12.01.1996

Gut geschmierte Getriebe im großen Kasino der Welt

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Gut geschmierte Getriebe im großen Kasino der Welt

IST Folklore das richtige Wort? Oder sind es Monarchien im Miniaturformat, wo die Touristen mit ihren Fotoapparaten herumspielen? Die über Westeuropa verstreuten Kleinstaaten haben sich in kurzer Zeit in Off-shore-Finanzparadiese verwandelt, in denen man bewußt auf Kontrollen verzichtet. Es wäre trotzdem falsch, wenn man in ihnen nur Standorte für die Briefkästen dunkler Geschäftemacher sehen wollte. Diese Staaten haben nämlich eine Geschichte und eine Kultur, die aber Gefahr laufen, von den weltweit zirkulierenden Kapitalströmen hinweggespült zu werden.

Von unserem Sonderkorrespondenten JEAN CHESNEAUX *

Die Isle of Man, die genau zwischen England und Irland liegt, blickt voller Stolz auf ihr Tynwald Court. Dieses älteste Parlament der Welt leitet sich direkt von der Volksversammlung her, die die wikingischen Eroberer im Jahre 979 abgehalten haben. Aber die Bewohner sind ebenso stolz darauf, daß ihr Land „in Europa die Nummer eins unter den Off- shore-Finanzplätzen“1 ist. Der Begriff Off-shore stammt aus dem Bereich der Erdölprospektion und bedeutet wörtlich „von der Küste entfernt“. Inzwischen steht er für alle „nicht ortsgebundenen“ Finanzgeschäfte, die außerhalb ihrer eigentlichen, „natürlichen“, Einflußsphäre getätigt werden. Auf der Insel Man gibt es von diesen Unternehmen etwa dreißigtausend. Altertümliche Politik und ungebremste Spekulation harmonieren auf dieser kleinen keltischen Insel bestens miteinander. Streng genommen gehört Man nicht zu Großbritannien, leistet jedoch formal Elisabeth II. Gefolgschaft, die den Titel eines Lord of Man führt.

Wenn der Besucher mit dem Katamaran der Isle of Man Steam Packet Co. – die ihrerseits damit renommiert, die älteste Dampfschiffahrtsgesellschaft der Welt zu sein – auf der Insel ankommt, dann staunt er zunächst über das enorme touristische Treiben. Die von geduldigen Stuten gezogenen Straßenbahnen in der Hauptstadt Douglas fahren an den Hotels aus viktorianischer Zeit vorbei, die wie aufgereiht an der Uferpromenade liegen. Busse verkehren zwischen den Sehenswürdigkeiten, die vom Manx2 National Heritage sorgsam gepflegt werden. Mit vier Eisenbahnlinien im Dampf- oder Elektrobetrieb, die seit dem 19. Jahrhundert ununterbrochen im Einsatz sind, ist die Isle of Man ein Eisenbahnmuseum in Lebensgröße, in dem die Erwachsenen ihre verloren geglaubten Kindheitserinnerungen wiederfinden: Die Lokomotiven pfeifen, die Glasscheiben der Türen kann man nach Belieben rauf- und runterkurbeln, man lauscht dem rhythmischen Geräusch der Räder, und die Fahrkarten werden an einer hölzernen Sperre geknipst. Das Kasino der Insel ist seit seiner Eröffnung im Jahre 1906 immer voll.

