Sarcelles: Rückzug auf die Gemeinschaft
Von
AKRAM
ELLYAS *
SARCELLES an einem Sonntagmorgen. Der berühmte, fast anderthalb Kilometer lange Markt ist schwarz von Menschen. Nach wie vor zieht dieser Ort mit seiner Farbenpracht und dem Warenreichtum viele Kunden an. Man kommt von weit her, sogar aus den Pariser Nobelvierteln, in der Hoffnung auf ein Schnäppchen bei einem der Händler, die sich auf die Marktlücke „zufällig vom Lastwagen gefallener Kartons“ spezialisiert haben.
Während sich viele Gelegenheitsbesucher einfach nur in das bunte Treiben um die Verkaufsstände mischen wollen, wird der Markt für die Bewohner der Stadt zum Anlaß eines stillschweigenden, auf gegenseitigem Einverständnis beruhenden Waffenstillstands, in dem die Spannungen zwischen den Gemeinschaften, die sich seit einigen Jahren verschärft haben, vergessen sind. Das Verhältnis zwischen den aus dem Maghreb, aus Afrika und von den Antillen stammenden Bewohnern oder auch zwischen Juden und Muslimen wird häufig als Tabu behandelt; man ahnt jedoch, was in naher Zukunft aus den nördlichen Pariser Vorstädten zu werden droht.
Die Zeit des Zusammenhalts, des „Ne touche pas à mon pote“, ist eindeutig vorbei. Die Jugendlichen sind jetzt auf ihre jeweilige „Gemeinschaft“ oder auf die „Religion“ eingeschworen und glauben nicht mehr an ein Nebeneinander verschiedener Volksgruppen. „Die heranwachsenden Generationen finden sich nicht mehr wie gewohnt aufgrund ihrer Nachbarschaft zusammen. Man ist zuallererst Jude, Araber oder Schwarzer. Dies gilt selbstverständlich nicht für alle Satellitenstädte, aber es ist die vorherrschende Tendenz, und selbst die Eltern lassen sich von diesem Identitätsgerede mitreißen“, stellt eine Sozialarbeiterin fest, die seit mehr als zwanzig Jahren in Sarcelles tätig ist. Galt die Stadt früher wegen der Vielfalt ihrer Bevölkerung als ein Ort der Toleranz, neigen die Einwohner heute offenbar dazu, sich in ihre Gemeinschaften zurückzuziehen. Man bleibt bewußt „unter sich“, und bei Nachfragen von Journalisten scheut man sich längst nicht mehr, in gehässiger Weise die „anderen“ für die Probleme in der Siedlung verantwortlich zu machen.
Im Schatten der Betontürme belauern sich die drei großen Volksgruppen; nicht selten enden ihre Streitereien in extremen Gewalttätigkeiten. Zufällig aufgeschnappte Sätze wiederholen sich mit unerträglicher Penetranz: „An den meisten Schlägereien zwischen den Jugendlichen sind die Schwarzen schuld. Man muß mal miterleben, was wir mit ihnen erdulden. Aggressiv sind sie und drängen jeden, selbst ihre Leidensgenossen, in die Defensive – auf die Art wollen sie zeigen, daß sie Franzosen sind“, erhitzt sich lautstark ein marokkanischer Kaufmann.
„Die Araber bezeichnen sich nicht mehr als Maghrebiner, sondern als Muslime. Damit brechen sie jegliche Verbindung zu uns ab, gerade zu den sephardischen Juden. Wir sind nicht mehr Brüder, sondern Religionsfeinde. Das beunruhigt mich sehr, denn bisher bestand zwischen uns eine Art wohlwollendes Bündnis. Schuld daran ist das Auftauchen der militanten Islamisten, die ungehindert in der ganzen Stadt Fuß fassen konnten“, entrüstet sich André, der Besitzer eines kleinen Ladens im Einkaufszentrum „Les FlÛnades“.
„Die Juden wollen uns nicht in Sarcelles. Sie sind zu allem bereit, nur um uns zu vertreiben; sie weigern sich, uns Wohnungen zu vermieten oder verkaufen“, empört sich Antoine, ein von den Antillen stammender Beamter. Die Stadt wird so zu einem Terrain, das man „für die eigenen Leute behaupten“ muß, und weil alle anderen sich vermutlich um jeden Preis hier breitmachen wollen, muß man ihnen notfalls auch mit Gewalt entgegentreten.
Die Front National könnte ohne Zweifel der größte Nutznießer der Situation sein. Ununterbrochen sind ihre Aktivisten vor Ort präsent und halten, wenn sie es mit „angestammten Franzosen“ zu tun haben, ausländerfeindliche Reden. Neu aber ist, daß sie es auch verstehen, sich die Spannungen zwischen den Gemeinschaften zunutze zu machen, indem sie die Maghrebiner zu bevorzugten Ansprechpartnern erheben. Familien marokkanischer oder algerischer Herkunft gestehen längst ohne Scheu, daß sie die Absicht haben, bei den nächsten Wahlen für Le Pen zu stimmen, um mitzuhelfen, „die Stadt zu säubern“.
