12.01.1996

Der Verrat der Intellektuellen

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Der Verrat der Intellektuellen

Bereits 1927 beklagte der französische Schriftsteller Julien Benda (1867-1956), Autor von „Belphégor“ (1919) und „La France byzantine“ (1945), in seinem berühmtesten Buch, „Der Verrat der Intellektuellen“, daß die französischen Intellektuellen vor ihrer Aufgabe, den demokratischen Rationalismus zu verteidigen, kapituliert hätten.

Die Hingabe des Intellektuellen an seine Nation oder Klasse, ob nun von Liebe oder Interessen diktiert, ist zweifellos aufrichtig. Ich will gestehen, daß mir solche Aufrichtigkeit ansonsten recht selten vorzukommen scheint. Die geistige Lebensweise führt meines Erachtens zwangsläufig zum Universalismus, zur Herausbildung eines Sinns für das Ewige, und schränkt die Fähigkeit zum Glauben an irdische Fiktionen weitgehend ein. Was insbesondere die Nationalleidenschaft angeht, vor allem ihr Auftreten bei den Literaten, so scheint die Aufrichtigkeit dieser Passion eine Eigenschaft vorauszusetzen, die – hier wird mir jedermann beipflichten wollen – keineswegs kennzeichnend für den Intellektuellenstand ist: Naivität. Man wird mich auch schwerlich davon überzeugen, daß politische Einstellungen von Künstlern sich aus so prosaischen Beweggründen wie dem Wunsch, zu leben und zu essen, herleiten. Ich forsche also weiter – und entdecke andere Ursachen für den Realismus des modernen Intellektuellen, die obgleich weniger naturbedingt, doch nicht weniger tief liegen. Sie scheinen mir vor allem bei den Literaten im Spiel zu sein, besonders bei denen in Frankreich. (...) In erster Linie fällt mir da ihr Karrierestreben auf. (...)

Aus diesen Überlegungen erklärt sich das in Frankreich so häufig zu beobachtende Bestreben zeitgenössischer Schriftsteller, politisch Stellung zu beziehen; aber es bleibt noch ungeklärt, warum die Stellung dann mit solch schöner Regelmäßigkeit (mehr oder weniger offen) auf der autoritären Seite zu finden ist.(...)

Um auf den modernen Schriftsteller und die Ursachen für seine politische Haltung zurückzukommen, will ich hinzusetzen, daß er nicht nur einer unruhig gewordenen Bourgeoisie zu Diensten steht, sondern auch selbst immer mehr zum Bourgeois geworden ist, versehen mit allem gesellschaftlichem Drum und Dran und mit dem Status, der diese Stellung auszeichnet (der Literat als „Bohèmien“ ist eine nahezu ausgestorbene Gattung, jedenfalls unter den Meinungsbildnern). Infolgedessen ist er zunehmend von der bürgerlichen Geistesform geprägt, zu deren markantesten Zügen es gehört, die politischen Einstellungen der Aristokratie zur Schau zu tragen: die Verbundenheit mit autoritären Regimen, mit militärischen und kirchlichen Institutionen, die Verachtung für Gesellschaftsordnungen, die auf Gerechtigkeit und gleichen Bürgerrechten basieren, der Vergangenheitskult usw.

(Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen, Vorwort von Jean Améry, Frankfurt a. M. (Fischer) 1988, S. 193-197.)

Le Monde diplomatique vom 12.01.1996