Turin: Das Ghetto im Zentrum
Von
PAOLO
GRISERI *
AM Morgen des 12. September 1995 erwachen die Einwohner Turins mit dem Gefühl, um mehrere Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt zu sein. Die wachsenden Spannungen in der Stadt sind das Thema auf der Titelseite der Stampa. Die Intoleranz gegenüber außereuropäischen Immigranten ist zu diesem Zeitpunkt kurz davor, sich zu entladen. Übergriffe gegen Schwarze liegen in der Luft.
Wieder einmal zeigt sich die Industriestadt feindselig gegen Neuankömmlinge, ähnlich wie vor vierzig Jahren, als Fiat mit der Vergrößerung seiner Fabriken einen Exodus geradezu biblischen Ausmaßes aus dem italienischen Süden (vor allem aus Apulien und Kalabrien) auslöste. In kurzer Zeit stieg damals die Einwohnerzahl Turins von 700000 auf 1150000. Und die Bezeichnung Süditaliener bekam eine negative Bedeutung. An den Turiner Haustüren konnte man lesen: „Keine Vermietung an Süditaliener“. Manchmal hieß es statt „Süditaliener“ sogar „Marokkaner“...
Im Herbst 1995 bildet sich im Viertel San Salvario spontan ein Bürgerkomitee, das von den Behörden die Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“ fordert. Gegenstand des Protests ist die mit dem massiven Zustrom von Immigranten aus Nordafrika, Senegal, Nigeria und in jüngster Zeit Albanien einhergehende Kleinkriminalität. Die Polizei beschuldigt achtundfünfzig Personen, eine Strafexpedition gegen eine Gruppe von Marokkanern organisiert zu haben. Im Oktober finden mehrfach Fackelzüge gegen die „Illegalität“ statt: sie richten sich gegen aus außereuropäischen Ländern stammende Ausländer, die des Drogenhandels verdächtigt werden. Eine nächtliche Demonstration im Pellegrina-Park hat es auf nigerianische Prostituierte abgesehen.
Bei einer Parlamentsdebatte über die Verabschiedung eines härteren Gesetzes gegen die illegale Einwanderung versuchen alle Parteien, sich die verschiedenen Vorfälle zunutze zu machen. In einem Klima plattesten Wahlkampfes nehmen Rechte wie Linke an denselben Demonstrationen teil: die Rechte mit dem Anliegen, die Polizei solle wirksamer für öffentliche Sicherheit und Ordnung sorgen, die Linke, weil es „ein Fehler wäre, den Rechten den Protest gegen den Niedergang ganzer Viertel zu überlassen“.
Trotz all dieser politischen Manipulationen geben die Herbstdemonstrationen Anlaß, über die Probleme einer multiethnischen Gesellschaft nachzudenken. Den Beamten in der Turiner Ausländerbehörde zufolge ist die Zahl der außereuropäischen Immigranten in der Stadt relativ gering: Am 31. Dezember 1994 zählte man 23977 – das sind 2,5 Prozent der 950000 Einwohner –, zu denen man noch 6000 bis 7000 Illegale dazurechnen muß. „Das eigentliche Problem“, erklärt Edoardo Garrone, der Vorsitzende des Wahlbezirks San Salvario, „besteht darin, daß die Illegalen sich auf einige Viertel konzentrieren. Solange es sich um arme Leute handelte, die sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlugen, kam es zu keinen besonderen Reibungen. Im Gegenteil, die Leute im Viertel waren ihnen gegenüber tolerant. Spannungen gibt es erst seit dem Auftauchen tatsächlicher Krimineller: Der reiche schwarze Zuhälter mit Handy, arrogantem Lächeln und Geldscheinbündeln in den Taschen ermuntert nicht gerade zur Gastfreundschaft!“ Unter solchen Bedingungen ist eine Integrationspolitik keine leichte Sache. „Am intolerantesten“, erklärt Garrone, „sind die sogenannten Neuturiner, das heißt die Nachkommen der vor vierzig Jahren zugewanderten Süditaliener.“
Eine lokale Besonderheit: Die beiden Zonen, auf die sich die außereuropäischen Immigranten konzentrieren, liegen nicht am Stadtrand, sondern mitten in der Altstadt. San Salvario liegt am Hauptbahnhof Porta Nuova, während Porta Palazzo, nur wenige Schritte von den Schaufenstern der feinen Geschäfte entfernt, schon seit jeher den größten Markt beherbergt. Ein gewaltiger Unterschied zur Zuwanderung der Süditaliener vor vierzig Jahren.
