12.01.1996

Polen wählt die Effizienz Von JEAN-YVES POTEL

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Polen wählt die Effizienz Von JEAN-YVES POTEL

MIT der Wahl des „Neokommunisten“ Aleksander Kwasniewski zum Staatspräsidenten im November 1995 überraschten die Polen die internationale Öffentlichkeit. Zwar bestand die Regierungskoalition schon seit den Parlamentswahlen 1993 aus einem Bündnis der demokratischen Linken (SLD) mit der Polnischen Volkspartei (PSL, der „Bauernpartei“). Der Wechsel des Präsidenten markiert aber einen Wendepunkt: er zeigt klar die Spaltung der polnischen Gesellschaft. Eine Kampfansage an neoliberale Rezepte ist das Votum jedoch nicht.

Mit seiner Wahlniederlage 1 hat Lech Walesa ein Kapitel der jüngeren Geschichte Polens abgeschlossen. Oder genauer: Er hat endgültig mit dem Mythos von Solidarnosc als einer Bewegung des Aufbegehrens der Gesellschaft gegen den Kommunismus aufgeräumt.

Paradoxerweise hat der frühere Präsident bei seinem Versuch, im Wahlkampf noch einmal die alten politischen Gräben von 1981 und 1989 aufzureißen, eine durch und durch archaische Haltung an den Tag gelegt. So bestand seine Wahlpropaganda im wesentlichen aus der Warnung vor einer Rückkehr der Kommunisten an die Macht und der Beschwörung christlicher Werte; zumal für das Verbot der Abtreibung machte sich Walesa stark. Kreuzzugsgedanken mischten sich in seinem Wahlkampf mit Wertvorstellungen, die er selbst nur selten beherzigt hatte. Außerdem hatte sich Polen in den letzten sechs Jahren weitaus nachhaltiger verändert als in den fünfzehn Jahren zuvor.

Die Wählerumfragen beim Verlassen der Wahllokale zeigten denn auch, wie sehr Walesa einer Täuschung erlegen war. Auf die Frage nach dem Hauptgrund für ihre Wahlentscheidung gaben nämlich die Befragten bei Aleksander Kwasniewski vor allem die Persönlichkeit des Kandidaten, sein politisches Programm und den Umstand an, daß von ihm eine Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse zu erwarten sei; für Lech Walesa wurde zuallererst dessen Opposition gegen seinen Gegenkandidaten geltend gemacht. Dies zeigt, daß der frühere Vorsitzende von Solidarnosc im Gegensatz zu seinem Konkurrenten, der die Wähler geschickter für seine Vorstellungen zu gewinnen vermochte, die Polen nicht an sein Programm oder seine Person binden konnte.

Folgenschwerer war allerdings, daß das Vertrauen der Wähler in die Lech Walesa unterstützenden Parteien bei ihrer Entscheidung nur am Rande eine Rolle spielte (9 Prozent), während es zwischen den beiden Wahlgängen bei denen, die den späteren Präsidenten befürworteten, von 10 auf 21 Prozent anstieg.2 Eine solche Haltung entsprach im übrigen ganz und gar den Umfrageergebnissen, an denen schon vor dem ersten Wahlgang absehbar war, daß sich die Anforderungen, die der Wähler an die Kandidaten stellte, geändert hatten: So fanden nur noch 10 bis 14 Prozent der Befragten, der zukünftige Präsident müsse katholisch, patriotisch oder echter Pole sein, während Kompetenz (29 Prozent), Ehrlichkeit (35 Prozent) und vor allem „Verständnis für die Probleme der einfachen Leute“ (46 Prozent) ausschlaggebend waren.

Das Scheitern des vormaligen Gewerkschaftsführers, der so etwas wie der Meßdiener des katholischen Polen geworden war, sich mit seinen früheren Freunden überworfen hatte und aufgedunsen und aufbrausend auf seinem Präsidentenstuhl saß, diskreditiert natürlich keineswegs den gewaltigen und völlig eigenständigen Kampf von Solidarnosc gegen das alte Regime Polens.

Im übrigen ist die Zusammensetzung der jeweiligen Wählerschaft beim zweiten Durchgang3 ebenso bunt wie überraschend: Lech Walesa hat selbstredend sämtliche Stimmen der Rechten für sich verbuchen können, er hat allerdings auch einen Teil der ländlichen Wähler der Partei des Polnischen Volkes (PSL) an sich gebunden, die mit den Exkommunisten eine Koalition bildet; umgekehrt verdankt Aleksander Kwasniewski seinen Sieg vermutlich dem Umstand, daß ein Teil (42 Prozent) der zunächst für Jacek Kuron sowie für Tadeusz Zielinski (davon 64 Prozent) abgegebenen Stimmen – beides Kandidaten, die aus der Solidarnosc- Bewegung hervorgegangen sind – an ihn gefallen ist. Dementsprechend kann man sagen, daß Wertvorstellungen und Personen aus der glorreichen Zeit des Kampfes um die Demokratie in Polen in beiden Lagern zu finden sind.