„Es ist höchste Zeit, zu reagieren und den politischen Kampf wiederzuentdecken. Wir müssen unbedingt die Flamme neu entfachen, die SOS-Rassismus entzündet hat“, mahnt ein sozialistischer Aktivist, der für 1998 eine „Katastrophe“ vorhersagt.
Hauptverantwortlich für das langsame Abgleiten in die Gewalt ist nach Meinung von Fachleuten, die vor Ort arbeiten, der abwesende Staat. „Wenn man eine Vorstadt sich selbst überläßt, wenn man zum Beispiel die öffentlichen Verkehrsmittel verkommen läßt, darf man sich nicht über die steigende Gewalt wundern. Man hat den Eindruck, daß die Behörden in der Hoffnung auf irgendein Wunder bewußt die Zügel schleifen lassen“, sagt der Soziologe Ali Bouguetaya, der seit fast einem Jahr über Sarcelles arbeitet.
Die häufigen Verspätungen auf der RER-Linie D sind Auslöser für die Zerstörungswut jugendlicher Fahrgäste, die sich über die schließlich eintrudelnden Waggons hermachen, um „sich zu rächen“ – vor den Augen der Erwachsenen, die fast komplizenhaft passiv bleiben. „Es ist deprimierend, in Zügen zu sitzen, die keine Notbremse mehr haben und wo die kleinen Beile, mit denen sich im Unglücksfall die Scheiben einschlagen lassen, aus Sicherheitsgründen entfernt worden sind. Ich glaube, die Leute sähen ihre Stadt mit anderen Augen, wenn man diese Linie wieder menschlicher gestalten würde. Die Betreiber dieser Linie sind sich dessen vielleicht nicht bewußt, doch dies spielt bei der Frage der Reorganisation der Vorstädte eine große Rolle“, versichert ein Lehrer.
Knüppel und Chaos
AUCH die gewalttätigen und antisemitischen Parolen mancher Rap-Texte gelten als Schuldige: „Diese aus den USA importierte Ghetto-Kultur wird uns sehr schaden“, warnt der Geschäftsführer einer sozialen Organisation. „Vor allem die Acht- bis Zwölfjährigen schlagen Töne an, die nichts mehr mit der heutigen französischen Realität gemein haben, aber vielleicht wird sie ja so.“
Zwar haben sich Musiker, die für Toleranz eintreten, wie MC Solar oder Alliance Ethnik, einen gewissen Respekt verschafft; dennoch sind Szene- Gruppen, die sich damit begnügen, die amerikanischen Texte zu übersetzen, im Aufwind. „Was sollen wir mit diesen Jugendlichen machen, die auf Knüppel, Chaos oder Revierverteidigung eingeschworen sind? Was sollen wir mit diesen Kindern machen, die noch keine Jugendlichen sind und nur von einer einzigen Sache träumen: eine Waffe zu besitzen und ihre eigene Gang zu gründen? Wir müssen schnell reagieren und dieser Generation ihren Anteil am französischen Traum zukommen lassen“, sagt eine Lehrerin.
Doch die Hauptsorge vieler Bewohner bleibt das Drogenproblem. Die Türen der Häuser werden, obwohl sie mit Sprechanlagen ausgestattet sind, regelmäßig aufgebrochen, und die Keller dienen oft als Umschlagplatz. „Ich bin erschrocken über das Ausmaß, das der Handel mit harten Drogen annimmt. Unter Kleindealern ist nicht mehr nur von Shit die Rede, sondern von Heroin oder Ecstasy“, bestätigt ein Erzieher. Wie in den meisten Fällen hat sich das Problem dadurch verschärft, daß viele Gelegenheitsdealer selbst abhängig sind. „Das ist kein spezifisches Problem von Sarcelles, sondern eine nationale Geißel“, relativiert man in der Stadtverwaltung. Trotzdem: Mehreren Berichten zufolge ist die Stadt ohne Zweifel eine der Drehscheiben des Drogenhandels im Raum Paris.
Trotz allem haben manche noch nicht alle Hoffnung verloren. Sie weigern sich, die Stadt zu verlassen, selbst wenn sie die Mittel dazu haben. Ihr Ziel ist, das Bild ihrer Stadt zu verbessern und zu erreichen, daß „die Gemeinschaften miteinander sprechen“. François F., Architekt und Anhänger der aus Sarcelles stammenden Rap-Band „Cool Nation“, ist einer von ihnen. Als er eines Tages schockiert Zeuge einer Schlägerei zwischen zwei Banden wurde, die aus einem „idiotischen Grund“ ausgebrochen war, beschloß er, einen Teil seiner Freizeit zu opfern, um „(sein) Wissen und (seine) Werte weiterzugeben“. Seine Methode ist einfach: auf die Straße gehen und mit den Jugendlichen sprechen.
„Ich diskutiere über alles“, erklärt er, „und ich gebe mir Mühe, so geduldig wie möglich zu sein. Ich versuche, die Kids zu motivieren, indem ich ihnen zeige, daß sie auch Erfolg haben können und daß ihr Erfolg echt sein wird, weil er schwer ist. Ich versuche, ihnen Modelle zu verkaufen, mit denen sie sich identifizieren können, und das klappt! Nur, oft komme ich mir ziemlich allein vor. Die Schule kann man nicht ersetzen.“
dt. Kora Perle
* Journalist