Der – aus Prinzip – weniger sichtbare Off-shore-Sektor hat sich auf die Anhöhen über der Stadt zurückgezogen. In der Atholl Street findet man an jeder Tür eine Vielzahl von brass plate companies wie zum Beispiel die Caimanx (!) Trust Co. Hier ist „Off-shore“ zu Hause und „schildert“ seine vielfältigen Aktivitäten: fiktive Niederlassungen von Unternehmen, die das entgegenkommende Steuersystem angelockt hat. Es genügt, eine kleine Anzeige in den Wirtschaftsteil des Isle of Man Examiner zu setzen, und schon darf man nach Belieben tätig werden.3 Schiffe können unter der (Billig-)Flagge der Isle of Man registriert werden; es gibt Versicherungsgesellschaften, Off-shore-Banken im eigentlichen Sinn, Vermögensverwaltung und Wertpapierhandel an der Börse; Förderung von Kongressen und Arbeitstagungen. Darüber hinaus steht noch die in der Nähe des Flughafens gelegene Freizone von Ronaldsway zur Verfügung. Und nachdem man Elf und Marathon Gebiete zur Erdölprospektion zugeteilt hat, könnte bald auch Erdöl gefördert werden. Der International Business Act aus dem Jahre 1994 hat die Steuervorteile für Unternehmen weiter ausgebaut: Sie müssen nur noch die Gebühren für ihre Eintragung (filing fee) in Höhe von 32 Pfund bezahlen. Die 1983 eingerichtete Finanzkontrollkommission, die die Interessen der Investoren verteidigen soll, gibt sich sehr verständnisvoll, von Strenge keine Spur ...

Eine sehr weitgehende Autonomie

DER gesamte Finanzsektor trägt nach offiziellen Angaben 35 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Insel bei. In Wirklichkeit, so erklärt der Finanzexperte des Examiner, liegt dieser Anteil bei 50 Prozent, wenn man die ihm angeschlossenen Bereiche hinzurechnet. 1969 waren es noch 12 Prozent, gegenüber 22 Prozent von seiten der Industrie (gegenwärtig 12 Prozent), 16 Prozent (heute nur noch 6 Prozent) im Tourismus und 5 Prozent in Landwirtschaft und Fischerei, die heute nur noch bei 1,8 Prozent liegen. Der Aufschwung kam erst in jüngster Zeit: Zwischen 1981 und 1991 hat sich die Zahl der Beschäftigten im Off-shore-Bereich verdoppelt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei nur 4,5 Prozent und geht weiter zurück. Die Politik der Inselregierung fördert diese Entwicklung mit Nachdruck, denn man schreibt ihr eine „Lokomotivfunktion“ für die Wirtschaft der Insel zu. Gleichzeitig nimmt aber der prozentuale Bevölkerungsanteil der auf der Insel geborenen Manx ab, während der der Come over, der Zuwanderer, wächst. Die Manx sind zu einer Minderheit auf ihrer eigenen Insel geworden.

So scheint die Finanzspekulation eine tausendjährige Identität zu zerstören. Im 19. Jahrhundert hatte sich die Inselwirtschaft in erstaunlichem Maße diversifiziert: Zu Milchwirtschaft, Fischerei und Getreideanbau gesellten sich der Bergbau (die Insel Man lieferte bis zu 50 Prozent des in Großbritannien verbrauchten Zinks), der Schiffbau, die Textilwirtschaft und an die hundert Brauereien. Selbst wenn weiterhin die würzigen kippers (die landestypischen sauren Heringe) angeboten werden, schwindet die Erinnerung an den „Gesang der Fischer von der Insel Man“, den Malcolm Lowry aufgezeichnet hatte4. Im Zuge einer seltsamen Wiedergutmachung versucht sich die Identität der keltischen Kultur zu behaupten. Überall sieht man die rote Flagge mit dem sonderbaren dreibeinigen Symbol wehen. Seit den siebziger Jahren hat die Insel eine eigene Post und eine eigene Währung. An den Straßen und Amtsgebäuden mögen die zweisprachigen Schilder (Englisch/ Manx) etwas gezwungen wirken, aber die neue Blüte des Manx-Studiums gibt es wirklich: 1200 Schüler haben sich für Manx als Wahlfach entschieden.