Die gegnerischen Lager

DREI der vier Hauptkandidaten des ersten Wahlgangs waren frühere Mitglieder von Solidarnosc: Neben dem scheidenden Präsidenten gilt dies für Jacek Kuron, Begründer der demokratischen Opposition in Polen sowie einer der führenden Köpfe der unabhängigen Gewerkschaft und zweimaliger Arbeitsminister nach 1989, der 9,2 Prozent der Stimmen erringen konnte, und für Jan Olszewski, Anwalt der Dissidenten zur Zeit des Sozialismus und späterer Berater der Solidarnosc, der 1992 Premierminister war und nun 6,9 Prozent der Stimmen erhielt.

Ihre divergierenden Positionen sowie ihre gemeinsame Gegnerschaft zu Walesa sind keineswegs nur Ausdruck persönlicher Konflikte, denn von Anfang an war das „Lager der Solidarnosc“ von unterschiedlichen politischen Strömungen geprägt. So verkörpert Jacek Kuron die sozialdemokratische und laizistische Linke, während Jan Olszewski eher die Hoffnungen der nationalbewußten, katholischen und konservativen Rechten auf sich vereint und Lech Walesa seinerseits einen nicht näher definierten christdemokratischen Populismus vertritt.

Diese Spaltungen entstammen nicht allein ideologischen Differenzen, vielmehr haben sie sich in den politischen Erfahrungen der vergangenen sechs Jahre sowohl in der Opposition wie in ihrer Regierungszeit herausgebildet und sich dem Bewußtsein der Menschen deutlich eingeprägt. Die politische Reife der polnischen Wähler ist nach diesen ersten Jahren demokratischer Herrschaft vor allem in ihrer Fähigkeit begründet, zwischen den verschiedenen Konzepten unterscheiden und die Kontroversen der Vergangenheit hinter sich lassen zu können.

Ebenso bunt zusammengewürfelt ist auch das Lager der „Exkommunisten“. Zwar hat sich deren Kandidat für eine Fortsetzung der Reformen, für die Privatisierung, für einen Beitritt zur Europäischen Union und die Mitgliedschaft in der Nato ausgesprochen; aber die politischen Kräfte, die ihn gewählt haben, sind durch wenigstens drei unterschiedliche, wo nicht gegensätzliche Einstellungen gekennzeichnet.

Zunächst einmal hat Aleksander Kwasniewski all die hinter sich versammelt, die mit dem Wandel unzufrieden sind; diejenigen also, die auf dem Land oder in mittelgroßen Städten, im öffentlichen Dienst oder in den umgewandelten Großbetrieben die von der Regierung unter Tadeusz Mazowiecki praktizierte „Schocktherapie“ teuer haben bezahlen müssen. „Im Jahre 1989“, so erläuterte Kwasniewski vor seiner Wahl in einem Interview mit der Prawda, „haben die Polen jene gesellschaftliche und ökonomische Utopie kritisiert, die da ,entwickelter Sozialismus' hieß. 1995 haben sich Millionen Wähler gegen eine neue Utopie ausgesprochen, gegen einen Liberalismus, der verkündete, daß sämtliche Probleme durch die unsichtbare Hand des Marktes gelöst würden. Nunmehr ist es an der Zeit, nach einer pragmatischen Lösung zu suchen.“

Diese Unzufriedenheit ist von den Gewerkschaften der OPZZ, die in den Betrieben über eine große Mehrheit verfügen4, sowie von den Ortsvereinen der Partei des Polnischen Volkes (PSL), die auf dem Land (wo noch mehr als 20 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung beschäftigt sind) fest verankert ist, geschickt ausgenutzt worden. Die Wähler aus OPZZ- Kreisen sind nicht prinzipiell reformfeindlich gesinnt, eher verlangen sie nach ruhigen Verhältnissen und mehr Effektivität; nicht wenige gehören der jüngeren Generation an. Dagegen sind zumal unter den Anhängern der PSL konservative Einstellungen verbreitet, mit deutlichen Vorbehalten gegenüber der Privatisierungspolitik. Deren Wähler fühlen sich von den polemischen Äußerungen des PSL-Abgeordneten Bogdan Pek angesprochen, der die von der Privatisierung bewirkte Verschleuderung des Volksvermögens zu geißeln pflegt. Im übrigen beruhte schon die Untätigkeit der Regierung von Waldemar Pawlak, die aus den Wahlen von 1993 hervorgegangen war, eher auf dieser national-konservativen Hinhaltepolitik der PSL als auf dem Widerstand von Exkommunisten mit nostalgischen Gefühlen für das alte Regime.

