Vorstadtfieber
Von
CAMILLE
BONNEVILLE
NUN bemüht man sich in Frankreich schon seit über zwanzig Jahren, den Schaden zu reparieren, den die Stadtplanung in jenen Siedlungsgebieten angerichtet hat, die nach dem Krieg als „vorrangig zu urbanisierende Zonen“ (ZUP) eingestuft wurden. Renovierungen, Abrisse, Modernisierungen, soziale Einrichtungen und Eingliederungsmaßnahmen aller Art: der Staat, die Städte und andere Organisationen haben keine Mühe gescheut, den fundamentalen Fehler zu beheben, der darin bestand, in reinen Schlafstädten eine uniforme und mehrheitlich aus Immigranten bestehende Bevölkerung konzentriert zu haben, die in den Fabriken der Umgegend arbeitete. Man sollte dabei nicht vergessen, daß diese Satellitenstädte damals für all jene, die im Frankreich der fünfziger Jahre in armseligen Unterkünften und Elendsvierteln hausten, durchaus einen Fortschritt bedeuteten.
Obwohl von den besten Absichten getragen, haben die Behörden die Probleme dennoch zur falschen Zeit in Angriff genommen. In der Blütezeit des industriellen Aufschwungs, als die in den Satellitenstädten lebenden Menschen Arbeit hatten, kümmerte man sich wenig um ihre soziale Integration oder die ihrer Familien, um die schulischen Schwierigkeiten der Kinder und den Analphabetismus der Eltern.
Als die Krise begann und die unqualifizierten Arbeitskräfte den großen Entlassungswellen in der Industrie zum Opfer fielen, hat sich die Arbeitslosigkeit dauerhaft in den Vorstädten festgesetzt. Damals entwickelte sich ein soziales Umfeld, für das bis dahin nicht gesorgt worden war: Vereinsleben, Sport- und Freizeitangebote, Elterntreffs, Musikcafés... Doch zu spät. Die soziokulturellen Aktivitäten, die an die Stelle der Berufstätigkeit getreten waren, konnten diese nicht ersetzen. Schnell erfolgte der Zerfall aller gesellschaftlichen Bindungen: die Eltern waren wie gelähmt, unter den Jugendlichen grassierte die Gewalt.
Seit dem Sommer 1981 und den „Rodeos des Minguettes“1 an der Peripherie von Lyon ist das Vorstadtfieber zu einem anerkannten gesellschaftlichen Problem geworden, das die Aufmerksamkeit von Behörden, Presse und Wissenschaftlern auf sich zieht und zu einer beeindruckenden Fülle von Untersuchungen und Berichten Anlaß gegeben hat.
Taylorisierung des Raums
AUFGRUND der zahlreich festgestellten Handicaps – unwürdige Wohnverhältnisse, schulische Mißerfolge, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Armut etc. – hat sich eine städtische Politik mit festen Strukturen (erst nationale Kommissionen, dann interministerielle Delegation und, seit 1991, Ministerium) herausgebildet, die mit Sonderfinanzierungsmaßnahmen und neuen Verfahrensweisen gerüstet wurde.2 Der Grundgedanke dabei war, die staatliche Intervention auf einige vorrangige Gebiete zu konzentrieren und hier soziourbane, gemeinsam vom Staat und von den Kommunen finanzierte Entwicklungsprojekte unter Einbeziehung der Bewohner durchzuführen.
Diese großzügigen Prinzipien, die eine „positive Diskriminierung“ zugunsten der heruntergekommensten Viertel und eine „partnerschaftliche“ Mobilisierung anpriesen, wurden trotz der politischen Veränderungen in Frankreich seit 1981 nie in Frage gestellt. Dabei waren die unheilvollen Auswirkungen schnell zutage getreten: „Stapel von Verträgen ohne wirkliches Zusammenwirken“ (Simone Veil im April 1993, als sie Ministerin für Soziales, Gesundheit und städtische Angelegenheiten war), Schwierigkeiten bei der interministeriellen Zusammenarbeit, beständiges Mißtrauen, was die Praxis der Dezentralisierung anbelangt, und vor allem endlose Debatten über Anzahl und Begrenzung der vorrangigen Viertel, deren Zahl unaufhörlich gewachsen ist. Die 214 städtischen Verträge, die 1994 unterzeichnet wurden, decken gegenwärtig 1308 Viertel ab. Kümmert man sich besser um die schwierigen Viertel, oder gibt es zu viele davon?
