16.02.1996

Eine Steuer für Kapitaleinkünfte

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Eine Steuer für Kapitaleinkünfte

Von

CHRISTIAN

DE BRIE

DIE Reichen zur Kasse bitten? Seit sie reich sind, und sie sind es schon sehr lange, macht sie eine solche Idee nur milde lächeln. Das Kapital und die Kapitalerträge besteuern – kann man eine naivere Idee haben in der Ära der Globalisierung? Wo doch das Geld längst in riesigen Mengen (1500 Milliarden Dollar täglich) und in Sekundenschnelle alle Grenzen überwinden, wobei es in derselben Zeit, die man für das Ausfüllen einer Postanweisung braucht, ans andere Ende der Welt gelangen kann. Wo doch der erbarmungslose Wettbewerb die erfolgreichsten Geschäftemacher samt ihren Unternehmen schützen soll, die sich schließlich nur zum Wohle aller immer neue Marktanteile erobern und damit das Überleben der Menschheit sichern.

Und statt dessen will man genau diese Auserwählten durch Besteuerung plündern und ihnen das Geldverdienen vermiesen? Besteht nicht der wahre Reichtum, das wirkliche Privileg heute im Besitz eines sicheren Arbeitsplatzes in einem geschützten Wirtschaftssektor? Außerdem sind die Reichen gar nicht so reich, wie die anderen denken, ächzen sie doch unter einer kaum mehr erträglichen Steuerlast. In Kommentaren wie wissenschaftlichen Beiträgen werden derlei Argumente unaufhörlich wiedergekäut. Denn, so lautet das Argument, eine höhere Besteuerung der Wohlhabenderen (im Vergleich mit der Mehrheit der Bevölkerung) „birgt die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft ausgerechnet in einer Zeit, da ihr innerer Zusammenhalt gegen die zunehmende Konkurrenz mit anderen Ländern immer notwendiger wird“1.

1993 war für die Börse ein euphorisches, für den Arbeitsmarkt hingegen ein trübes Jahr: 23% Zuwachs für den CAC-40-Index der Pariser Börse, aber 300000 zusätzliche Arbeitslose. In Frankfurt legte die Börse um 43% zu, während die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland um 560000 anstieg. Genauso viele waren es in Spanien, wo die Madrider Börse ein Plus von 50% verzeichnete. Zwischen 1989 und 1993 stiegen die gesamten Erträge der Investmentfonds in Frankreich um 60%. Für sie muß keine Einkommenssteuer gezahlt werden. Die – sehr wohl steuerpflichtigen – Löhne sind im gleichen Zeitraum um 18,9%2 gestiegen.

„Im Bereich der Kapitalanlagen sind nur wenige Steuergesetze ähnlich anlegerfreundlich wie die französischen. Ich will dafür nur ein Beispiel geben: Ein Ehepaar kann mehr als 4 Millionen Franc in verschiedener Form anlegen, pro Jahr mehr als 300000 Franc Gewinn erzielen, ohne nur einen Centime Steuern zu zahlen.“ Und das alles ganz legal – ein bequemeres Steuerparadies bieten nicht einmal die Cayman-Inseln. „Schockierend“, konstatiert Finanzminister Jean Arthuis, als er den Haushalt für das Jahr 1996 vorlegte. Aber das geht natürlich nicht so weit, daß man diesen vom Steuerausschuß schon seit langem monierten Vergünstigungen ein Ende bereiten würde.3

Dabei gäbe es viel zu tun: Die Liste der Steuerbefreiungen, Steuerreduzierungen, Abzüge, Freibeträge, Ermäßigungen, Anrechnungen, Stundungen, Pauschalbesteuerungen usw. usw. ist so umfangreich wie ein Versandhauskatalog. So sind von der Einkommenssteuer nicht nur die Volkssparbücher der Kategorie A ausgenommen, was es den Reichen ermöglicht, sich in Steuersachen und mit Einlagen von 200000 bis zu 1 Million Franc – je nach Familiengröße4 – ein wenig unter das Volk zu mischen. Von Steuern befreit sind neben zwei weiteren Arten von Sparbüchern auch die Rentensparprogramme, die Volkssparprogramme, die Aktiensparkonten und -programme, die Bausparkonten usw. Hinzu kommen Steuerreduzierungen und Steuerabschreibungen bei Kreditzinsen und – für Eigenheimbesitzer – bei größeren Reparaturarbeiten (Neuverputz, Isolierung, Sanitär- und Sicherheitsanlagen). Das gleiche gilt für Investitionen in Mietwohnungen, für das Miteigentum an Schiffen, für Kapitalinvestitionen in den französischen Überseegebieten (loi Pons), aber auch in den Bereichen des Films und der audiovisuellen Medien; weiter für Kapitalzeichnung bei mittelständischen Unternehmen oder bei Unternehmen, die mit Risikokapital operieren...

