöst haben, denen sie sich aber gezwungenermaßen anschlossen. Oft folgt auf die Empörung ein Dämmerzustand, der die Beschäftigten äußerst verwundbar macht.
Die Gewerkschaftsbewegung kann aus den vergangenen hundert Jahren vor allem die Lehre ziehen, daß die organische Verbindung zwischen Gewerkschaften und Linksparteien nicht mehr die Hoffnungen derjenigen verkörpert, die das kapitalistische System verändern wollen. Neben der wirtschaftlichen Globalisierung haben die politischen Veränderungen in jedem einzelnen Land die Verbündeten der Vergangenheit zu unsicheren Kantonisten gemacht. Auch wenn die Linksparteien immer noch reformorientiert sind, so werden sie ihr Vorgehen doch weniger als in der Vergangenheit an den Prioritäten der Arbeitswelt ausrichten. Das Heil der Gewerkschaften liegt in einem Ausbau ihrer eigenen Macht.
Die Gewerkschaften müssen ferner eingestehen, daß sie sich nicht mehr als die Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen mit dem größten Bewußtsein bezeichnen dürfen. Ein solcher Titel will verdient sein. Es gibt viele Gruppierungen außerhalb der Arbeiterorganisationen, die fortschrittliche Forderungen artikulieren, die mit denen der Gewerkschaften entweder nicht übereinstimmen oder ihnen sogar widersprechen.
Im übrigen ist nicht zu übersehen, daß auch Arbeiter und ihre Organisationen anfällig sind für die Versuchungen einer kleinbürgerlich-populistischen Ideologie, der Fremdenfeindlichkeit oder des Rassismus. Dieser Versuchung wird wohl am leichtesten widerstanden, indem man sich stärker den Frauen öffnet, die mühsam die Doppelbelastung Arbeit und Familie tragen, den Jugendlichen, denen der Übergang von der Ausbildung zum Beruf nicht gelingt, rassischen und ethnischen Minderheiten, die Opfer vielfältiger Diskriminierung sind, Langzeitarbeitslosen, die mit voller Härte vom Verschwinden der mittelmäßig qualifizierten Arbeitsplätze betroffen sind, und der Mittelschicht, der man die Illusion von einem freien und selbstbestimmten Leben geraubt hat.
Und schließlich müssen sich die Gewerkschaften mit der immensen Gefahr der wirtschaftlichen Globalisierung auseinandersetzen. Natürlich behaupten die Meinungsmacher, daß diese den Spielraum der Regierungen so weit eingeengt habe, daß außer dem seltsamen Vergnügen, sich im Meer der Handelsströme treiben zu lassen, nichts mehr geblieben sei. Solche Äußerungen dienen zwar zuerst einmal ihren Urhebern, dennoch haben bereits sichtbare Veränderungen mit beträchtlichen Konsequenzen stattgefunden. Doch ist immer noch genügend Handlungsraum vorhanden.
So müßte zum Beispiel die kreative Verteidigung des öffentlichen Dienstes und seine Demokratisierung in Angriff genommen werden. Ferner könnten die Gewerkschaften vom Staat und den Arbeitgebern eine aktivere Ausbildungspolitik einfordern. Weil man von der Mobilität sprechen muß, könnte diese als Argument für eine Ausbildung dienen, die das ganze Leben andauert. Und wenn man ständig von den „Zwängen“ spricht, die aus der „Globalisierung“ herrühren, dann sollte die Arbeiterbewegung unablässig daran erinnern, daß einige dieser „Zwänge“ nicht auf die unsichtbare Hand des Marktes zurückzuführen sind, sondern aus bewußten Entscheidungen der politischen Eliten resultieren. Die im Maastrichter Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien sind nicht vom Himmel gefallen, sondern stehen für die siegreichen Prioritäten der deutschen Unterhändler.
Die Gewerkschaften, denen eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit noch relativ fremd ist, stehen der Globalisierung und dem Drang zu immer größerer Wettbewerbsfähigkeit etwas unvorbereitet gegenüber. Da ihre Ressourcen in erster Linie lokaler Art sind, schien es logisch, sie auch erst einmal dort einzusetzen. In Zukunft wird es aber falsch sein, ausschließlich an dieser Strategie festzuhalten. Innerhalb der Europäischen Union kann man – vor allem dank des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) – die ersten Anzeichen für einen gewissen Internationalismus der Gewerkschaften entdecken. Die neue Richtlinie über die europäischen Betriebsräte und die Unterzeichnung eines ersten europäischen Tarifvertrages über den Elternschaftsurlaub zeigen, daß die internationale Solidarität ein nützliches Pendant zur Mobilisierung auf Landesebene sein kann. Die Schwäche des EGB und die Bemühungen um ein Gleichgewicht zwischen seinen einzelnen Mitgliedern zwingen die nationalen Gewerkschaften trotzdem dazu, beim Kampf für eine Veränderung der Maastrichter Kriterien die Führung zu übernehmen.
Noch viel wichtiger wird langfristig eine gewerkschaftliche Zusammenarbeit zwischen Norden und Süden sein, die es aber heute noch nicht gibt. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Arbeiter aus anderen als den westlichen Ländern, die Durchsetzung von internationalen Mindeststandards auf den Gebieten Umweltschutz, Gesundheit und Sicherheit sowie die Bereitstellung finanzieller und technischer Hilfe für die ärmsten Gewerkschaften sind Ziele, die gut zur Geschichte der westlichen Arbeiterorganisationen passen würden.
Es ist bei einigen Linksintellektuellen Mode geworden, Gewerkschaftsbewegung mit Rückwärtsgewandtheit gleichzusetzen. Diese Äußerungen haben ihren Preis, denn ohne die Gewerkschaften wird sich das amerikanische Modell überall durchsetzen. Und damit werden die einzelnen immer stärker dem Diktat der Märkte ausgesetzt sein.
dt. Christian Voigt
1 Vgl. Anthony Ferner und Richard Hyman, „Industrial Relation in the New Europe“, Oxford (Blackwell), 1992.
2 Zum Gegenbeispiel Großbritannien siehe Jonathan Michie, „Wenn niedrige Löhne der Wettbewerbsfähigkeit schaden“, Le Monde diplomatique (dt.), September 1995.
3 Vgl. Richard Farnetti, „L'Economie britannique et les Multinationales“, Paris (Syros), 1995.
4 Vgl. zum Beispiel Seumas Milne, „The Enemy Within. MI 5, Maxwell and the Scargill Affair“, London (Verso), 1994.
5 Vgl. François Poirier, „Labours Hommage an die Eiserne Lady“, Le Monde diplomatique (dt.), September 1995.
* Professor an der Brandeis University (USA); Mitverfasser von „Constraints and Strategies. European Unions in the Maelstrom of Globalization“ (erscheint demnächst).