16.02.1996

Leipzig: Modell Grünau in Gefahr

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Leipzig: Modell Grünau in Gefahr

Von

PASCAL

THIBAUT *

MAN könnte genausogut irgendwo in Ostberlin sein oder in einem Vorort von Rostock, Halle oder Chemnitz: Das Neubauviertel Leipzig-Grünau sieht aus wie alle großen Neubaugebiete in der einstigen DDR. An einem kalten Wintertag macht es auf den ersten Blick den Eindruck eines unfreundlichen, tristen, langweiligen Ortes. Die Menschen versuchen, dem Wind zu entkommen, der um die Gebäude fegt, und so schnell wie möglich die eigenen vier Wände zu erreichen.

Das Viertel wirkt unfertig: ein ödes Stadtgebiet, wo spärliche Grünflächen dahinkümmern und nur wenige Geschäfte die vielen Bauten beleben. Zwar gibt es hier keine gigantischen Wohntürme und Riegelblöcke, aber doch stereotype fünf- bis sechzehnstöckige Gebäude in der überall gleichen Plattenbauweise. Achtzigtausend Menschen – also ein Sechstel der Einwohner Leipzigs – wohnen in diesem Viertel. Nach Ostberlin ist es das größte Neubaugebiet Deutschlands. Das größte im Westen, in der Nähe von München gelegen, hat zwanzigtausend Wohnungen, Grünau dagegen fünfunddreißgtausend. Insgesamt wohnt ein Fünftel bis ein Viertel der fünfzehneinhalb Millionen Ostdeutschen in diesen neuen Siedlungen, im Westen nur 3 Prozent: Diese gewaltige Zahl vermittelt eine Vorstellung von der Bedeutung der Trabantenstädte.

In den westlichen Medien ist diese Architektur seit dem Fall der Mauer heftig angegriffen und als Symbol einer unmenschlichen, qualitativ minderwertigen sozialistischen Wohnungsbaupolitik dargestellt worden, bei der die sozialen Probleme vorprogrammiert seien. Doch diese Kampagne spiegelt nicht die Wirklichkeit wider, und die Bewohner Grünaus leiden unter dem schlechten Image ihres Stadtteils. Eine von der Leipziger Professorin Alice Kahl seit 1979 in regelmäßigen Abständen fortgeführte soziologische Untersuchung dokumentiert die enge Bindung der meisten Bewohner an ihr Viertel.

Zwar mokierte man sich schon zu DDR-Zeiten über die „Menschensilos“ oder „Arbeiterschließfächer“. Dennoch: Eine Wohnung in Grünau zu ergattern und so aus einem Haus der Jahrhundertwende – dunkel, mit Außentoilette und Ofenheizung – in eine helle, moderne Neubauwohnung mit Zentralheizung, Bad und Balkon umzuziehen galt als Glücksfall. Krippen und Schulen lagen oft in Wohnnähe, was im Zentrum nicht der Fall war. Die Regierung förderte den Zuzug von Funktionären ebenso wie von Arbeitern aus der Metall- und Chemieindustrie und aus dem umliegenden Braunkohletagebau, meist junge Familien mit überdurchschnittlicher Ausbildung. Noch heute verfügt die Hälfte der Bewohner Grünaus über eine höhere Schulbildung. In diesen neuen sozialistischen Städten sollten durch die standardisierten Wohnungen und eine dirigistische Wohnungspolitik die sozialen Unterschiede verschwinden.

Die Akzeptanz des Stadtteils bei seinen Bewohnern ebenso wie die Vielfalt der sozialen Schichten, die sich hier mischen, stellen gute Voraussetzungen für die Zukunft dar. Ein echter Wettlauf mit der Zeit hat begonnen, um einen Niedergang, wie ihn der Fortzug der Wohlhabenderen und das Bleiben der Schlechtergestellten zur Folge hätte, zu verhindern. Nach dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung ermöglicht es die gestiegene Kaufkraft einigen Bewohnern sicherlich, dieses Viertel zu verlassen und sich eine der renovierten Wohnungen im boomenden Zentrum zu leisten oder, was wahrscheinlicher ist, in ein Einfamilienhaus am Leipziger Stadtrand zu ziehen. Aber diejenigen, die weniger verdienen – und das sind immer noch die meisten –, sind darauf angewiesen, in Grünau zu bleiben.

Die Wohnkosten sind durch die Mieterhöhungen in den letzten Jahren zum Hauptproblem geworden. Zu DDR-Zeiten betrugen sie im Schnitt 3 Prozent des Einkommens und spielten eine marginale Rolle im familiären Haushaltsbudget. Seit der Maueröffnung ist der Quadratmeterpreis von 90 Pfennig auf 5,60 Mark gestiegen – eine Steigerung um mehr als 600 Prozent! Trotzdem sind Renovationsarbeiten in Grünau unerläßlich: die Isolierung läßt zu wünschen übrig, die Fertigbauplatten und die Fenster lassen Kälte und Feuchtigkeit durch. Um die einförmigen Fassaden zu beleben, müßte man sie durch farbliche und plastische Gestaltung auflockern. Aber die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB), die 40 Prozent der Gebäude verwaltet, erscheint als ein verschuldetes bürokratisches Monstrum, das bisher keine der notwendigen Arbeiten durchzuführen vermochte. Aktiver waren allerdings die Genossenschaften, die die restlichen Wohnungen verwalten. Aber es fehlt an Geld; dabei könnte nur eine gründliche Modernisierung dazu führen, daß auch eine gutsituierte Klientel im Viertel bleibt und einen entsprechenden Preis für eine Komfortwohnung zahlt. Die Verantwortlichen hoffen, sie mit dem Angebot von hochwertigen Wohnungen auf dem Gelände der ehemaligen sowjetischen Kasernen am Rande von Grünau locken zu können.