Wie dem auch sei, die Lage verbessert sich nicht, trotz der vielen innovativen Experimente.3 Derweil gefällt sich die Verwaltung in ihrer Kreativität und erachtet diese Orte als ein Laboratorium ihrer eigenen Veränderung. Das Gegenteil wäre besser.4 Denn die Arbeitslosigkeit ist mehr als alarmierend (zwischen 19 und 40 Prozent), und schon die zwölfjährigen Kinder greifen zur Gewalt.
Alles hat den Anschein, als wären die Akteure der städtischen Politik nur zu einer Reproduktion ihres eigenen sozialen und administrativen Modells in der Lage. Wirtschaftliche Akteure fehlen. Die Einrichtung von Freizonen ist der letzte Kunstgriff, um Unternehmer mittels außerordentlicher Steuervorteile anzulocken: eine Maßnahme, die nicht unwesentliche widerläufige Auswirkungen zeitigen könnte. Die Marginalisierung dieser Viertel nimmt zu, auch wenn der Lebensrahmen verschönert wird. Die Abgrenzung der Territorien und die Taylorisierung des Raums nehmen eine obsessive Wendung an. Wird man eines Tages Zäune errichten und die Bewohner mit Stickern versehen, damit man weiß, wer in den Genuß der positiven Diskriminierung kommt?
Das permanente Entwickeln von Ideen und städtischen Aktionen in Frankreich ist seit zwanzig Jahren augenscheinlichste Tatsache. Die Absichten der Verantwortlichen zielen nach wie vor darauf, Abhilfe gegen die Ausgrenzung zu schaffen, ob es sich dabei um ganze Städte oder um verstreute Individuen handelt. Aber es gelingt ihnen nicht. Die Beherrschung des Problems verlangt eine enorme Anstrengung, die Schranken abzubauen, die zwischen den Verwaltungen, den Berufen, zwischen öffentlichem und privatem Bereich, zwischen Stadt und Land, zwischen Staat und Kommunen bestehen.
Der Diskurs über Globalität und Transversalität ist sinnlos, wenn er nicht zur Praxis führt, wenn die Kompetenzen und Arbeitsmethoden nicht mitziehen. Obwohl die Arbeitslosigkeit die größte Gefahr für die Städte und ihre Bevölkerung darstellt, bleiben zu viele Quellen ungenutzt: der ländliche Raum5, aber auch die Umgebung als Träger neuer Qualifizierungsmöglichkeiten, die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Die Öffnung Frankreichs zur Welt ist unnötig, wenn wir jede Schwierigkeit an eben dem Ort lösen wollen, an dem sie sich stellt. Doch es ist genau dieses unmögliche Szenario, das seit zwanzig Jahren gespielt wird. Taylor wütet nicht mehr in den Fabriken, aber er geht um in der Stadt, wo er die Intelligenz betäubt.
dt. Kora Perle
1 „Rodeos der Minguettes“: Anspielung auf die Ereignisse in der französischen Vorstadt Minguette bei Lyon. Jugendliche stahlen Autos und terrorisierten mit wilden Wettrennen die Stadt (d.Ü.).
2 Einige offizielle Anhaltspunkte: 1981, Bildung der nationalen Kommission für die Förderung der sozialen Entwicklung der Viertel (CNDSQ); Oneix-Bericht gegen Armut und soziale Instabilität; Schwartz- Bericht über die Integration der Jugendlichen. 1982, Dubedout-Bericht, Festlegung der Grundlagen städtischer Politik, Bildung des ZEP (Zonen mit Priorität Bildung, Erziehung); Bildung der lokalen Vertretungen. 1983, Bonnemaison-Bericht und Bildung des nationalen Komitees zur Vorbeugung gegen die Kriminalität (CNPD). 1988, Bildung der interministeriellen städtischen Delegation (DIV). 1990: Besson-Gesetz (Recht auf Wohnraum). 1991, städtisches Orientierungsgesetz (LOV). 1994 Unterzeichnung der städtischen Verträge.
3 Einige Beispiele: besondere Aktivitäten in den schwierigen Sommermonaten, Ferienlager etc. (OPE), lokale Pläne zur wirtschaftlichen Integration (PLIE), Viertel-Verwaltungen, Aufteilung in Häuserblocks, Rechtshäuser, nationaler Stadtdienst, „offene Schule“.
4 Provisorischer Bericht zur Bewertung der städtischen Politik (1993) und Bericht des Rechnungshofes (1995).
5 Einige Anzeichen gibt es schon: die Rückkehr der Arbeitergärten, ein System des lokalen Warentauschs (SEL), das es erlaubt, außerhalb des städtischen Marktes zu überleben.