Dennoch bestimmt das Off-shore-Finanzwesen die Zukunft der Insel, und Brüssel läßt den Dingen ihren Lauf. Als Großbritannien 1973 in die Gemeinschaft eintrat, hatte die Isle of Man beschlossen, nicht mitzuziehen. Möglich war dies durch den besonderen Status, der 1958 im Isle of Man Act festgelegt worden war. Selbst wenn die Insel innerhalb des britischen Zollgebiets liegt, finden die europäischen Richtlinien dort keine Anwendung. Nicht zufällig hat der Off-shore- Bereich seine Blüte in den deregulierungswütigen Thatcher-Jahren erlebt. Auf der Insel selbst ist man mit dieser Entwicklung eher zufrieden, als daß man über sie beunruhigt wäre. Nirgendwo im Land, nicht einmal im Tynwald, wird darüber eine politische Debatte geführt. Selbst die Mitglieder der Unabhängigkeitsbewegung Meg Vannin (die Söhne von Man) sind, wie es einer ihrer Führer sagt, dazu bereit, „sich mit den Teufeln [der internationalen Finanzwelt] an einen Tisch zu setzen“, um die Bindung an London zu lockern und die europäische Karte auszuspielen. Sie sorgen sich anscheinend nicht um die negativen Auswirkungen einer kulturellen Nivellierung, die die über die Insel hereinbrechenden Off-shore-Aktivitäten früher oder später nach sich ziehen werden. Andere aber – ein bedeutender Unternehmer etwa, der früher im Tynwald saß – sind beunruhigt. Sie wünschen die Einrichtung sogenannter gates: Zugangskontrollen, die helfen sollen, die ursprünglichen sozioökonomischen Strukturen der Insel zu bewahren.

Der Gegensatz zwischen separatistischen Strukturen und moderner Finanzwelt, die Unfähigkeit der Europäischen Kommission, letztere zu kontrollieren, der schleichende Untergang der einheimischen Wirtschaft, aber auch die – vielleicht künstliche – Sorge um die Beibehaltung der besonderen Kultur: all diese Probleme sind typisch für die Situation auf Man, sie stellen sich aber auch für acht weitere westeuropäische Kleinstaaten.5 Wie die Isle of Man sind auch sie durch ihre geopolitische Randlage und durch ihre besonderen politischen Institutionen charakterisiert. Die Kanalinseln Jersey, Guernsey und Alderney mit ihrer je eigenen mittelalterlichen „Ständeordnung“, ihren Bailiffs und Seneschallen sind ein letztes Überbleibsel des alten Herzogtums Normandie.6 Auch ihre Anbindung an London beruht auf dem freiwilligen Gehorsam, den sie der Königin leisten. Die kleine Gruppe der Faröer-Inseln (17 sind bewohnt, 1400 Quadratkilometer Fläche) steht seit 1380 unter dänischer Hoheit. Das Løgting (Parlament) hat sich aber eine weitreichende politische Macht bewahrt. Vielleicht weil sie mitten im Gebirge liegen, scheint die Geschichte am Fürstentum Liechtenstein, an der „Serenissima Repubblica di San Marino“ und am Fürstentum Andorra vorbeigezogen zu sein. Liechtenstein hat als einzige der kleinen deutschen Monarchien überlebt; mit seinen Capitani Reggenti ist San Marino die letzte der italienischen Stadtrepubliken des Mittelalters, und Andorra bewahrt das Gemeinschaftsstatut der kleinen Hirtengemeinden, die sich nach 1278 unter den Schutz ihrer zwei „Co-Fürsten“, des katalanischen Bischofs von Urgel und des Grafen von Foix, gestellt haben. Nachfolger des letztgenannten wurde später der König von Frankreich und danach der französische Staatspräsident. Das Fürstentum Monaco und die britische Kolonie Gibraltar, die beide in Felsen verschanzt liegen, sind traditionelle Festungen des Mittelmeers. Der Vatikanstaat hat nach den Lateranverträgen des Jahres 1929 die uralte weltliche Macht des Papstes zu neuem Leben erweckt.

Die Faröer, die anglonormannischen Kanalinseln und Gibraltar sind weitgehend autonom, während die fünf anderen Länder praktisch unabhängige Staaten sind. Dies gilt auch für Liechtenstein, das lange Zeit als ein Anhängsel der Schweiz galt, mit der es in einer Zoll-, Post- und Währungsunion verbunden ist, und für Monaco, das sich per Vertrag der „schützenden Freundschaft“ Frankreichs unterstellt hat. In einigen dieser ehrwürdigen Staaten ist das politische Leben eher beschränkt. Aber bei den Wahlen zum House of Assembly in Gibraltar, zum Consiglio Grande e Generale von San Marino, zum Landtag von Liechtenstein und zum Løgting auf den Faröer-Inseln konkurrieren echte politische Parteien um wirkliche Machtbeteiligung.

