16.02.1996

Für eine verbesserte "Sozialklausel"

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Für eine verbesserte "Sozialklausel"

■ Der freie Handel ist die Ursache dafür, daß die Beschäftigung in den Industrieländern zurückgeht und die Ausbeutung der Arbeitskräfte in der Dritten Welt z

Der freie Handel ist die Ursache dafür, daß die Beschäftigung in den Industrieländern zurückgeht und die Ausbeutung der Arbeitskräfte in der Dritten Welt zunimmt. Eine „Sozialklausel“ in internationalen Handelsverträgen könnte für den Norden wie für den Süden den Weg zu globaler Gerechtigkeit und einer dringend gebotenen Solidarität weisen, um der zerstörerischen Politik der Finanzmächte Einhalt zu gebieten.

Von

BERNARD

CASSEN

DIE Regierungen in Paris und Washington, die sich noch 1993 während der GATT-Verhandlungen (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) heftig bekämpft hatten, machten sich in den letzten beiden Jahren mit überraschender Einmütigkeit für die Einführung einer „Sozialklausel“ in internationalen Handelsverträgen stark. Der Erfolg war allerdings mäßig. Die Ministerkonferenz in Marrakesch vom April 1994, mit der die Uruguay-Runde der GATT-Gespräche abgeschlossen und die Welthandelsorganisation (WTO) ins Leben gerufen wurde, weigerte sich, diesen Punkt in ihrem Abschlußdokument zu berücksichtigen. Die Vereinigten Staaten und Frankreich mußten sich mit dem Versprechen zufriedengeben, daß er ins Arbeitsprogramm der neuen Institution aufgenommen wird.

Indessen ist die Idee einer Sozialklausel nicht neu. Sie geht zurück auf die Schaffung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) durch die Friedenskonferenz von Versailles 1919. Die Verfassung ebenso wie die „allgemeinen Prinzipien“ dieser Organisation, die als eine Art Charta der Arbeit gelten können, machen Teil XIII des Versailler Vertrags aus. 1944 wird diese Verfassung durch die Erklärung von Philadelphia ergänzt, die den Vorrang sozialer Zielsetzungen in der nationalen und internationalen Politik bekräftigt und die Mitglieder der Organisation ausdrücklich zu einem fairen Wettbewerb auffordert, der soziale Normen berücksichtigt.1

Diese Normen sind in 176 internationalen arbeitsrechtlichen Vereinbarungen festgehalten, von denen 67 zwischen den Weltkriegen erarbeitet wurden. Allerdings wurde keine einzige von allen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation unterzeichnet. Über ihre Einhaltung braucht man kein weiteres Wort zu verlieren...2 Unter den Unterzeichnerstaaten stand am 1. Juni 1995 Spanien an erster Stelle mit 125 Ratifizierungen, gefolgt von Frankreich mit 115; Schlußlicht waren die Vereinigten Staaten mit gerade 12 Ratifizierungen. Sie zählen sogar zu den sechs letzten Staaten, die nicht einmal die Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert haben. Nicht zu Unrecht betrachteten daher die meisten Mitglieder der Welthandelsorganisation – die zugleich Mitglieder der ILO sind – den amerikanischen Vorstoß, auch wenn er gemeinsam mit dem weit besser dastehenden Frankreich erfolgte3, keineswegs als uneigennütziges Engagement für soziale Demokratie in der Welt. Folglich richteten sie an die Adresse der Amerikaner den – in ihren Augen ehrenrührigen – Vorwurf des „Protektionismus“...

Die Haltung von Paris und Washington ist allerdings leicht zu erklären: Der Druck eines Teils der öffentlichen Meinung und der Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten, die vom Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) unterstützt werden, und die Ratlosigkeit und Ohnmacht der Regierung in Frankreich angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit ließen beide Länder auf den Gedanken verfallen, einigen ihrer wirtschaftlichen Konkurrenten Wettbewerbsvorteile abzugraben: die niedrigen Löhne dort kosten die Industrieländer in den arbeitsintensiven Sektoren Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Die Partner in der EU reagierten jedoch äußerst halbherzig. Einige von ihnen, darunter Deutschland, die Niederlande und vor allem Großbritannien, glauben an den freien Handel wie Kinder an den Weihnachtsmann. Die Regierungen Edouard Balladur und Alain Juppé mußten daher sehr darauf bedacht sein, die Sozialklausel in einem positiven Licht zu präsentieren: Schließlich gehe es nicht darum, im eigenen Land die Beschäftigung zu sichern, sondern andernorts die Einhaltung sozialer Mindestrechte voranzubringen...

So empfahl der damalige französische Arbeitsminister Michel Giraud bei der Generalversammlung der ILO im Juni 1994 mit Zustimmung seines amerikanischen Kollegen Robert Reich, zu vier Bereichen „Mindeststandards“ einzuführen: die Abschaffung der Zwangsarbeit, keine Diskriminierung am Arbeitsplatz, die Festsetzung eines Arbeitsmindestalters und gewerkschaftliche Freiheit.