Einkünfte aus Währungsinvestmentfonds und der dabei erzielte Wertzuwachs, Investmentfonds, Börsen-Optionen, Obligationen, Aktien und Gesellschaftsanteile sind von der progressiven Besteuerung ausgenommen. Sie werden ebenso wie die kommerziellen Gewinne im Bereich von Handel, Industrie und freien Berufen durch eine Pauschalbesteuerung von höchstens 20% begünstigt. Steuerlich absetzbar sind auch die Verluste aus früheren Jahren, wenn es sich um neugegründete oder gefährdete Unternehmen handelt. Nicht zu vergessen sind die Abwälzung von Steuerstundungen und Steuerguthaben sowie die Steuerreduzierung bis zum Höchstbetrag von 45000 Franc, wenn man in seinem Haus einen oder mehrere Hausangestellte beschäftigt. Dies war das letzte Geschenk von Premierminister Edouard Balladur.

Land der Privilegien

WIE in den großen Warenhäusern gibt es im Finanzministerium im Pariser Stadtteil Bercy vieles nach dem Geschmack der Kapitaleigentümer: hier eine Steuerermäßigung, dort ein Sonderangebot bei den Steuerabzügen. Das Neueste im Angebot ist die Steuerbefreiung für den Wertzuwachs, der beim Verkauf von Investmentfonds- und Währungsinvestmentfondsanteilen erzielt wurde, wenn dieser in Immobilien oder für Gebrauchsgegenstände angelegt wurde5; zudem sind neue Wertpapiere, die erstmals auf dem Markt für die Finanzierung mittelständischer Unternehmen notiert werden, von der Börsensteuer befreit; Immobilienmakler können nun zwei Jahre länger warten, bis sie ein Haus weiterverkaufen müssen, und sind immer noch von der Zahlung der Veräußerungssteuer befreit.6

Um die Reichen zur Kasse zu bitten, bedarf es keiner neuen Steuern. Es würde schon reichen, wenn die meisten der geltenden Vergünstigungen gestrichen würden. Diese französische „Spezialität“ kostet die französischen Steuerzahler jedes Jahr etwa 50 Milliarden Franc und kommt vornehmlich den äußerst Wohlhabenden zugute. Von den vier Millionen Haushalten, die in den Genuß einer Steuergutschrift gelangen, erhalten allein zwanzigtausend, d.h. die mit den höchsten Einkommen (über 1 Million Franc), ein Drittel der gesamten Steuergutschriften, was 1988 einer Steuerreduzierung von mehr als 50000 Franc pro betroffenem Haushalt entsprach.7

Von den etwa 500 Milliarden Franc Einkünften aus Sparguthaben, die 1992 (abgesehen vom Wertzuwachs) erzielt wurden, waren nur 100 Milliarden versteuert. Die Hälfte davon entfiel auf die Einkommenssteuer, die andere Hälfte profitierte von der Pauschalbesteuerung, so daß nur etwa 30 von 50 Milliarden besteuert wurden.8 So erstaunt es nicht, daß von den 25 Millionen Steuerhaushalten nur 11000 mehr als 50% und 82000 mehr als 40% Steuern zahlen.9

Das gleiche Prinzip wird man wohl bei den anderen Steuern anwenden, mit denen Kapital, Vermögen oder Erbgüter belegt werden sollen – ein weiterer Katalog alter und neuer Steuerbefreiungen. So beläuft sich die Erbschaftssteuer pro Jahr auf weniger als 2% der vererbten Werte. Bei der Vermögenssteuer gibt es für die reichsten Leute eine Obergrenze, die es in anderen Ländern mit Vermögenssteuerbelastung nicht gibt und die den Staat jedes Jahr 800 Millionen Franc kostet. Gleichzeitig sind der Besitz von Gewerbegütern, Industrievermögen, Kunstwerken wie auch die Pacht für ein Landhaus von dieser Steuer ausgenommen. Die Vermögenssteuer, die ursprünglich dazu bestimmt war, die französische Sozialhilfe zu finanzieren, müßte um das Vierfache erhöht werden, um den realen Finanzbedarf zu decken und um die Bezeichnung einer „Solidaritätssteuer“ zu verdienen. Womöglich wären dann die vielen marginalisierten Menschen den Reichen weniger gleichgültig.