In Gibraltar streiten schon seit langer Zeit Sozialisten, Arbeiterpartei und Konservative über den Status quo, über die Erweiterung der Autonomie und über die Annäherung an Spanien. Der Erfolg der Grünen hat vor kurzem das gewohnte Zusammenspiel der beiden traditionellen Parteien Liechtensteins miteinander beendet. Zum Schrecken der Nato waren die mit den Sozialisten verbündeten Kommunisten seit dem Zweiten Weltkrieg in San Marino schon zweimal an der Regierung. Dabei hatten sich die bäuerlichen Staatsbürger dort nur von der politischen Kultur der angrenzenden „roten Emilia“ beeinflussen lassen. Auf den Faröer-Inseln bilden die Beziehungen zum dänischen Staat den Anlaß für harte Auseinandersetzungen zwischen den acht sehr aktiven Parteien der winzigen Inselgruppe.

Sowenig wie die Insel Man haben sich die anderen Kleinstaaten durch die ihre geringe räumliche Ausdehnung, durch ihre geographische Randlage oder ihre altertümlichen politischen Statuten daran hindern lassen, sich im großen Kasino der Welt als hyperaktive Getriebe zu präsentieren – ganz im Gegenteil. Die Faröer und San Marino bilden allerdings Ausnahmen. Auf der Inselgruppe sind der Fischfang und die damit verbundenen Wirtschaftszweige noch immer bestimmend. Der Kultur der Faröer haftet deshalb ein Hauch von Barbarei an, der nicht nur Umweltschützer mit Schrecken erfüllt: Jedes Jahr ist die große Walschlacht Anlaß für Feste, bei denen die ganze Inselbevölkerung in dem vom Blut geröteten Meerwasser badet. Für das Off-shore-Geschäft sind die Faröer wohl noch nicht bereit... In San Marino hat der politische Weitblick des Grande Consiglio und der Capitani Reggenti die Republik ganz bewußt nicht für spekulative Geschäfte geöffnet, wenn man einmal von der Prägung und dem Verkauf von Goldmünzen für Sammler absieht.

Im Gegensatz dazu hat das Vorbild der Isle of Man recht treue Nachahmer in den anderen autonomen Gebieten Gibraltar, den Kanalinseln, Liechtenstein, Andorra und Monaco gefunden. Die Finanzgeschäfte des Heiligen Stuhls, so der offizielle Name des Vatikanstaats, erscheinen ihrerseits als eine etwas sonderbare kirchliche Variante des Steuerparadieses. Das Abgaben- und Steuersystem ist überall wohlwollend bis nachlässig, wovon Sport- und Filmstars, die Steuerprobleme in ihrer Heimat haben, ungestraft profitieren. Die Ansiedlung von Schein- oder anderen Firmen aller Art ist weder in Liechtenstein noch in Monaco ein Problem, und in Andorra lassen sich die strengeren Gesetze durch Einschaltung eines örtlichen Strohmanns umgehen7.

In Gibraltar bietet das neunstöckige Gebäude des International Commerce Centre – aus Mangel an bebaubarer Fläche hier in der Vertikalen – was die Atholl Street auf der Insel Man in der Horizontalen bot, nämlich eine reiche Auswahl an Messingschildern. Die Off-shore-Finanzinstitutionen florieren auf Jersey und in Liechtenstein unter Wahrung des „hundertprozentigen Bankgeheimnisses“.8

Häufig werden die „Pfuinanzen“ (Alfred Jarry) der Einfachheit halber von mit dem Staat verbundenen Ad-hoc-Einrichtungen kontrolliert. Beispiele hierfür sind die Liechtenstein Stiftung, (eine Einrichtung, die das riesige Vermögen des Fürstenhauses verwaltet), die monegassische Seebädergesellschaft (SBM), die dem „Palast“ nahesteht, und das Institut für religiöse Werke (IOR) im Vatikanstaat.