Ein weiteres Mittel, die Mieter zu halten, besteht darin, sie zu Wohnungseigentümern zu machen, also in der Privatisierung. Um die Hälfte der von der ehemaligen DDR ererbten Schulden zu begleichen und neue Finanzmittel zu beschaffen, verkaufen die Wohnungsgesellschaften rund 15 Prozent ihrer Wohnungen. Das „Modell Grünau“ sieht einen Verkauf in zwei Etappen vor: zunächst an einen privaten Investor mit der Auflage zu modernisieren, dann – über diesen – an interessierte Mieter. Doch das funktioniert nicht: Nur wenige Mieter zeigen sich interessiert, entweder aus Geldmangel – eine mittelgroße Wohnung von 60 Quadratmetern wird für über 120000 Mark verkauft – oder aus Mißtrauen gegen die Qualität der Modernisierung.

So ist die Zukunft dieses Stadtteils unsicher. Die bereits zitierte Untersuchung von Alice Kahl zeigt, daß die Bewohner Grünaus vor allem Supermärkte, Sportstätten und kulturelle Einrichtungen erwarten. Eine Mindestausstattung ist zwar bereits vorhanden (Krippen und Schulen, Jugendclubs, Post, Selbstbedienungsladen, U-Bahn- und Straßenbahnverbindung zum Stadtzentrum), doch bislang wurde auf alles „Überflüssige“ verzichtet. Insgesamt existieren 24000 Quadratmeter Gewerbefläche (eine Bausumme von rund 240 Millionen Mark) und mehrere Kinos, die dazu gedacht waren, das kulturelle Vakuum zu füllen. Die beiden Einkaufszentren liegen in dem von den ostdeutschen Architekten vorgesehenen, dann aber geopferten „Zentrumskomplex“.

Vordringlich ist auch die Schaffung von Arbeitsplätzen, nicht nur im Handel, sondern auch im Bereich von Dienstleistungen und Handwerk. Der Stadtteil steht in Konkurrenz mit anderen, von der Stadtverwaltung privilegierten Wohnquartieren, wie dem ehemaligen Messegelände in Zentrumsnähe oder Plagwitz, einem traditionellen Industriegebiet, in dem seit 1989 nach und nach die Arbeit ausging.

Dort, wo Gebäude instand gesetzt und Innenhöfe hergerichtet worden sind, hat Grünau inzwischen ein anderes Gesicht. Die Anlage eines Grüngürtels macht deutlich, wo die Chancen dieses Wohngebietes liegen und was alles auf den für den Autoverkehr gesperrten Flächen für Fußgänger und Radfahrer getan werden kann.

Der größte Mangel betrifft die Jugendpolitik, und das in einem Stadtteil, wo ein Drittel der Bevölkerung unter fünfundzwanzig Jahre alt ist. Von den zehn Clubs, in denen sich vor 1989 die Jugendlichen trafen, gibt es heute nur noch vier – ihr Budget ist nicht gekürzt worden, aber es reicht nicht mehr aus. Den Jugendlichen, die durch den Untergang des Systems, in dem sie aufgewachsen sind, ohnehin die Orientierung verloren und Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, fehlen Orte für eine sinnvolle Freizeitgestaltung. Eine Zunahme der Kriminalität (Autodiebstahl, aggressives Verhalten usw.) ist die Folge.

In den neu entstandenen Jugendbanden finden die Jugendlichen etwas von der verschwundenen Solidarität wieder, aber die Kritik am neuen System ist oft von einem brutalen Rassismus begleitet, dessen Opfer Asylbewerber, von der DDR „angeheuerte“ Vietnamesen, arabische und afrikanische Studenten sind. Doch inzwischen machen die gewalttätigen Jugendlichen wieder weniger von sich reden. Organisationen wie die katholische Caritas, die einen der Clubs leitet, oder auch die „Völkerfreundschaft“ haben versucht, diesen Jugendlichen eine andere Perspektive zu bieten. Die „Völkerfreundschaft“ kümmert sich insbesondere um ein von Herbert Grönemeyer gefördertes Projekt, das zu einem deutlichen Rückgang der Kriminalität geführt hat. Ein Treffpunkt ist entstanden, wo die Jugendlichen unter sich sind, Musik hören und von wo aus sie auch – in Begleitung von zwei Sozialarbeitern – Reisen unternehmen können.

Grünau, das demnächst sein zwanzigjähriges Bestehen feiert, besitzt Vorteile, über die vergleichbare westliche Vorstädte nicht verfügen: eine sozial heterogene Bevölkerung, die in der Mehrheit eine enge Bindung an ihren Stadtteil hat, Grünflächen, Raum für Familien, ein geringes Verkehrsaufkommen und Aussicht auf eine bessere wirtschaftliche Versorgung. Das könnte Früchte tragen, wenn die finanziellen Bedingungen es erlaubten. Doch das ist nicht der Fall. Und wenn nichts geschieht, wird auch der allseitige gute Wille eine Marginalisierung dieses exemplarischen Viertels nicht verhindern können.

dt. Sigrid Vagt

* Journalist, lebt in Berlin

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Pascal Thibaut