Solchen Vorgaben dürfte sich in internationalen Gremien offiziell wohl kaum jemand widersetzen. Aber in der Praxis weigern sich die meisten Regierungen und multinationalen Unternehmen, jenseits einer offiziellen Anerkennung auch nur die geringsten konkreten Maßnahmen zu ergreifen oder gar irgendwelche Bedingungen zu stellen, sobald wichtige Interessen, sprich: der internationale Handel im Spiel sind. Entsprechend äußert sich Renato Ruggiero, der Generalsekretär der Welthandelsorganisation: „Das Risiko besteht darin, daß sich durch die Hintertür ein Neoprotektionismus einschleichen könnte, der mit Handelsbeschränkungen versuchen wollte, auf die weitverbreiteten Sorgen hinsichtlich von Arbeitsnormen, sozialen und ökologischen Fragen zu reagieren. Diese Anliegen sind zwar legitim, aber Restriktionen im Handel sind keine Lösung.“4

Diese Haltung muß sich eine Reihe von Fragen gefallen lassen. Sollen die Industrienationen im Namen der Theorie der komparativen Kostenvorteile ihre gesamten personalintensiven Industrien zugunsten der Länder mit niedrigem Lohnniveau aufgeben? Nicht jeder junge Franzose oder Deutsche hat schließlich das Zeug zum Ingenieur oder Wissenschaftler. Was soll dann, gerade in Europa, aus den Menschen mit geringer Qualifikation werden?

Kann der Exportboom, vor allem in den Ländern des Südens, an die Stelle einer gezielten Wirtschafts- und Sozialpolitik treten? Gehorcht er dort nicht eher den Zwängen der Strukturanpassung, die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auferlegt wurden? Und wer profitiert eigentlich in erster Linie davon, wenn nicht die multinationalen Unternehmen des Nordens, die ihre Produktionsstätten dort errichten, wo die Bedingungen für sie am günstigsten sind, um sie umgehend wieder abzuziehen, sobald sie vorteilhafteres Terrain ausfindig machen?

Der Welthandel hat sich allmählich immens aufgebläht: 1995 ist hier der Umsatz dreimal so stark gewachsen wie das Produktionsvolumen. Welchen Sinn hat es, immer mehr und immer häufiger dieselben Produkte in Umlauf zu bringen? Wie hoch sind die wirklichen ökologischen Kosten – die zum größten Teil auf die Gemeinschaft abgewälzt werden – dieser Brownschen Bewegung5 der Waren, von der das Transportwesen zu Lande und in der Luft völlig in Beschlag genommen wird?

Wäre eine zwar nicht autarke, aber doch nach innen ausgerichtete Entwicklung auf regionaler Ebene (siehe den Artikel von Paul Sindic), die den Bürgern ein Minimum an Kontrollmöglichkeiten und Einflußnahme auf ihr eigenes Schicksal sichert, nicht einer ganz nach außen orientierten Entwicklung vorzuziehen, bei der niemand, nicht einmal die Regierungen, die Einfuhrströme und Absatzkanäle beherrscht und ein Land, das über keine breitgefächerte Inlandsproduktion verfügt, andernorts getroffenen finanziellen und kommerziellen Entscheidungen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist? Wenn eine gesicherte Nahrungsmittelversorgung notwendigerweise ein hohes Maß an landwirtschaftlicher Eigenständigkeit erfordert6, setzt dann eine „gesicherte Demokratie“ nicht auch ein hohes Maß an Eigenständigkeit zumindest auf regionaler Ebene voraus?

Für die internationalen Finanzinstitutionen ebenso wie für die Europäische Kommission7 kommen solche Überlegungen einem „protektionistischen Offenbarungseid“ gleich. Ist es aber Protektionismus, wenn man soziale Errungenschaften verteidigen will, die in den reichsten Ländern nach langwierigen Kämpfen erreicht wurden, und gleichzeitig den Arbeitskräften im Süden den Zugang zu höherem Lebensstandard eröffnen möchte?