Darüber hinaus sind diese Inseln und Enklaven in viel stärkerem Maße als die Isle of Man zu Lagern für Konsumgüter geworden, zu riesigen zollfreien Gebieten, die von alkoholischen Getränken, Audio-/Videogeräten, Schmuck und Kleidung überquellen. Im Sommer steht man an den Eingängen Andorras ebenso Schlange wie am spanischen Grenzkontrollposten der Linea de la Concepción in Richtung Gibraltar, dessen Main Street sich als richtiges kleines Hongkong erweist. Doch der Konsumtourismus verschmäht auch keineswegs die alte Burg in Liechtenstein, die mittelalterlichen Türme von San Marino oder Victor Hugos Felsen auf Guernsey und schon gar nicht „Gibraltar mit seinen alten Festungsanlagen“, wohin der Busfahrer in Quéneaus „Zazie in der Metro“ seine gehorsamen Fahrgäste bringen wollte. Nicht zu vergessen die Kasinos von Monaco und Jersey und daß diese Kleinstaaten Paradiese für Briefmarkensammler darstellen.

Angesichts dieser vielfältigen Geschäftemacherei überrascht es nicht, daß es auf dem Arbeitsmarkt alles andere als schlecht aussieht, wobei Liechtenstein mit einer offiziellen Arbeitslosenquote von 0,01 Prozent jedoch einen Extremfall darstellt. Überall werden Leute eingestellt: in Gibraltar auch Bewohner aus den Mittelmeerländern und Marokkaner, in Liechtenstein Schweizer, Briten auf Jersey und Spanier in Andorra. Der Anteil der „Ausländer“ liegt in Liechtenstein bei 35 Prozent, in Andorra bei 80 Prozent und in Monaco möglicherweise sogar höher.

Verschwiegene Rückzugsorte

WIE auf Man zerstört der Off-shore- Bereich überall nach und nach das althergebrachte Wirtschaftsgefüge. Mit ihren berühmten Strickwaren, dem Treibhausgemüse und den Schnittblumen halten Jersey und vor allem Guernsey sich noch, selbst wenn der Anblick der Touristen- und Finanzfluten Ebenezer Le Page und die anderen alten Inselbewohner, die dem Leser von „Sarnia“9 vertraut sind, tief betrübt hätten. In den Tälern von Andorra und Liechtenstein hat die Bergwirtschaft jedoch, wie ein Beobachter nüchtern feststellt, „nur noch dokumentarischen Wert“10. Im übrigen findet man die auf der Isle of Man so ausgeprägte Neigung, „die eigene Identität zu bewahren“, auf den anderen Inseln und in den anderen Kleinstaaten kaum, wenn man einmal von den Faröer-Inseln absieht. In Gibraltar gibt es kaum noch Spuren der Kultur der alten Handelshäfen der Levante. Französisch wird nur noch in einigen wenigen Dörfern der Kanalinseln hinter vorgehaltener Hand gesprochen, und in Andorra sind von der alten Lebensweise der Pyrenäen nur vermarktete Restposten geblieben.

Es scheint, als tue sich eine große soziale, kulturelle und menschliche Leere auf inmitten der triumphierenden Off- shore-Wirtschaft und der säkulären staatlichen Identität, die sich immer weiter ausprägt – in Andorra etwa durch die neue Verfassung aus dem Jahr 1993, in der die Macht der Co-Fürsten eingeschränkt wird. Von den Kleinstaaten sind die einen in die UNO, andere in den Europarat oder in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eingetreten. Ihre wirtschaftliche Blüte hat ihnen trotz ihrer geringen Größe die Anerkennung als Vollmitglieder der internationalen Organisationen eingebracht. Aber der Bereich des „Gesellschaftlichen“ ist dem nicht gefolgt: Ihre soziale Besonderheit verliert sich und löst sich auf, und die Finanz-Eldorados werden zu Wüsten für das Gemeinschaftsleben.

