16.02.1996

Für ein neues Handelssystem

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Für ein neues Handelssystem

Von

PAUL

SINDIC *

ZERSTÖRERISCH wirkt sich der Einfluß des Freihandels in solchen Fällen aus, wo heterogene Wirtschaftseinheiten aufeinandertreffen. Es müßte daher ein neues System zur Regulierung des Handels geschaffen werden, das für aktuell bestehende oder künftige regionale Wirtschaftszonen Geltung hätte. Eine solche Strategie sollte es vor allem den Ländern des Südens ermöglichen, globale Entwicklungen auf nationaler Ebene im Griff zu behalten, Löhne und soziale Errungenschaften dynamisch weiterzuentwickeln und Rahmenbedingungen für einen Wettbewerb zu schaffen, der Innovationen fördert und belohnt. Mit einer solchen Perspektive lassen sich verschiedene Prinzipien formulieren, die sich auf erfolgreiche Beispiele wie die von Südkorea und in Taiwan stützen.

Zuallererst sollte ein Land, das in einer Branche, einem Produkt- oder Dienstleistungsbereich über Kapazitäten verfügt, die technologisch konkurrenzfähig sind und den gesamten Binnenmarkt zu versorgen vermögen, den größeren Teil dieses Marktes für die heimische Produktion reservieren. Die anderen Länder würden damit über eingeschränkte Zugangsrechte verfügen, die unter ihnen aufgeteilt wären. Das wäre in etwa das Modell des Multifaserabkommens von 1974, das den internationalen Handel mit Kleidung und Textilien regelte..., das aber laut GATT-Vereinbarungen vom Dezember 1993 im Laufe von zehn Jahren schrittweise wieder abgebaut werden soll. Ähnliche Regeln müßten gelten, wenn ein Land eine neue Industrie aufbaut, aber auch für den Außenhandel einer regionalen Wirtschaftszone, die in der betreffenden Branche einen gemeinsamen Markt bildet.

Diese strengen Schutzmaßnahmen kämen nicht nur den neu entstehenden Industrien und der Landwirtschaft zugute – wo unbedingt die Versorgung mit Nahrungsmitteln gesichert werden muß –, sondern auch den integralen nationalen Netzen (Energie, Schienentransport, Telekommunikation), wo Wettbewerb und Privatisierung wirtschaftlich nicht rational zu begründen sind. Dagegen sollten die Märkte, die diese Netze mit Rohstoffen und Ausrüstungsgütern versorgen, offen sein. Die Garantien für die nationale Produktion und die anfänglichen Zugangsrechte sollten jedoch nicht ein für allemal festgeschrieben bleiben. Sie könnten entsprechend der tatsächlichen Nachfrage für die verschiedenen in- oder ausländischen Produkte verändert werden. Damit könnte jedes Land eine ausgeglichene Handelsbilanz anstreben, was wiederum zu einer Stabilisierung der Wechselkurse beitragen würde.

Wenn das Preisgefälle zwischen einheimischen und ausländischen Erzeugnissen aufgrund sehr unterschiedlicher Produktionskosten allzu groß ist, könnte eine Ausgleichssteuer erhoben werden. In den Diskussionen, die die Endphase der Uruguay-Runde der GATT-Verhandlungen begleiteten, wurde diese Idee in Frankreich in diversen abgewandelten Formen aufgegriffen, unter anderem von dem Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Maurice Allais.1

Eine solche Ausgleichssteuer könnte auch bei einer einseitigen Manipulierung der Wechselkurse erhoben werden, also im Falle des „monetären Dumping“. Wie immer die Modalitäten im einzelnen aussehen würden, ein gewisser Preisunterschied sollte auf jeden Fall gewahrt bleiben, damit die Zugangsrechte ihren Sinn behalten und der Ansporn zum Wettbewerb gewährleistet bleibt, ohne daß damit aber ein allzu starker Druck auf die Produktionskosten ausgeübt wird.

Innovative Produkte müßten auch weiterhin freien Zugang zum Weltmarkt haben, ohne besondere Schutzverordnungen zwar, jedoch verbunden mit einer Gegenleistung: Um zu verhindern, daß erneut dominante Marktpositionen entstehen, müßte man die Herstellungslizenzen nach relativ kurzer Zeit zu einem angemessenen Preis abtreten, so daß jeweils vor Ort produziert werden kann.

Politik grundsätzlich in Frage stellen

BEI einem solchen System zur Regulierung des Handels müßten die Konzepte der bestehenden regionalen Wirtschaftszonen neu überdacht werden. Heterogene Freihandelszonen wie die Alena und der gemeinsame europäische Markt – zumal mit der zu erwartenden Ost- Erweiterung – gelangen allmählich an ihre Grenzen: einzelne Länder (Griechenland) und Regionen (der Mezzogiorno) werden marginalisiert, soziale Errungenschaften werden untergraben, Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit nehmen zu etc. Die soziale Bewegung, die im Dezember letzten Jahres in Frankreich entstand, und das Echo, das sie in den meisten europäischen Ländern, in Nordamerika und vor allem in Quebec hervorrief, zeigen, daß die Bruchlinien auseinanderzureißen drohen.

Dagegen erzielen die über nationale Grenzen hinweg organisierten informellen Wirtschaftszonen, die gegenwärtig in Asien entstehen, mit ihrer national ausgerichteten Industriepolitik und ihrem partiellen Freihandel weitaus bessere Ergebnisse hinsichtlich Wachstum, Arbeitslosenquote und Lohnsteigerung.

Es erscheint daher wünschenswert, im Süden die Schaffung solcher homogenen regionalen Wirtschaftszonen zu begünstigen, die mit den Ländern oder Wirtschaftsregionen des Nordens durch Ausgleichsvereinbarungen verbunden sind. Innerhalb von homogenen Zonen dürften Freihandelsabkommen lediglich für bestimmte Sektoren vorgesehen werden und wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind: eine ausgeglichene Wettbewerbssituation, für gewisse Bereiche der Produktion ein ausreichend breiter Markt, eine über nationale Grenzen hinweg funktionierende Zusammenarbeit der verschiedenen, innerhalb dieser Region arbeitsteilig gegliederten Industrien.

Eine solche Orientierung erfordert in den einzelnen Ländern eine wirksame Industriepolitik, die der Freihandelslogik multinationaler Gruppierungen entgegentritt. Ansonsten kann es weder eine globale Entwicklung geben, die in den Ländern des Südens demokratisch abgesichert ist, noch kann der Norden erneut zu einem dauerhaften inneren Gleichgewicht (hinsichtlich Beschäftigung, Staatsverschuldung und Handelsbilanz) finden.

Diese und andere künftige Überlegungen zu diesem Thema setzen voraus, daß die Politik und die Institutionen, die derzeit die Welt beherrschen, grundsätzlich in Frage gestellt werden. Es geht um nichts weniger als um die Schaffung einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung, die dazu dienen kann, den Zusammenhalt unserer Welt zu sichern und katastrophenträchtige Konfrontationen zu verhindern. Eine solche Neuordnung müßte daher das wichtigste Thema für alle diejenigen sein, die sich nicht mit der planmäßigen Untergrabung der noch vorhandenen Solidarität und mit dem Krieg aller gegen alle abfinden wollen.

dt. Erika Mursa

1 Maurice Allais, Vortrag vor der Abordnung der Nationalversammlung für die Europäische Gemeinschaft, in „Les Enjeux de la négociation du GATT“, Informationsbericht Nr. 679 vom 2. November 1993. Vgl. vom selben Autor auch „La concurrence des pays à bas salaires“, Le Figaro, 19. Dezember 1994.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Paul Sindic