12.01.1996

Widerstand gegen die soziale Unsicherheit

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Widerstand gegen die soziale Unsicherheit

■ Die Unruhen vom vergangenen Dezember in Frankreich kamen für viele wie ein Blitz aus heiterem Himmel, um sich zu der größten Streikbewegung seit

Die Unruhen vom vergangenen Dezember in Frankreich kamen für viele wie ein Blitz aus heiterem Himmel, um sich zu der größten Streikbewegung seit 1968 auszuwachsen. Rückblickend durfte dies nicht überraschen: Die Wirtschafts-„Anpassung“ durch EU- Staaten und Europäische Kommission hat soziale Spannungen aufgebaut, die zum Ausbruch kommen mußten. Auslöser war die „Reform“ von Premier Alain Juppé, die soziale „Privilegien“ abzubauen und auf die Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien hinzuarbeiten vorgab, tatsächlich aber eine Umverteilung von unten nach oben vornehmen wollte.

Von

CHRISTIAN

DE BRIE

KAUM hatte Premierminister Alain Juppé am 15. November 1995 der Nationalversammlung seinen Plan zur Reform der Sozialversicherung vorgelegt, schlug ihm die Feindseligkeit der großen Öffentlichkeit entgegen. Acht von zehn Franzosen hielten seine Vorschläge für ungerecht, da sie den Schwächsten der Gesellschaft den Löwenanteil der Belastungen aufbürdeten.1

Mit dieser Einschätzung standen die Bürger allerdings ziemlich alleine da. Fast einstimmig begrüßten die Medien den „Mut“, das „Bemühen um ausgleichende Gerechtigkeit“, „einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Sozialversicherung“. Um mit dem Figaro zu schließen: „Der Schock ist groß, ein Mann hat den Durchbruch geschafft.“ Allerdings ein Schock, wenn auch anderer Art, und nicht ein Mann, sondern Hunderttausende Männer und Frauen: Innerhalb weniger Tage führte die Mobilisierung der Bevölkerung gegen den Juppé-Plan in ganz Frankreich zur bedeutendsten Streikbewegung im öffentlichen Dienst seit 1968.

Die Voraussetzungen für einen Konflikt zwischen Bevölkerung und politischer Führung waren seit langem gegeben. Die „Reform“, ein Euphemismus für den Angriff auf die Arbeitswelt, sollte nur der Auslöser sein. Mit einer Abgabe von 0,5 Prozent auf alle Einkommen zur Schuldentilgung der Sozialversicherung (RDS), der Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge für Rentner und Arbeitslose, der Neubemessung für Zuwendungen aus dem Altenhilfsfonds und der Beschneidung verschiedener Sozialleistungen sind die Privathaushalte nämlich angehalten, drei Viertel der Sparmaßnahmen zu tragen, während auf die Wirtschaft 4 Prozent und auf die Einnahmen aus Kapitalvermögen 1,5 Prozent entfallen. Rentner und Arbeitslose, deren Einkünfte etwa auf Mindestlohnniveau liegen, trifft es besonders hart: sie werden mit zusätzlichen 3000 Franc jährlich belastet.2

Auf der einen Seite haben jahrelanger Lohnstopp, Steuer- und Beitragserhöhungen, sinkende Kaufkraft und immer schlechtere Arbeitsbedingungen bei gleichzeitig steigender Arbeitsbelastung sowie der Rückgang stabiler Beschäftigungsverhältnisse bei der Bevölkerung erhebliche Unzufriedenheit ausgelöst. Den Hintergrund dafür bilden massive Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung, die Jagd nach immer mehr Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit, marktwirtschaftliche Deregulierung und Privatisierung im staatlichen Unternehmens- und Dienstleistungsbereich sowie die immer neuen Appelle an die Opferbereitschaft von Leuten, von denen jeder Zweite weniger als 7000 Franc und jeder Vierte weniger als 5500 Franc monatlich verdient.3

Auf der anderen Seite stehen eine politische Führung, die sich immer stärker den Marktgesetzen unterordnet und davon allenfalls während des Wahlkampfes Abstand nimmt, und eine Wirtschaft, die sich der Logik der Globalisierung der „neuen Herren der Welt“4 verschrieben hat. Beide waten sie knöcheltief in einem Sumpf von Korruptionsaffären, die führende Vertreter der Wirtschaft, Verantwortliche und Würdenträger aller politischen Lager gleichermaßen betreffen; ein abgekartetes Spiel, in dem es darum geht, ständig neue Finanzhilfen und Steuervorteile herauszuschinden. Verbissen verteidigen sie die Interessen einer mit Privilegien überhäuften Minderheit, die einen unvorstellbaren Anteil an den Einkünften und am Gesamtvermögen der Gesellschaft für sich beansprucht und durch die Finanz- und Immobilienspekulationen, die zum Verlust der staatlichen Geldreserven geführt haben, maßlos reich geworden sind.

