12.01.1996

Uruguay sucht seinen Platz im Mercosur

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Uruguay sucht seinen Platz im Mercosur

AM 15. Dezember vergangenen Jahres unterzeichnete der Präsident Uruguays, Julio Maria Sanguinetti, in Madrid einen wichtigen Vertrag zwischen dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt (Mercosur), dessen Vorsitz er zu diesem Zeitpunkt einnahm, und dem Europa der Fünfzehn. Das Dokument sieht die Aufnahme eines regelmäßigen politischen Dialoges und insbesondere die Einrichtung einer Freihandelszone im Jahre 2005 vor. Der Mercosur wird somit immer mehr zum ökonomischen Rahmen, in dem die kleine Republik Östlich des Uruguay, wie sie offiziell heißt, einen eigenständigen Platz an der Seite Paraguays und der beiden Riesen Argentinien und insbesondere Brasilien finden muß.

Von unserem Sonderkorrespondenten EDOUARD BAILBY *

Bei Einbruch der Nacht zuckeln durch Montevideos Straßen zahllose carritos, zweirädrige Pferdekarren, über und über mit den Abfallsäcken beladen, welche die Lumpensammler vor den Wohnhäusern aufsammeln. Manche wagen sich, im Zickzack zwischen Autos und Bussen durchlavierend, sogar in die Avenida 18 de Julio, die zentrale Einkaufsstraße der Stadt. Mehrere tausend Menschen ziehen so Nacht für Nacht durch die Hauptstadt, um mit dem Weiterverkauf der Abfälle ein bißchen Geld zu verdienen. Eine traurige Folge der Arbeitslosigkeit, die seit vier Jahren ständig zunimmt und von der inzwischen ein Zehntel der aktiven Bevölkerung betroffen ist.

Dennoch vermittelt Montevideo mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern weiterhin den Eindruck einer friedlichen Mittelstandsstadt. An der Mündung des Rio de la Plata erbaut, einem 280 Kilometer breiten Flußdelta, blieb sie bisher von der Hektik und Unruhe der südamerikanischen Metropolen Buenos Aires und São Paulo verschont. Die Kriminalität ist nach wie vor eine Randerscheinung. In den öffentlichen Anlagen mit ihren majestätischen Palmen scheinen sich Studenten und Rentner um das Drängen der Zeit nicht zu sorgen. Abends bleiben im Stadtzentrum die Buchhandlungen bis um Mitternacht geöffnet – ein Zeichen für die Lesefreudigkeit der Bevölkerung dieses Landes, das Analphabetismus praktisch nicht kennt.

Zu Anfang des Jahrhunderts hatten die beiden Colorado-Regierungen unter Präsident José Battle y Ordoñez1 (1903-07 und 1911-15) mit der Einführung des laizistischen und kostenlosen Schulunterrichts, sozialer Absicherungen, Familienbeihilfen, großzügiger Pensionen und Vollbeschäftigung kühne Reformen durchgeführt und damit das Land an die Spitze des Fortschritts gesetzt. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Koreakonflikt Anfang der fünfziger Jahre setzten diesem außerordentlichen Wohlstand ein Ende. Durch den Preisverfall bei Fleisch und Getreide, den beiden wichtigsten Exportgütern, wurden die Errungenschaften der Vergangenheit in Frage gestellt. Es war die Zeit der Tupamaros, einer einflußreichen Stadtguerillabewegung, deren Aktionen weltweit durch die Medien gingen. Inmitten der Unruhen übernahmen 1973 die Militärs die Macht. Ihre Diktatur sollte elf Jahre dauern und eine der repressivsten des Kontinents sein.

Da es den Militärs trotz der Verhaftung Tausender Oppositioneller nicht gelang, die Situation in den Griff zu bekommen, mußten sie Verhandlungen mit der Opposition aufnehmen. Bei den Wahlen im November 1984 verboten sie der Linken dennoch, eigene Kandidaten aufzustellen. Nur knapp gelang es Julio Maria Sanguinetti vom gemäßigten Flügel der Colorado-Partei, zum Präsidenten der Republik gewählt zu werden. „Einen Großteil meiner Zeit widmete ich der Aufgabe, den schwierigen demokratischen Übergang zu festigen“, stellte er im nachhinein fest. Die wichtigsten Maßnahmen seiner Regierung bestanden in der Legalisierung aller politischen Parteien, einer Amnestie für die gefangenen Guerilleros, der Rückkehr der Emigranten und der Wiedereinstellung der 3000 von den Militärs entlassenen Beamten.