Valentino Castellani, der 1993 an der Spitze einer Mitte-links-Koalition zum Bürgermeister von Turin gewählt wurde, sieht es so: „Die Immigranten aus Süditalien hatten große Integrationsschwierigkeiten, aber sie kannten keine Arbeitslosigkeit. Sie kamen nach Turin, um bei Fiat zu arbeiten. Ihr Problem war es, eine Unterkunft zu finden, so daß sie manchmal sogar abwechselnd in ein und derselben Wohnung wohnten: Wer nachts arbeitete, bewohnte sie tagsüber, und umgekehrt. Dann wurden die großen Trabantenstädte am Stadtrand, in der Nähe der Fabriken, gebaut, die allerdings nur schlecht an das Stadtzentrum angeschlossen sind. Heute stellen sich die Probleme ganz anders, denn die nichteuropäischen Immigranten, die nun zu uns kommen, haben keine Arbeit. Sie kommen her und hoffen, daß sie eine finden werden.“
So kommt es, daß sie in den heruntergekommenen Häusern der Bahnhofsgegend oder um den Markt von Porta Palazzo herum hängenbleiben. Auch sie finden nur schwer eine Wohnung: Sie leben zu Dutzenden zusammengepfercht in Mansarden und zahlen doch horrende Mieten an Wohnungsbesitzer, die selber vielleicht an Fackelzügen für „Recht und Ordnung“ teilnehmen. „Man muß eindeutig dafür sorgen“, bestätigt der Bürgermeister, „daß es nicht zu einer ständigen Notsituation kommt. Eine Einreisebeschränkung könnte vermeiden, daß die Spannungen weiter steigen.
Aber die Grenzen zu schließen ist unmöglich. Man kann schließlich nicht die Mauer in Berlin einreißen und dann eine neue mitten durchs Mittelmeer bauen. Die Bürgermeister der italienischen Großstädte sollten deshalb von der Regierung geeignete finanzielle Maßnahmen zur Renovierung der Altstädte fordern, wie dies in Frankreich bereits geschieht. Auf diese Weise können wir das Entstehen heikler Situationen wie in San Salvario und Porta Palazzo verhindern.“
Eine Frage von Augusto Cagnardi – dem Mailänder Stadtplaner, der zusammen mit Vittorio Gregotti den Entwurf für die Neugestaltung der Stadt entwickelt hat – bleibt unbeantwortet: „Als man uns gebeten hat, einen Plan für die zukünftige Raumordnung Turins zu entwerfen, haben wir uns gefragt: Soll man die Konzentration von Ausländern in bestimmten Vierteln eher begünstigen, auf die Gefahr hin, daß man damit echte Ghettos schafft, oder ist es besser, die Neuankömmlinge dazu zu bringen, sich zu verteilen, auf die Gefahr hin, daß sie sich isolieren und die Aufrechterhaltung des Kontakts zu ihren Landsleuten erschwert wird? Wir haben die Frage noch immer nicht entschieden.“
Turin hat zwanzig Jahre und mehr gebraucht, um die Immigranten aus Süditalien sozial und kulturell zu integrieren. Dabei waren die Ausgangsbedingungen günstiger: „Wer herkommt und einen sicheren Arbeitsplatz hat“, bemerkt Cagnardi, „ist kontrollierbar, da er voll in das Sozialsystem integriert ist.“ Wie viele Jahre wird Turin brauchen, um diejenigen aufzunehmen, die keine Arbeit haben und von einem anderen Kontinent kommen?
dt. Sigrid Vagt
* Journalist bei il manifesto, Rom