In weniger als zehn Jahren sind 300 Milliarden Franc durch riskante Kapitalanlagen im Immobiliengeschäft verlorengegangen, 50 Milliarden allein beim Crédit lyonnais.5 Die Mehrheit der großen Unternehmen und Finanzgesellschaften hat an dubiosen Immobilienbesitz gebundene Außenstände, die durch Gewinnabschreibungen gedeckt werden und für den Fiskus erhebliche Mindereinnahmen bedeuten, deren Folgen auf alle Steuerzahler abgewälzt werden. Nichts ist gegen die allseits bekannten Nutznießer der ungeheuren Verlustgeschäfte unternommen worden. Es wurde tunlichst vermieden, von ihnen auch nur das geringste zurückzufordern, vielmehr ließ man sie mit der Diebesbeute auf ihren Pfründen sitzen.

Dramatisierung der Defizite

VOR diesem Hintergrund und unter dem Druck eines sorgsam aufrechterhaltenen Defizits im öffentlichen Bereich wird der Juppé-Plan verständlich. Mit einem Anstieg von 133 auf 345 Milliarden Franc hat sich das Haushaltsdefizit zwischen 1991 und 1993 nahezu verdreifacht und ist seither auf diesem Niveau stehengeblieben (1994 waren es 350 Milliarden, für 1995 werden 330 Milliarden erwartet6). Demgegenüber hat sich das Defizit bei der Sozialversicherung vervierfacht und ist von 15 Milliarden 1992 auf 56,5 Milliarden Franc 1993 gestiegen (1994 waren es 56, 1995 werden es 62 Milliarden sein). Der Umfang dieser Fehlbeträge ist um das Fünf- bis Sechsfache niedriger als das vergleichbarer Haushaltsposten, aber man hat sie auf mehrere Jahre hochgerechnet, um sie eindrucksvoller und die Situation dramatischer erscheinen zu lassen. Die Defizite gehen einher mit einem kräftigen Anstieg der direkten Steuern7 – eine jener Errungenschaften, die die regierende Rechte seinerzeit der „natürlichen Inkompetenz“ der Linken angelastet hatte.

Alle Weichen schienen gestellt für eine „Reform“, die mit dem in Europa – in Großbritannien, Deutschland und Italien – eingeschlagenen Kurs und den Zielen der EU und des Weltmarktes in Einklang steht: das soziale Netz auf ein Mindestmaß zu begrenzen und alles andere der Privatinitiative zu überlassen. Die Vermarktung des Sicherheitsbedürfnisses, vor allem das viele hundert Milliarden Franc schwere Rentensystem, weckt Begehrlichkeiten. Darin liegt der eigentliche Anlaß für die geplanten Maßnahmen, die etwa so modern sind wie kapitalistische Habgier überhaupt. Während die Arbeitgeberschaft in den Pensionsgeldern, die in das Kapital der Unternehmen einfließen und unter ihrer Kontrolle bleiben, ein Mittel sehen, schier unerschöpfliche Geldquellen auf ihre eigenen Mühlen zu lenken, bereiten sich Banken und Versicherungen auf einen erbitterten Konkurrenzkampf vor, um sich die fettesten Brocken mit einer breitgefächerten Produktpalette zu sichern, die von Steuerabschreibungen bis zur Absicherung gegen ausgewählte Gesundheitsrisiken alles bietet, was das Herz begehrt. „Jeder soll seine eigenen Ersparnisse so anlegen, daß sie ihm den erwünschten Lebensabend ermöglichen“, so das zynische Plädoyer eines bekannten Arbeitgebers und Herrn über milliardenschwere Termingeschäfte einer großen Versicherungsgesellschaft.8