Um die Rachegefühle aus vergangenen Zeiten zu überwinden und den Dialog zwischen allen aktiven Kräften der Nation zu fördern, wurde im April 1989 ein Referendum über ein Amnestiegesetz durchgeführt, mit dem die Verbrechen der Militärs getilgt wurden. Es fand die Zustimmung von 56 Prozent der Wähler. Damit war in Uruguay die Basis für einen Neuanfang gelegt, und das Land konnte sich an die Wiederankurbelung seiner Wirtschaft machen, die bereits einem den Thesen des Internationalen Währungsfonds (IWF) verpflichteten Kurs folgte.

Bei den fünf Jahre später gemäß der Verfassung von 1986 durchgeführten Neuwahlen, aus denen Luis Alberto Lacalle von der Nationalpartei (den „Blancos“) als Präsident hervorging, erlebte das Land eine Riesenüberraschung. Erstmals eroberten die Kräfte der Linken, die sich in der Frente Amplio (Breite Front) – einer vom General im Ruhestand Liber Seregni gegründeten und geführten Organisation – zusammengeschlossen hatten, das Bürgermeisteramt von Montevideo. Der neue Bürgermeister Tabaré Vázquez, von seinem Amt her die zweitwichtigste Persönlichkeit des Landes, widersetzte sich entschieden der neoliberalen Politik, die der Staatschef zu verstärken gedachte. Ende 1991 sprachen sich im Zuge eines Referendums über die Privatisierung öffentlicher Unternehmen 70 Prozent der Wähler gegen den Gesetzentwurf aus, der vom Parlament angenommen worden war.

Im November 1994 fanden zum dritten Mal seit Beendigung der Diktatur Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Julio Maria Sanguinetti, der sein sozialdemokratisches Mäntelchen abgelegt und gegen das eines liberalen Rechten ausgetauscht hatte, wurde erneut für fünf Jahre zum Präsidenten gewählt. Doch angesichts der Verschärfung der Wirtschaftskrise, einer weitgehend ungebremsten Inflation, die sich 1995 auf 45 Prozent belief, der Schließung von Klein- und Mittelbetrieben, die bei einer Gesamtbevölkerung von 3,1 Millionen Menschen über 130000 Lohnabhängige zur Arbeitslosigkeit verurteilt und weiteren 570000 Arbeitnehmern lediglich Teilzeitarbeit ermöglicht2, sicherte sich die Frente Amplio mit 44 Prozent der Stimmen für den Architekten und Stadtplaner Mariano Arana zum zweiten Mal die Stadtverwaltung von Montevideo. Bedeutender noch war der landesweite Erfolg mit 29,2 Prozent der abgegebenen Stimmen, gegenüber 29,4 Prozent für die Nationalpartei und 30,5 Prozent für die Colorado-Partei, womit dem traditionellen Zweiparteiensystem ein Ende gesetzt wurde.

Wie wird es angesichts dieser neuen Situation weitergehen? „Die Linke ist nach wie vor von der marxistischen Ideologie geprägt“, beklagt Präsident Sanguinetti zwar, gibt jedoch zu, daß „in bestimmten Fragen ein Dialog möglich ist“. Mariano Arana ist nicht gegen eine konstruktive Koexistenz mit der Regierung, doch denkt er nicht daran, seine sozialpolitischen Pläne in Frage zu stellen oder auch nur die Entwicklung von Montevideo, das er zu einer Drehscheibe des Mercosur machen möchte, zu verlangsamen.