Die Rückkehr zu einer effektiven Besteuerung müßte auch die Unternehmensgewinne erfassen, für die die Steuersätze – ohnehin niedriger als in allen anderen entwickelten Ländern – zwischen 1986 und 1994 bei den nicht ausgeschütteten Gewinnen von 50% auf 33% und bei den ausgeschütteten Gewinnen von 25% auf 0% gesenkt wurden.10 Gleichzeitig hat die Zahl der Steuerbefreiungen und der Steuergutschriften vor allem für besonders geförderte Investitionsgebiete ebenso zugenommen wie die Mehrwertsteuererstattung (etwa 100 Milliarden Franc) und die Befreiung von den gesetzlich vorgeschriebenen Sozialabgaben. Auch die Gesamtsumme der vom Staat übernommenen Gewerbesteuernachlässe ist von 8 Milliarden Franc im Jahre 1988 auf 35 Milliarden im Jahre 1995 gestiegen. Das Ergebnis ist, daß die Sparquote der Unternehmen von 12,3% 1984 auf 18,4% im Jahre 1994 gestiegen ist und zugleich der Anteil der Kapitalseite am Wertzuwachs von 27,6% auf 39,4%, was natürlich auf Kosten der Arbeit und der Löhne geht.11

Als 1981 die „Roten“ in Frankreich die Macht eroberten, flüchteten einige Reiche – von den Parolen rechter Politiker und Medien zu Tode erschreckt – in aller Eile in die USA. Die meisten kehrten jedoch nach kurzer Zeit wieder nach Frankreich zurück, nachdem sie entdeckt hatten, daß die Einkommens- und Vermögenssteuer im Paradies der Großkapitalisten ebenso hoch lagen wie zu Hause und daß von der sozialistisch-kommunistischen Koalition in Paris nichts zu befürchten war. Da Frankreich das Land der Privilegien (auch in Steuerdingen) ist, hält sich das Risiko in Grenzen, daß ihm ausgerechnet die Leute mit den größten Einkommen und den größten Reichtümern davonlaufen könnten. 1% der Franzosen verfügen über 25% und 10% über 55% des Volksvermögens, dieses reichste Zehntel bezieht außerdem über 32% des nationalen Einkommens vor Steuern und immer noch über 29% nach Steuern.12

Mit Geschäften macht man Vermögen, das sich zu Erbschaften akkumuliert, die, gut verwaltet, weiteren Wertzuwachs und Renten produzieren und so von einer Generation zur nächsten übertragen werden.13 Gewinn-, Vermögens-, Einkommens-, Wertzuwachs- oder Erbschaftssteuern: die französische Steuergesetzgebung hat alles, was man braucht, um das Kapital zu besteuern. Was fehlt, ist der Wille der Volksvertreter, die Gesetze durchzusetzen.

dt. Christian Voigt

1 Conjoncture, Dezember 1995.

2 Alternatives économiques, Februar 1994, S. 17.

3 Elfter Bericht des Steuerausschusses, „L'impôt sur le revenu“, Journal officiel, 1991.

4 Man kann für jedes Kind ein eigenes Sparbuch der Kategorie A eröffnen, wobei die Obergrenze der Einlagen bei 100000 Francs liegt. Insgesamt gibt es 48 Millionen Sparbücher, in denen 700 Milliarden Francs verzeichnet sind.

5 „Mesures économiques annoncées le 21 décembre 1995“, Pressekonferenz des Finanzministeriums am 27. Dezember 1995.

6 Ergänzung des Finanzgesetzes für 1995.

7 Elfter Bericht des Steuerausschusses, a.a.O.

8 Ducamin-Bericht der Untersuchungskommission zum Thema der Belastung der Haushalte durch Steuern und Sozialabgaben, 1995, S. 87.

9 ebd. S. 139.

10 Berücksichtigt wurden auch die Steuerrückzahlungen für Aktionäre, die in Form von Steuergutschriften erfolgten.

11 Allgemeiner Haushaltsbericht der Nationalversammlung für das Jahr 1996.

12 Siehe: Christian de Brie, „Corriger par l'impôt l'inique répartition des richesses“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.

13 Siehe: Michel Pinçon und Monique Pinçon- Charlot, „Grandes Fortunes“, Paris (Payot) 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Christian de Brie