Staatsbürger oder Sozialfälle?
WANN immer Kritiker – zu denen neuerdings auch Alain Juppé gehört – der Europäischen Kommission den Vorwurf machen, sie wolle die öffentlichen Dienste abbauen, halten die Kommissionsmitglieder dagegen, auch unter den Prinzipien von Liberalisierung und Konkurrenz könne es einen minimalen „allgemeinen Dienst“ geben, gleichsam als europäisches Gegenstück zum öffentlichen Dienst französischer Art. Hinter dieser scheinbar so harmlosen Unterscheidung stehen radikal gegensätzliche Positionen. Der öffentliche Dienst, wie man ihn in Frankreich versteht, ist das Herzstück eines Systems, in dem neben dem Markt auch der Staat eine bedeutsame Rolle spielt. Er steht für eine grundsätzlich andere Einstellung, die in der republikanischen Ideologie verankert ist und viele Einflüsse aufgenommen hat: die Keynessche Idee des gemischtwirtschaftlichen Systems, die karitative Tradition der christlich-sozialen Richtung (Recht und Staat schützen die Armen), das Solidaritätsprinzip der Sozialdemokratie (der Staat schützt die Schwachen und mindert die Ungleichheit), und schließlich die wissenschaftlich- technokratische Tradition der Ingenieure und Verwaltungsfachleute (der Staat garantiert den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt).
Dieses Konzept ist nicht zu trennen von der Idee einer republikanischen Ordnung, die die einzelnen als Staatsbürger – also als Gleichberechtigte – in die Gesellschaft einbindet, was die marktunabhängige Grundversorgung mit bestimmten Gütern und Diensten einschließt. Aus der christlichen und sozialdemokratischen Tradition wiederum stammt die Vorstellung, man müsse in die Verteilung der durch den Markt entstehenden Reichtümer und Einkünfte korrigierend eingreifen. Der keynesianische Ansatz betont die Grenzen marktwirtschaftlicher Regulierung. Durch staatliche Intervention, vor allem Produktionsaufträge und öffentliche Anleihen, sollen Konjunkturschwankungen ausgeglichen und die Wachtumsrate erhöht werden – um die privaten Zukunftserwartungen zu verbessern. Die technokratisch-wissenschaftliche Tradition schließlich geht zurück auf die absolute Monarchie und den Colbertismus; sie fördert die Stärkung eines staatlichen Sektors, dessen innovative Dynamik nicht an die klassische Wirtschaftslogik gebunden ist.
Dem gegenwärtigen europäischen Konzept, das ganz auf die sozialisierende Wirkung der Weltmärkte setzt, sind alle diese Ansätze gleichermaßen fremd. In Brüssel versucht man, dem Politischen und damit dem Kern republikanischen Denkens auszuweichen. An die Stelle des öffentlichen Dienstes soll nach dem Willen der Kommission ein Konstrukt aus dem Lehrbuch des Reaganismus und Thatcherismus treten: der „allgemeine Dienst“, definiert als „Zugang zu einer bestimmten Mindestanzahl von Diensten festgelegter Qualität für alle Benutzer, unabhängig von deren Wohnort und zu erschwinglichen Preisen, die auf die jeweiligen nationalen Besonderheiten abgestimmt werden.“1 Damit ist der „allgemeine Dienst“ im öffentlichen Bereich, was die „minimale Wiedereingliederungshilfe (RMI)“ im Einkommensbereich ist – eine Unterstützung, wenn nicht gar eine Überlebenshilfe für jene, die die Aufnahmeprüfung zum Markt nicht bestehen. Es kann daher nicht überraschen, daß der Umfang dieser Leistungen eng umrissen ist: Die Post gehört dazu, aber nicht das Telefon, der Strom, aber nicht das Gas... Auch soll eine strikte Trennung von „allgemeinem Dienst“ und kommerzieller Versorgung vollzogen werden, was zu einer umfassenden Segmentierung der Bedürfnisse führt. Im Augenblick wird der allgemeine Dienst als eine Leistung verstanden, die allen europäischen Bürgern zugänglich sein soll, aber es steht außer Frage, daß er irgendwann nur noch eine Sache für „Sozialfälle“ sein wird.
Christian Barrère *
1 Europäische Kommission: „Livre vert sur la libéralisation des infrastructures de télécommunications et des réseaux de télécommunications par cÛble“, Brüssel, Januar 1995.
* Professor für Ökonomie an der Universität Reims.