Selbst der 79jährige General Liber Seregni lehnt punktuelle Vereinbarungen nicht grundsätzlich ab. Doch sein Standpunkt ist klar: „In der Frente Amplio, die sich seit 25 Jahren allen Widrigkeiten zum Trotz gehalten hat, sind 18 politische Parteien und Bewegungen vertreten, die Tupamaros eingeschlossen. Wir haben ein klares, präzises Programm, das dem der Regierungskoalition zuwiderläuft. Wir lehnen die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds ab, da sie einem Land wie dem unseren nicht angemessen sind: Wir meinen, daß der Staat für einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten sorgen muß.“

In einem Punkt scheint sich die überwältigende Mehrheit aller Uruguayer einig zu sein: An der regionalen Integration führt kein Weg vorbei. Der am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Mercosur, dem vier Nationen des Plata-Beckens – Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – angehören, ist eine Realität, innerhalb derer das Land einen eigenen Platz finden muß. Denn Uruguay, ein kleines Land mit einer Fläche von 176215 Quadratkilometern, das von Norden nach Süden kaum 600 Kilometer lang ist, liegt zwischen den Riesen Argentinien und Brasilien. Die politische Führung will sich aber nicht mit einer passiven Rolle begnügen, die die Unabhängigkeit gefährden könnte. Infolge seiner langen diplomatischen Tradition und der besonderen geographischen Lage kann Uruguay als Verbindungsglied zwischen den zwei mächtigen Nachbarn fungieren und so, in Zusammenarbeit mit Paraguay, das Gleichgewicht in der Region erhalten. In diesem Sinn möchte Mariano Arana Montevideo, der „Kulturhauptstadt Iberoamerikas 1996“, eine ähnliche Rolle sichern, wie sie Brüssel in der Europäischen Union einnimmt. Damit Uruguay voll vom gemeinsamen Markt profitieren kann, sind kühne Projekte in Planung. Zunächst eine 48 Kilometer lange Brücke über den Rio de la Plata, die Colonia del Sacramento mit Buenos Aires verbinden soll. Mit dieser Eröffnung einer internationalen Verkehrsachse würde der Warentransport zwischen São Paulo, der bedeutendsten Industriemetropole Lateinamerikas, und der argentinischen Hauptstadt, die mehr als acht Millionen Einwohner zählt, vereinfacht. Über den Uruguay- Fluß führen bislang nur zwei befahrbare Brücken in recht wenig entwickelten Regionen weit nördlich von Montevideo.

Ein zweites Projekt stößt insbesondere unter Umweltschützern auf heftige Kritik: die Hidrovia zwischen Caceres im Landesinneren Brasiliens und Nueva Palmira in Uruguay. Mit einer regelrechten Flußautobahn sollen die Flüsse Paraguay und Parana auf einem Verlauf von 3400 Kilometern für Frachter schiffbar gemacht werden. Dafür müßten zahlreiche Baumaßnahmen durchgeführt werden, die katastrophale Folgen für das ökologische Gleichgewicht des brasilianischen Pantanal, eines der ausgedehntesten Feuchtgebiete der Erde, haben könnten. Die Befürworter der Hidrovia verweisen jedoch darauf, daß die damit verbundene Senkung der Transportkosten eine außerordentliche Chance für einen Wirtschaftsaufschwung in den vier Ländern des Mercosur bieten würde. Uruguay wickelt 46,7 Prozent seines Handels mit den drei angrenzenden Staaten ab. Es hat den Vorteil, daß die Arbeitskräfte im Land besser ausgebildet und die Produktionskosten niedriger sind.3 Seine im wesentlichen auf dem Export von Fleisch, Leder und Fellen, Wolle sowie Milchprodukten beruhende Wirtschaft hat jedoch mit der Konkurrenz von Brasilien und Argentinien zu kämpfen, wo immer mehr multinationale Unternehmen tätig werden. Hier liegt das Problem. Uruguay muß seine landwirtschaftlichen und industriellen Strukturen modernisieren, um sich erfolgreich den Herausforderungen des Mercosur stellen zu können. Man muß nur die Avenida 18 de Julio entlangspazieren, in der sich Wechselstuben und Geschäfte aneinanderreihen, um festzustellen, daß hier Produkte aller Art, die großteils aus Südostasien importiert werden, zu lächerlichen Preisen Absatz finden, was Dutzende von uruguayischen Klein- und Mittelbetrieben in den Konkurs treibt. Vieles kommt aus Ciudad del Este, einer Stadt in Paraguay, wo 10000 Duty-free-Läden im Jahr 1995 mehr als vier Millionen Brasilianer angezogen haben.