Eine dritte Richtung schließlich wird von Kwasniewski selbst repräsentiert, und mehr noch von seinem stellvertretenden Premier- und gleichzeitigen Finanzminister Grzegorz Kolodko. Hier finden sich jene heute Vierzigjährigen, die aus den reformwilligen Strömungen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (der kommunistischen PVAP) hervorgegangen sind und deren Karriere in den achtziger Jahren ihren Höhepunkt fand. Diese Politiker sind den liberalen Positionen gegenüber aufgeschlossen und identifizieren sich vorzugsweise mit der zentristischen Entwicklung unter den britischen Labourpolitikern. Sie sind es denn auch, die in künftigen Regierungsmannschaften voraussichtlich den Ton angeben werden und als die eigentlichen Gewinner der Präsidentschaftswahlen dastehen.

Wer aber sind, neben Lech Walesa, die Verlierer? Zu Recht haben alle Kommentatoren auf die Niederlage der Kirche hingewiesen. Einmal mehr haben die Wähler deutlich gemacht, daß sie keine direkte politische Einflußnahme durch den katholischen Klerus wünschen; insbesondere seinem anmaßenden Auftreten – beim Abtreibungsgesetz und beim Religionsunterricht an den Schulen – haben sie eine glatte Abfuhr erteilt und damit ihre laizistische Haltung bekräftigt. Bereits bei den Parlamentswahlen von 1993 waren die Nationalkatholiken, obschon Koalitionspartner in der Regierung von Hanna Suchocka5, vom Wähler in die Schranken gewiesen worden und hatten die Fünfprozenthürde nicht überspringen können.

Zu den Verlierern gehört auch die Bauernpartei (PSL), deren Vorsitzender Waldemar Pawlak im ersten Wahlgang lediglich 4,1 Prozent der Stimmen erhielt, während er bei den Parlamentswahlen achtzehn Monate zuvor noch 12 Prozent für sich verbuchen konnte. Er sah sich hin und her gerissen zwischen seinem Bündnis mit Kwasniewski und einem Wählerpotential, das ihm letztlich die Gefolgschaft versagte (und seine Stimmen entweder lieber Walesa und Kuron oder gleich Kwasniewski zukommen ließ).

Im Grunde kommen diese Niederlagen keineswegs überraschend, vielmehr entsprechen sie durchaus den tiefgreifenden Veränderungen einer Gesellschaft, die sich der Welt öffnet, sich demokratisiert und modernisiert, einem Polen also, das von einer jungen Generation und wirtschaftlichem Wachstum vorangetrieben wird.

Demgegenüber sieht sich die aus der Solidarnosc hervorgegangene demokratische Linke, die ihre Hoffnungen auf die Kandidatur Jacek Kurons gesetzt hatte, der Gefahr gegenüber, daß sie der Sieg Aleksander Kwasniewskis teuer zu stehen kommt. Gespalten wie sie ist, verliert sie ihre politische Meinungsführerschaft, die ihr zu einem Gutteil von der neuen Führung entrissen werden wird. Da sie sich, im Namen einer längst überholten Vergangenheit, heillos in Bündnisse mit den Christdemokraten verrannt hat, ist sie außerstande, Alternativen anzubieten, und wird daher die Oppositionsführung der Rechten überlassen müssen. Angesichts ihres Dilemmas droht der historische Kern der demokratischen Opposition weitgehend von der politischen Bühne zu verschwinden. Auch darin deuten die zurückliegenden Präsidentschaftswahlen auf eine entscheidende Wende in der politischen Geschichte Polens hin.

dt. Rolf Schubert

1 Er erhielt 48,28 Prozent der abgegebenen Stimmen gegenüber 51,72 Prozent für Aleksander Kwasniewski.

2 Wählerbefragung durch das OBOP-Institut nach Schließung der Wahllokale, Gazeta Wyborcza vom 6. Dezember 1995.

3 Im ersten Wahlgang vom 5. November entfielen nach amtlichen Endergebnissen 35,11 Prozent auf Aleksander Kwasniewski, 33,11 Prozent auf Lech Walesa, 9,22 Prozent auf Jacek Kuron, 6,86 Prozent auf Jan Olszewski, 4,10 Prozent auf Waldemar Pawlak und 3,53 Prozent auf Tadeusz Zielinski.

4 In Polen gibt es ein Dutzend überregionaler oder branchenspezifischer Gewerkschaften; der Mitgliederzahl nach sind allerdings OPZZ und Solidarnosc (4,5 bzw. 1,7 Millionen Mitglieder) die beiden wichtigsten.

5 In deren Regierung sie die Ministerien für Erziehung, Gesundheit und Kultur innehatten!

Institut für Europäische Studien an der Universität Paris-VIII.

erpartei (der kommunistischen PVAP) hervorgegangen sind und deren Karriere in den achtziger Jahren ihren Höhep

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Im Grunde kommen diese Niederlagen keineswegs überraschend, vielmehr entsprechen sie

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Jean-Yves Potel