Vor dem finanziellen Hintergrund dieser Gebilde sind Klischees wie „Monaco, das Operettenfürstentum“, nicht mehr angebracht. Deshalb muß man allerdings noch lange nicht die Existenz der Kleinstaaten selbst in Frage stellen. Denn politische Unterschiede – auch bezüglich Größe und Traditionen – sind im Prinzip durchaus gesund. Sie sind ein Teil der europäischen Kultur und stellen den „aufgesplitterten“ Aspekt Europas dar11. Wie die Stadtplaner sagen, kann man das nicht begradigen, was von jeder Norm abweicht. Immerhin hat Tuvalu mit seinen 8000 Einwohnern in der UNO genausoviel Gewicht wie die Riesenstaaten der Erde. Das Problem liegt vielmehr darin, daß diese Inseln und Enklaven, Überreste einer weit entfernten Vergangenheit, sich plötzlich in höchst aktive, aber kaum greifbare schwarze Finanz-Löcher verwandelt haben, in denen die neuen weltweiten Kapitalströme verschwinden. Für das Spekulationskapital, dessen Umfang seit den achtziger Jahren stetig gewachsen ist, sind sie weit nützlicher als die klassischen Nationalstaaten. Sie bieten diesem Kapital verschwiegene und gastfreundliche Rückzugsorte mit einer Spur pittoresker Altertümlichkeit, die ja nicht schaden kann.

Die Behörden in Brüssel bleiben angesichts dieser neuen Situation im Finanz- und Handelsbereich völlig untätig, was den Verdacht nahelegt, daß die wahren Herren über die Wirtschaft des Alten Kontinents eher daran interessiert sind, diese Orte der ultraliberalen Deregulierung, die dem Europa der Institutionen entzogen sind, zu tolerieren. Per definitionem werden die Entscheidungen der Europäischen Union nur von ihren Mitgliedsländern angewendet. Die Kleinstaaten haben sich aber wohlweislich davor gehütet, ihre Aufnahme in die EU zu beantragen. Liechtenstein ist als Mitglied der Efta (Europäische Freihandelszone) – mit einer knappen Mehrheit12 – dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beigetreten.13 Konsequenzen hat dies aber nur für den Warenverkehr. 1972/73 haben die Faröer- Inseln, Gibraltar, Jersey und Guernsey ebenso wie die Isle of Man auf Grund ihres besonderen Status den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) abgelehnt, als Großbritannien und Dänemark aufgenommen wurden. Brüssel kann also weder die Massenschlachtung der Wale noch die Dollarströme kontrollieren. Nur Luxemburg – der Riese unter den Kleinstaaten – wird als Mitglied der EU früher oder später eine etwas genauere Kontrolle der Kapitalströme und seines Bankgeheimnisses zulassen müssen.

Die „Superkleinen“ Europas werfen also noch nie dagewesene Probleme auf. Es geht dabei nicht um Gebietsansprüche, sondern um die Machtbefugnisse eines traditionellen Staats angesichts von weltweiten Kapitalströmen, die nicht nur entmaterialisiert und an keinen Ort mehr gebunden sind, sondern auch der Versteuerung entzogen werden, da sich der multinationale Kapitalismus das Recht herausnimmt, seine Gewinne nach eigenem Belieben in die Länder zu transferieren, in denen der Steuersatz am niedrigsten ist. Wenn sich der Staat weiterhin nur auf seine traditionellen hoheitlichen Vorrechte (Verteidigung, Außenpolitik, öffentliche Ordnung) beschränkt, dann wird er – unabhängig von seiner Größe – diesen neuen, äußerst beweglichen Finanzgebilden hilflos gegenüberstehen.

Über die Frage, wie die Kapitalbewegungen in Europa kontrolliert werden könnten, wird vor allem im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nachgedacht. Eine Möglichkeit wäre, die Kapitalströme dort zu kontrollieren, wo die Gewinne erzielt werden, und nicht erst dort, wo später die „Messingschilder“ angeschraubt werden.

Da die Kleinstaaten auf Grund ihres Status einem direkten Eingriff der Europäischen Union ohnehin entzogen sind, denkt man daran, die Kapitalströme an ihrer Quelle zu bremsen – von austrocknen spricht niemand –, bevor sie mit offenen Armen in Liechtenstein, Gibraltar, Andorra, Jersey und Monaco empfangen werden. Man kann sich natürlich fragen, ob der dazu nötige politische Wille wirklich vorhanden ist.