„Der Staat gewährleistet dem einzelnen und seiner Familie die zu seiner persönlichen Entfaltung erforderlichen Voraussetzungen. Er garantiert allen, insbesondere den Kindern, den Müttern und den alten Menschen, den Schutz ihrer Gesundheit, ihrer materiellen Sicherheit, Freizeit und Erholung. Jeder Mensch, der aufgrund seines Alters, seiner körperlichen und geistigen Verfassung oder wegen der wirtschaftlichen Situation nicht zu arbeiten in der Lage ist, hat das Recht auf angemessene Unterhaltssicherung durch die Gemeinschaft.“ Das 1946 entstandene Recht auf sozialen Schutz, das nach wie vor ganz am Anfang der französischen Verfassung steht, gehört zu den Grundpfeilern des republikanischen Gesellschaftsvertrages. In einem vom Krieg zerstörten Frankreich, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen zum Zeitpunkt der Befreiung gegenüber 1939 um die Hälfte gesunken war9, der Bedarf an Grundnahrungsmitteln wie Brot und Milch nur zu einem Drittel gedeckt werden konnte und nicht die Mittel zur Verfügung standen, eine ausreichende Sozialversorgung zu finanzieren, wurde nach einem vom Nationalrat der Résistance erarbeiteten Entwurf per Erlaß vom 4. und 19. Oktober 1945 die staatliche Sozialversicherung eingeführt.

Das ging nicht ohne Widerstand ab, so dem der genossenschaftlich organisierten Versicherungen, der christlichen Gewerkschaften, der Versicherungsträger und Arbeitgeber, die gegen die horrenden Kosten wetterten – der Beitrag sollte für die Arbeiter und Angestellten 6 Prozent, für die Arbeitgeber 10 Prozent betragen. Es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis die Sozialversicherung, in die anfangs lediglich 9 Millionen Franzosen mit ihren Familien einbezogen waren, allmählich auf die ganze Bevölkerung ausgedehnt werden konnte, ohne dabei immer allen in gleichem Maße sozialen Schutz gewährleisten zu können. Vor allem aber war es die unter den Besitzenden vorherrschende feindliche Haltung gegenüber einem System, das sich auf Solidarität gründet (wie es sie in organisierter Form nur unter Arbeitern gibt), die zu dem besonders ungerechten Finanzierungsmodus geführt hat, dessen ungleiche Lastenverteilung durch Beitragserhöhungen immer weiter zunehmen sollte.

Zum einen wurde durch die Festschreibung der Beitragsobergrenze ein System von Sozialabgaben geschaffen, die nicht etwa proportional ansteigen, sondern abnehmen; das heißt, je höher das Einkommen, desto niedriger die Abzüge beziehungsweise je niedriger der Lohn, desto höher die Beiträge.10 Generationen von Arbeitern und Angestellten sind so im wörtlichen Sinne bestohlen worden, und doppelt in den zahlreichen Haushalten, in denen beide für den Lebensunterhalt arbeiten gehen müssen. Das setzt sich bei der Rentenversicherung fort.11 Angehörige besonders harter Berufe zahlen länger ein (oft 45 Jahre), haben aber von vornherein eine geringere Lebenserwartung. Eine regelrechte Umverteilung von unten nach oben findet statt.

Zum anderen enthalten die sogenannten Arbeitgeberbeiträge eine doppelte Irreführung: „Auf den Betrieben lasten unerträgliche soziale Kosten“, sagen die Unternehmer. „Die zahlen die Arbeitgeber“, sagen die Arbeiter. In Wirklichkeit werden die Beiträge auf den Preis der Erzeugnisse und angebotenen Dienstleistungen voll umgelegt. Sie bilden also eine indirekte Verbrauchssteuer, die Arme wie Reiche gleichermaßen trifft und noch einmal ungerechter ist, wenn man sich fragt, wie sie sich aufteilt.

Je nachdem, ob ein System der Pflichtversicherung oder eines der auf staatliche Solidarität gegründeten Sozialversicherung zugrunde liegt, werden die Versicherungsleistungen entweder durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge oder durch Steuern finanziert. In den meisten Ländern der Europäischen Union wird eine auf Steuern und Beiträge verteilte Mischfinanzierung angewandt (Deutschland, Belgien, Niederlande, Italien). Einige setzen bevorzugt auf Steuerabgaben (Dänemark, in geringerem Umfang auch Großbritannien und Irland). Frankreich ist neben Griechenland der einzige Staat, der den wesentlichen Anteil der Finanzierung aus Beiträgen bestreitet. Und während die Belastungen der Arbeitgeber hier in den letzten Jahren gesenkt wurden, sind die der Arbeitnehmer kräftig erhöht worden.12 Überall sonst zeigt die Finanzierung der sozialen Sicherheit über die Steuer steigende Tendenz; in Frankreich läßt sie immer noch zu wünschen übrig. Nicht um den Unternehmen Sozialabgaben zu ersparen, „die auf die Lohnkosten drücken“ und Arbeitsplätze gefährden – so die alte Arbeitgeberleier –, sondern um die Verteilung der Abgabenlast ein wenig gerechter zu gestalten.

