12.01.1996

Baustelle Naher Osten

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Baustelle Naher Osten

Die ökonomische Dimension des Friedens im Nahen Osten steht im Zentrum der Politikerreden der Region. Gleichwohl mußte man zunächst die Eröffnung der multilateralen arabisch-israelischen Verhandlungen im Oktober 1991 in Madrid abwarten, ehe sich Spezialisten mit dem Thema ernsthaft zu befassen begannen. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) veröffentlichte dann auf der Grundlage von im November 1991 an der Harvard University gehaltenen Vorträgen die Studie „The Economics of Middle East Peace“1. Der von Louis Blin und Philippe Fargues herausgegebene Band „L'Economie de la paix au Proche- Orient“2 setzt die Fragestellung mit Untersuchungen von 45 Wirtschaftswissenschaftlern, Statistikern und Historikern aus dem Nahen Osten und Europa fort. Sie arbeiteten 1993 bis 1994 in einem Forschungsprogramm zusammen, das vom Zentrum für wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftliche Studien und Dokumentation (Cedej) in Kairo durchgeführt wurde.

Bedeutet das Ende des Kriegszustandes ein neues Gleichgewicht oder im Gegenteil eher neue Uneinigkeit? In welchem Maße wird der Frieden den alten existenzbedrohenden Konflikt in einen fruchtbaren Streit um Koexistenz verwandeln? Wie wird sich die wirtschaftliche Einbeziehung Israels in die arabische Welt gestalten – in Form einer neuen Vormachtstellung oder einer besseren regionalen Integration? Wie soll eine von militärstrategischen Erwägungen befreite geoökonomische Rationalität gemeinsam entworfen werden? Wie kann die palästinensische Wirtschaft erfolgreich in Gang gesetzt werden? Welche Rolle fällt den Unternehmern im Nahen Osten zu? Auf alle diese Fragen versuchten die Autoren jeweils fachspezifisch zu antworten, ohne jedoch das Zusammenspiel historischer, ökonomischer, politischer und soziodemographischer Faktoren zu übersehen.

Das schnelle Bevölkerungswachstum im Nahen Osten (die jüdische Zuwanderung und das dauerhaft starke Ansteigen der palästinensischen Geburtenrate) stellt die Wirtschaft vor eine heikle Herausforderung, weil der Frieden zu einem Zeitpunkt kommt, wo die Geschichte sich wandelt, wo die technische Entwicklung mehr Arbeitsplätze vernichtet, als sie neue schafft, und die lebenswichtigen Ressourcen, besonders an Boden und Wasser, knapp sind. Zwar nimmt der Wohlstand zu, aber auch die Zahl derer, die davon ausgeschlossen sind... So erleben diese Länder einen zunehmend größer werdenden Riß zwischen ökonomischem und sozialem Bereich. Eine der Hauptaufgaben des Friedens wird sein, die Probleme der einzelnen Menschen dadurch in den Griff zu bekommen, daß man in die „großen Baustellen des Friedens“ investiert; der Ausbau zukunftsträchtiger Bereiche, wie etwa des Fremdenverkehrs, soll die Region mit der notwendigen Infrastruktur versorgen. Die Rückführung der Diasporagemeinden an ihre Herkunftsorte ist ebenso wie die internationale Unterstützung eine wichtige erste Maßnahme.

Trümpfe der Palästinenser

EINE regionale Friedenswirtschaft setzt vor allem den erfolgreichen Anschub der palästinensischen Wirtschaft voraus, unter der Kautel, daß Westjordanland und der Gazastreifen von 25 Jahren militärischer und kolonialer Besetzung geprägt sind. Zum Problem des palästinensischen Bevölkerungswachstums kommt das der Integration derjenigen Familien hinzu, die im Laufe des Krieges umgesiedelt wurden, insbesondere eines Teils der 1948 bis 1950 vertriebenen Palästinenser und ihrer Nachkommen: Die seinerzeit knapp eine Million Menschen sind auf heute etwa vier Millionen angewachsen.

Die sozialen Frustrationen fanden ein Ventil im nationalen Kampf, der Intifada. Das Ende dieser Bewegung könnte ihre Forderungen wieder zum Sozialen hin verschieben und, durch eine mögliche islamistische Mobilisierung, zu neuer gesellschaftlicher Unsicherheit führen. Die Wandlung von Kämpfern zu Verwaltern ist eine heikle Angelegenheit, zumal Führer des nationalen Widerstandes nicht gerade ihrer wirtschaftlichen Qualifikationen wegen ausgesucht wurden.

Bei all diesen Schwierigkeiten sollte man nicht mit den Trümpfen hinter der Hand halten, die im Tourismus und in der trotz Raum- und Wasserknappheit ertragreichen Landwirtschaft liegen. Die palästinensische Diaspora, aus der zahlreiche dynamische Unternehmer kommen, stellt einen weiteren Pluspunkt dar. Der Wiederaufbau eines befriedeten Nahen Ostens könnte zur regionalen wie internationalen Bedeutung eines Gebietes beitragen, in dem wirtschaftliche Aktivitäten lange Zeit von schwerfälligen Staatsapparaten und Zentralisierung erstickt wurden.

KATIA SALAMÉ-HARDY

dt. Eva Groepler

1 Dani Rodrik und Elias Tuma, „The Economics of Middle East Peace“, Cambridge (MIT Press) 1993.

2 Louis Blin und Philippe Fargues (Hrsg.), „L'Economie de la paix au Proche-Orient. The Economy of Peace in the Middle East“, Cedej, Editions Maisonneuve et Larose, 1995. Bd. I: „Stratégies“, Bd. II: „La Palestine – Entrepreneurs et entreprises“.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Katia Salame-Hardy