Westeuropas Kleinstaaten, für die es in Osteuropa aufgrund der Geschichte des russischen, türkischen oder österreichisch-ungarischen Reiches kein Äquivalent gibt, sind nicht einfach Relikte der Vergangenheit. Und es wäre eine grobe Vereinfachung, in ihnen nur nahegelegene Bahamas oder Kaiman-Inseln sehen zu wollen. So klein sie auch immer sein mögen, verfügen sie doch über ein unleugbares historisches Gewicht. Daher stehen sie im Spannungsfeld zwischen Territorialität, die ein wesentliches Attribut eines jeden Staates bleibt, und einer Finanzwelt, die immer weniger ortsgebunden ist. Die Kleinstaaten sind wie die Lichter einer Ampel, die blinken und warnen.

dt. Christian Voigt

1 „Isle of Man, Europe's Premier Offshore Location“ ist der Titel einer luxuriösen Broschüre, die von der Finanzabteilung der Regierung der Insel Man verteilt wird.

2 Das keltische Wort „manx“ bezeichnet sowohl die Sprache als auch die Einwohner der Insel.

3 So hatten die meisten der Unternehmen, die mit aggressiven Methoden das sog. „Appartment-Sharing“ auf den Kanarischen Inseln propagierten, ihren Sitz auf der Isle of Man. (Siehe hierzu den Bericht von Marie-Pierre Subtil, Le Monde vom 1. August 1995)

4 Malcolm Lowrys Erzählung „Hear Us O Lord From Heaven Thy Dwelling Place“ ist der erste Text in seinem gleichnamigen Erzählungsband, Philadelphia (Lippincott), 1961. Die erste deutsche Buchausgabe erschien unter dem Titel „Höre uns, o Herr, der Du im Himmel wohnst“, übersetzt von Susanna Rademacher, Reinbek (Rowohlt), 1963.

5 Ganz bewußt lassen wir hier die Republik Malta und das Großherzogtum Luxemburg beiseite: In beiden Staaten ist der Off-shore-Kapitalismus sehr aktiv, aber die internationale Funktion der beiden Länder ist weitaus komplexer. Als Bindeglied zwischen Europa und dem südlichen Mittelmeer ist Malta Kandidat für die Aufnahme in die Europäische Union. In Luxemburg, das Mitglied der Gemeinschaft seit ihrer Gründung im Jahre 1957 ist, befindet sich neben anderen europäischen Institutionen der Europäische Gerichtshof.

6 In schwierigen Fällen wenden sich die Inselbehörden an die Spezialisten für altes normannisches Recht an der Universität Caen.

7 Siehe die Beilage „Andorre bientôt souveraine“, Le Monde diplomatique, März 1992.

8 „Western Europe“, London (Europa), 1993; Anmerkung zu Liechtenstein.

9 „Sarnia“, eine Autobiographie in Romanform von Gerald Basil Edwards (erzählt wird aus der Perspektive von Ebenezer Le Page) Paris (Les Lettres nouvelles/Maurice Nadeau), 1982. Sarnia ist der römische Name von Guernsey.

10 Maria-Jesus Lluelles Larosa, „Hégémonie du tertiaire“, in der Beilage „Andorre bientôt souveraine“, Le Monde diplomatique, März 1992.

11 Die Idee von einem „fraktalen“ Europa, das heißt von einem Europa, das in vielgestaltige geschichtliche und kulturelle Gebilde unterteilt ist, die miteinander verzahnt sind, ist von Hans Magnus Enzensberger in „Ach Europa!“ (Frankfurt, Suhrkamp, 1987) ausgeführt worden.

12 Das genaue Ergebnis beim Referendum vom 6. Dezember 1992 war 6722 gegen 5322 Stimmen. Das Fürstentum trennte sich so von der Schweiz, mit der es bis dahin eng verbunden war. Am gleichen Tag trafen die Schweizer ebenfalls in einem Referendum mit 50,3 Prozent die entgegengesetzte Entscheidung.

13 Die Efta hat nur noch vier Mitglieder: Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Der EWR hat 18 Mitglieder: die fünfzehn EU-Mitglieder und die Mitglieder der Efta mit Ausnahme der Schweiz.

* Emeritierter Professor an der Universität Paris-VII.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Jean Chesneaux