16.02.1996

Ein ausgeklügeltes Szenario

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Ein ausgeklügeltes Szenario

9. November 1989: Zur allgemeinen Überraschung überwinden Zehntausende Ostdeutsche für einen Abend die Berliner Mauer. 3. Oktober 1990: Die Alliierten geben dem nunmehr wiedervereinten Deutschland seine volle Souveränität zurück. Niemals zuvor hatte Europa eine so rasche, so friedliche Umwälzung erlebt.

Fünf Jahre später macht die von den Medien sorgsam aufbereitete Emotion nun der Geschichte Platz. Philip Zelikow und Condoleezza Rice enthüllen in ihrem Buch1 einige Hintergründe dieser historischen Wendung. Erhellende Informationen, zu denen sie als Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats der Vereinigten Staaten Zugang hatten, fügen sich zu einem fesselnden Bericht, der mit der bisher verbreiteten beschönigenden Darstellung bricht.

Die Vereinigung Deutschlands ist demnach weder das Ergebnis einer spontanen Volksbewegung noch eines diplomatischen Konsenses. Die öffentliche Meinung dient als Manövriermasse, die untergehende DDR hat kein Wörtchen mitzureden, die zahlreichen beunruhigten Staaten scheinen das Ereignis nicht beeinflussen zu können. Die Trumpfkarten hält in Wirklichkeit eine ganz kleine Gruppe von Männern aus der Bundesrepublik, den Vereinigten Staaten und der damaligen Sowjetunion in der Hand.

Kanzler Helmut Kohl, der lange Zeit unterschätzt worden ist, erscheint plötzlich als Deus ex machina in einem Stück, das er selbst verfaßt, inszeniert und auch spielt. Er ist es, der das nationalistische Feuer schürt, in dem sowohl die Bindung der Ostdeutschen an ihren Staat verglüht als auch der Widerstand derjenigen Westdeutschen, die ein vereintes, aber neutrales Deutschland befürworten. Er ist es auch, der sich auf Artikel 23 der bundesdeutschen Verfassung beruft, und so die Wiedervereinigung zu einer Annexion ummünzt. Schließlich ist er es, der die Gegenleistungen für die deutsche Souveränität offeriert: den US-Amerikanern bietet er den Verbleib der Bundesrepublik in der Nato; den Franzosen eine neue Stufe im europäischen Einigungsprozeß; den Sowjets ein paar von den Dollarmilliarden, die die Perestroika ach so dringend benötigt.

Doch wenn der politische Riecher es dem Chef der Christdemokraten ermöglicht, die Geschichte mit einem gewaltigen Schlag zu beschleunigen, so vor allem deshalb, weil in jener Zeit die Kräfteverhältnisse im Umschlagen begriffen sind. Die Vereinigten Staaten, die im Begriff sind, den kalten Krieg endgültig zu gewinnen, sehen in der Vereinigung Deutschlands unter dem Dach der Nato die Krönung ihres Sieges. Die Sowjetunion dagegen verfügt nicht mehr über die Mittel, die Politik umzusetzen, die Stalin 1952 entworfen hatte: die Einheit Deutschlands einzutauschen gegen seine Neutralität.

Peinlich genau beschreibt das Buch Michail Gorbatschows Abstieg zur Hölle. Er sitzt in der Klemme zwischen einer Öffentlichkeit, die von den Reformen enttäuscht ist, und den Konservativen, die sie aus Panik vor dem Zerfall des sozialistischen Systems wieder rückgängig machen wollen. So ist er schlußendlich gezwungen, nach und nach auf alle so teuer bezahlten Errungenschaften des zweiten Weltkriegs zu verzichten: Schlag auf Schlag muß er zunächst der Wiedervereinigung zustimmen, dann den einseitigen Abzug seiner Truppen und schließlich dem Verbleib des neuen Deutschlands im Nordatlantischen Bündnis hinnehmen. Und doch hat weder dieser „gute Wille“ noch die wenige Monate später im Golfkrieg erfolgte Abstimmung seiner Politik mit den Vereinigten Staaten seinen endgültigen Sturz zu verhindern vermocht.

„Wenn je irgendeine Hoffnung bestanden hat, die Wiedervereinigung zu stoppen oder zu verlangsamen, so hätte sie nur auf eine britisch-französische Initiative zurückgehen können“, schrieb Margaret Thatcher. In der Tat hätte eine solche Initiative die Bedenken zahlreicher Regierungen bündeln und artikulieren können, die sowohl im Osten (insbesondere in Polen) als auch im Westen zu vernehmen waren (von Frankreich, Großbritannien, Kanada, Norwegen, Belgien, Italien, Niederlande, Luxemburg, Spanien usw.). Doch der Gast im Elysée-Palast zog es vor, die Flucht nach vorn in Richtung Maastricht anzutreten...

dt. Miriam Lang

1 Philip Zelikow und Condoleezza Rice: „Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft“. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, und London 1995, 493 Seiten, 21,95 £

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996