Nach der Konferenz von Marrakesch hat der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamts (IAA) der UNO, Michel Hansenne, diejenigen Regierungen, die sich auf den Liberalismus berufen, mit ihren eigenen Waffen geschlagen. In einem Artikel bezeichnete er die gewerkschaftliche Freiheit als „Garantie, die auf sozialer Ebene lediglich das Prinzip der freien Partnerschaft fortschreibt, auf das man sich in den Handelsbeziehungen beruft“8. Und er schlug vor, daß die Aufnahme in die Welthandelsorganisation mit der ausdrücklichen Verpflichtung einhergehen solle, diese Freiheit anzuerkennen. Die Antwort darauf kam prompt: Die nächste Ministerkonferenz der Organisation wird in Singapur stattfinden, der Hochburg autoritärer Regime und staatlich gelenkter Gewerkschaften...9

Doch selbst wenn die gewerkschaftliche Freiheit, das Recht auf Kollektivvereinbarungen und andere fundamentale soziale Rechte überall in der Welt Geltung erhielten, bliebe noch das Problem, daß bei gleicher Produktivität ein enormes Gefälle bei den Arbeitskosten besteht. Hier müssen andere strukturelle Mechanismen gefunden werden, die sich an der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik mit ihrem System variabler Einfuhrzölle orientieren, so daß allzu hohe Differenzen bei den Arbeitskosten neutralisiert werden können. Damit kann zugleich der größtmöglichen Ausbeutung der Arbeitskräfte entgegengewirkt werden, die unter dem Vorwand, die Exporte brächten Devisen ins Land, betrieben wird. Es gibt dazu bereits durchaus diskussionswürdige Vorschläge. Wie ist es zu erklären, daß sie bislang weder von den Arbeiterverbänden noch von den regierungsunabhängigen Organisationen ernsthaft diskutiert wurden?

Einer der Hauptgründe dafür liegt darin, daß die Einstellung im Westen im Sinne der neoliberalen Ideologie massiv bearbeitet worden ist. Zudem lehnen Bewegungen, die sich mit dem Süden solidarisch erklären, Positionen ab, die den Interessen der Arbeitskräfte dieser Länder abträglich erscheinen könnten.

Im Süden herrscht bei diesem Thema noch größere Verwirrung. Ein Gewerkschafter, ehemals in verantwortlicher Position beim Internationalen Arbeitsamt tätig, erklärte dazu, „die weniger entwickelten Länder unterscheiden nicht zwischen Arbeiterverbänden, regierungsunabhängigen Organisationen, Arbeitgebern oder politisch Verantwortlichen“ in den Industrieländern, wenn es um das Thema Sozialklausel geht. Dies erkläre die „im allgemeinen eher negative Reaktion auf solche Kampagnen, die als Ausdruck von Zynismus oder als Verschleierung konjunktureller oder protektionistischer Praktiken verstanden werden“. Die Schlußfolgerung ergibt sich damit von selbst: „Dieser Kontext macht es notwendig, daß Gewerkschaften, regierungsunabhängige Organisationen und all jene, die sich für Sozialklauseln einsetzen, die damit verbundenen politischen und taktischen Ziele klarstellen.“10 Ist es für diese Bewegungen und Aktivisten nicht endlich an der Zeit, eine breite Diskussion in Gang zu setzen und auf ein Terrain vorzudringen, das ihre Gegner schon weitgehend besetzt und unter sich aufgeteilt haben?

dt. Erika Mursa

1 Vgl. hierzu den Artikel von Francis Blanchard, ehemaliger Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamts (IAA), das als ständiges Sekretariat der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO/OIT) fungiert, in Le Monde vom 30. Juni 1993: „La clause sociale et l'OIT“.

2 In den Jahresberichten der ILO werden regelmäßig unter anderem die fortdauernde Kinderarbeit und verschiedene Formen der Sklaverei angeprangert.

3 Die Einführung von Sozialklauseln in die Mechanismen der WTO wird von den in der französischen Nationalversammlung vertretenen politischen Parteien nahezu einstimmig unterstützt. Vgl. hierzu den Bericht von Patrick Hoguet, Abgeordneter der UDF des Département Eure-et-Loir, „Les Résultats du cycle de l'Uruguay du GATT“, Abordnung für die Europäische Gemeinschaft, Informationsbericht Nr. 1066, 5. April 1994.

4 Die Rede wurde veröffentlicht in OMC Focus, Nr. 4, Juli 1995, Genf.

5 Benannt nach dem britischen Botaniker Robert Brown: völlig regellose Zitterbewegungen kleinster Teilchen in einer Flüssigkeit oder einem Gas. (Anm. d. Übers.)

6 Vgl. Edgar Pisani, „Pour que le monde nourrisse le monde“, Le Monde diplomatique, April 1995.

7 Unter den Kommissaren scheint sich nur Manuel Marin öffentlich für die Einführung eines Minimums an sozialen Normen ausgesprochen zu haben, er hat dies jedoch als seine persönliche Meinung deklariert.

8 Vgl. Michel Hansenne, „Libération des échanges et progrès social. Comment appliquer la clause sociale“, Le Monde, 21. Juni 1994.

9 Vgl. Le Monde diplomatique vom August 1994 und August 1995

10 Gérard Fonteneau, „La réglementation du commerce international: vers une société à irresponsabilité illimitée?“, Foi et développement, Nr. 236, Oktober 1995.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Bernard Cassen