Für die Sicherung der Chancengleichheit
Von
SERGE
HALIMI
ZU viele Steuern, also gar keine Steuern. Die Wirtschaft wird dadurch abgewürgt. Ich bin fest entschlossen, mit dem Steuerabbau zu beginnen.“ François Mitterrands Äußerung stammt vom September 1983, als die französischen Sozialisten gerade ihre große neoliberale Kehrtwendung vollzogen hatten. Diese Forderung, oder vielmehr dieses Versprechen, ist mittlerweile eine unerläßliche Pflichtübung, wenn über Wirtschaft gesprochen wird. Und auch Jacques Chirac hat sich soeben darauf festgelegt, den Anteil der gesetzlichen Abgaben in der Wirtschaft zu senken – wenn auch erst 1997.
Es ist paradox, ausgerechnet in dem Moment eine Reduzierung der relativen Steuerbelastung zu planen, in dem überall von einer Spaltung der Gesellschaft und von den benachteiligten Bewohnern der Vorstädte die Rede ist. Aber die Idee wird noch seltsamer, wenn man bedenkt, daß die Steuereinnahmen auch wegen der abgeschwächten Wirtschaftstätigkeit zurückgehen, während die Schuldenlast und – wegen der wachsenden Zahl alter Menschen – auch die Ausgaben für medizinische Versorgung wachsen, und zwar natürlich in schnellerem Tempo als die Produktion. Ronald Reagan glaubte, die Quadratur des Kreises vollbringen zu können, als er von einem verborgenen Schatz an „Betrügereien, Verschwendung und Mißbrauch“ sprach. Das Ergebnis kennen wir. Einige Steuern wurden gesenkt, und die Defizite stiegen in schwindelerregende Höhen.
Wenn man von bescheidenen „Sozialabgaben“ träumt, wird man nirgends idealere Bedingungen antreffen als in den Vereinigten Staaten: Ihr Anteil am Bruttosozialprodukt liegt jenseits des Atlantiks bei 31,6%, in Frankreich, Italien und Deutschland dagegen zwischen 44 und 49%.1 Zu beachten ist dabei nur, daß die Belastung für den Steuerzahler (vor allem wenn er reich ist) zwar niedriger ist, daß er aber dafür auch nicht so viele Gegenleistungen erhält. Der Begriff „obligatorische Abgaben“ läuft damit im Grunde auf eine sprachliche Manipulation hinaus.
So macht die Tatsache, daß in Frankreich im wesentlichen der Staat die nötigen Ausgaben für Erziehung, Gesundheit und soziale Absicherung bestreitet, die Befriedigung dieser Bedürfnisse in Frankreich nicht automatisch „obligatorischer“ als in den Vereinigten Staaten. Dort allerdings wird der Besuch einer weiterführenden Schule erst durch die „freiwillige Sparleistung“ der Eltern ermöglicht, werden die Kosten für medizinische Versorgung von einer „freiwillig“ abgeschlossenen privaten Versicherung erstattet, und die soziale Absicherung ist weitgehend von freiwilliger und mildtätiger Unterstützung abhängig. Aufs Ganze gesehen würde jemand, der weder medizinische Versorgung noch höhere Schulbildung, noch irgendwelche öffentlichen Dienstleistungen wünscht und dem auch ein minimaler gesellschaftlicher Zusammenhalt egal ist, in den Vereinigten Staaten tatsächlich billiger davonkommen als in Europa. Doch wenn man auf all das nicht verzichten will, wird man – hier wie eben auch dort – zahlen müssen. Nur ist „all das“ in den USA eben nicht „obligatorisch“. Man kann sehr gut, wie es vierzig Millionen Amerikaner bereits tun, auch ohne Krankenversicherung leben. Man braucht auch niemals mit dem Zug zu fahren oder ein Auto zu kaufen. Und man kann auch ohne höhere Schulbildung leben.
Man ist zweifellos gut beraten, sich für diesen zweiten Weg zu entscheiden, zumindest wenn man nicht besonders wohlhabend ist. In Frankreich liegen die Einschreibgebühren an einer Universität pro Jahr zwischen 850 Francs (250 Mark) und 5700 Francs (1700 Mark). In den USA betragen sie im Jahresdurchschnitt zwischen 2686 Dollar (4000 Mark) in einer öffentlichen und 11709 Dollar (17560 Mark) in einer privaten Einrichtung.2 In den letzten fünfzehn Jahren sind diese Einschreibgebühren doppelt so schnell wie die Inflation gestiegen, während die Löhne gleichgeblieben sind.
An den privaten Universitäten mit dem größten Prestige (Yale, Harvard, Stanford) liegen die Studienkosten bis zu einem Examensabschluß nach dem dritten Universitätsjahr bei gegenwärtig 100000 Dollar. An den staatlichen Universitäten haben die Kürzungen bei den „obligatorischen Abgaben“ schon die erwarteten Ergebnisse gezeitigt: In New York hat eine 12,6prozentige Kürzung der staatlichen Mittel für die Universitäten einen prompten Anstieg der Einschreibgebühren um 75% (von 2500 auf 4300 Dollar jährlich) ausgelöst. In Kalifornien wurden die staatlichen Beiträge zu den Haushalten der staatlichen Universitäten (Berkeley oder UCLA) in den letzten fünf Jahren um 25% gekürzt. Die Einschreibgebühren haben sich verdoppelt und betragen inzwischen etwa 4500 Dollar für Kalifornier, alle anderen zahlen das Doppelte. Aber es ist natürlich nicht „obligatorisch“, eine Universität zu absolvieren.
1980 beliefen sich die Kosten eines Universitätsstudiums pro Kind auf 12,5% (an einer staatlichen Universität) und 26,6% (an einer Privatuniversität) des durchschnittlichen Jahreseinkommens einer Familie. 1993 lagen sie bereits bei 15,9 und 39,9%.3 Wenn man die amerikanischen Familien nach ihrem Einkommen in vier gleiche Schichten einteilt, dann hat ein Jugendlicher, dessen Familie zur obersten Schicht gehört, neunzehnmal mehr Chancen, zur Universität zu gehen, als ein Jugendlicher, dessen Familie zur untersten Schicht gehört. Vor fünfzehn Jahren, also bevor sich der Slogan „Zu viele Steuern, also keine Steuern“ durchgesetzt hatte, standen die Chancen noch im Verhältnis 4 zu 1. Müßte es nicht „obligatorisch“ sein, sich an diese Realität zu erinnern, wann immer die steuerpolitischen Demagogen ihre Sirenengesänge anstimmen?
dt. Christian Voigt
1 „Perspectives économiques de l'OCDE“, Paris, Juni 1995, Schaubild A 32.
2 International Herald Tribune, 26. Dezember 1994.
3 Business Week, 24. Mai 1993.