Die erste offizielle Reise nach seinem Amtsantritt im März 1995 führte den Präsidenten Julio Maria Sanguinetti nach Brasilia. Als persönlicher Freund von Henrique Cardoso, dessen Währungspolitik er bewundert, wollte er mit dieser Entscheidung seine Prioritäten setzen. Gleichwohl ist er scharfsichtig genug, um zu bedauern, daß Brasilien zeitweilig seine nationalen Interessen über die regionalen Verpflichtungen stellt. Seine Sorge um das Gleichgewicht zwischen den beiden mächtigen Nachbarn hat Sanguinetti kurz darauf auch nach Buenos Aires geführt, obwohl er für den argentinischen Präsidenten Carlos Menem nur wenig Sympathien hegt. Gegenwärtig profitiert Uruguay mehr von der Stabilität der brasilianischen Währung (dem Real), als es unter der argentinischen Rezession leidet, obwohl sich diese negativ auf die Wirtschaft des Landes auswirkt. Die Zahl der argentinischen Touristen, die sich 1994 noch auf 1579684 belief (gegenüber 144041 Brasilianern), ging 1995 dramatisch zurück.4 Und was vielleicht noch schlimmer ist: Die Investitionen im Immobilienbereich, insbesondere in der Nähe der Strände von Punta del Este, die an natürlicher Schönheit in Argentinien ihresgleichen suchen, sind praktisch inexistent.

Durch innere Probleme geschwächt, sucht Uruguay seinen Platz im Mercosur. Dank des guten Ausbildungsniveaus seiner Techniker und Ingenieure kann das Land mit einer raschen Entwicklung von Spitzentechnologien rechnen. Doch dazu benötigt es ausreichende finanzielle Mittel, die das ausländische Kapital bereitstellen kann. Dies ist eine entscheidende Frage für eine kleine Nation, in der nach wie vor die Meinung vorherrscht, daß der Staat seine vorrangige Rolle weiterhin zu erfüllen habe.

In seinem bescheidenen Büro in der Zentrale des wichtigsten Gewerkschaftsdachverbands erhofft sich Eduardo Fernàndez, der Verantwortliche für internationale Beziehungen, einiges von den Erfahrungen seiner Kollegen in der Europäischen Union. „Wir sind für die regionale Integration“, betont er. „Doch wir wollen nicht, daß sie auf Kosten der Arbeitnehmer geht. Mit der gegenwärtigen Regierung, die an der Linie des IWF festhält, kann sich die Rezession jedoch nur verschärfen.“

Nach der Phase des demokratischen Umbaus in den achtziger Jahren ist die Republik Uruguay in jene der Neubestimmung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eingetreten. Während Brasilien und Argentinien vier Fünftel des Bruttoinlandsproduktes (BIP) des Mercosur stellen, ist Uruguay nur mit 1,5 Prozent daran beteiligt.5 Dazu kommt, daß die beiden südamerikanischen Riesen mit 98 Prozent zur industriellen Produktion und mit 93 Prozent zum gesamten Handel der Subregion beitragen. Die Führung in Montevideo und die gesamte Politikerschicht werden viel Phantasie für den zukünftigen Aufbau des Landes aufbringen müssen.

dt. Birgit Althaler

1 Die zwei traditionellen Parteien Uruguays sind die „Blancos“ (die konservative Nationalpartei), die ihren Rückhalt vor allem auf dem Land haben, und die „Colorados“, d.h. die „Roten“ (Liberalen), die aus dem städtischen Milieu hervorgegangen sind.

2 „Informe de coyuntura, situación actual y perspectivas“, Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT, Montevideo, erstes Halbjahr 1995.

3 Busqueda, Montevideo, 25. Mai 1995 und 3. August 1995.

4 Uruguayisches Ministerium für Tourismus, Montevideo, 1995.

5 Jorge Grandi, „Le Mercosur en période de transition, évaluation et perspective“, Problèmes d'Amérique latine, April-Juni 1995, Paris (La Documentation française).

* Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996, von Edouard Bailby