Das kleine Land, in dem die Sozialdemokratie eine lange Tradition besitzt und das sich in Sachen Maastricht recht mimosenhaft gezeigt hat, kann, was die Finanzierung der Sozialleistungen betrifft, allen zum Vorbild dienen. In Dänemark, wo es praktisch keine Sozialabgaben gibt – sie sind zehnmal niedriger als in Frankreich –, zahlt der Arbeitgeber sehr hohe Löhne, die mit entsprechend hohen, einkommensbezogen ansteigenden Steuern belegt werden (viermal höher als in Frankreich). Daraus wird der wesentliche Teil der Sozialversicherung bestritten. Insgesamt sind die Lohnkosten genauso hoch wie in Frankreich, und die Arbeitslosigkeit liegt auf ähnlichem Niveau; doch ruht die Last der Finanzierung nicht auf einem undurchsichtigen und ungerechten System degressiver Beitragszahlungen, sondern auf einer gerechteren, weil individuell angepaßten Steuerprogression.

In Frankreich geht die Senkung der von den Unternehmen getragenen Sozialabgaben einher mit neuerlichen Bemühungen, auch die Steuern zu senken – und dadurch mit der Zeit zwangsläufig das Niveau der Sozialversorgung, die von ihrem Gesamtvolumen abhängt. Im übrigen kommt in der zunehmenden Durchsetzung vereinheitlichter Sozialabgaben, die zumindest teilweise ein System mit begrenzter Steuerprogression ersetzen sollen, die Entschlossenheit der privilegierten Schichten zum Ausdruck, sich einem auf Solidarität gegründeten Sozialwesen und der Bekämpfung sozialer Ungleichheit zu verweigern.13 In den sozialen Auseinandersetzungen in Frankreich steht, wie zuvor bereits in Italien, Spanien, Belgien und Großbritannien, nicht der Erfolg der „Reformierung“ eines veralteten Systems auf dem Spiel, wie die Leitartikler der Kapitalisten-Prawda glauben machen wollen. Vielmehr geht es wieder einmal um die Verteilung der erwirtschafteten und akkumulierten Ressourcen, die die Herrschenden in ihren Profit umzumünzen suchen. Ihre Erfolgschancen werden an dem Tage sinken, da die Arbeiter in ganz Europa an einem Strang ziehen und sich ihrer Stärke bewußt werden.

dt. Christian Hansen

1 Nach einer in Le Monde vom 17. November 1995 veröffentlichten Umfrage.

2 Alternatives économiques, Nr. 132, Dezember 1995.

3 Vgl. L'Humanité vom 6. Dezember 1995.

4 Vgl. „Les nouveaux maitres du monde“, Manière de voir, Nr. 28, November 1995.

5 Vgl. „Au carnaval des prédateurs“, Le Monde diplomatique, April 1995.

6 „Projet de loi de finances pour 1996“, Les notes bleues de Bercy, Französisches Ministerium für Wirtschaft, Finanzen und Entwicklungsplanung.

7 Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt stieg von 43,6 Prozent 1992 auf geschätzte 44,7 Prozent 1996 (ein Prozentpunkt entspricht etwa 75 Milliarden Franc), nach: „Projet de loi de finances pour 1996“, a.a.O.

8 Claude Bébéar, zit. nach „La protection sociale demain“, Droit social, September/Oktober 1995.

9 „50 ans de Sécurité sociale. L'÷uvre collective“, Espace social européen, hrsg. von Pascal Beau, September/Oktober 1995.

10 Wenn die Obergrenze für einen sechsprozentigen Beitragssatz auf 10000 Francs festgeschrieben ist, liegen die realen Abzüge für ein Einkommen von 6000 Francs bei 6 Prozent, für ein Einkommen von 20000 Francs nur noch bei 3 Prozent und für ein Einkommen von 40000 Francs bei 1,5 Prozent.

11 Bei den anderen Beiträgen ist die Obergrenze 1984 und 1992 abgeschafft worden.

12 Jean-Pierre Dumont, „Les systèmes de protection sociale en Europe“, Paris (Economica), 1995.

13 Vgl. Alain Bihr, „Déchiffrer les inégalités“, Paris (Syros), 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Christiande Brie