16.02.1996

Der Lauré-Entwurf

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Der Lauré-Entwurf

EIN ausgeklügelter Entwurf zum Thema „Sozialklausel“ stammt von Maurice Lauré, Generalinspektor der Finanzen, Ehrenvorsitzender der Société générale und eher bekannt als Vater der Mehrwertsteuer. Maurice Lauré schlägt vor, Europa müsse „Ausgleichsabgaben“ auf seine Importe erheben, die der Differenz zwischen den durchschnittlichen Lohnkosten im eigenen und denen im exportierenden, zumeist asiatischen Land entsprechen.

Aber anders als die üblichen Zollgebühren sollten diese Abgaben nicht einbehalten werden. Der jeweilige Betrag wird dem exportierenden Land in Form von ECU-Guthaben gutgeschrieben, die ausschließlich für den Erwerb von Waren aus Europa verwendet werden dürfen. Mit anderen Worten: „Europa würde gleichzeitig eine ähnliche Verwaltung wie einst der Marshallplan einrichten, die die Produktionskosten in Asien ständig beobachtet, so daß Ausgleichsabgaben erhoben und jeweils auf den neuesten Stand gebracht werden können, die jedoch so großzügig berechnet werden, daß ein reger Außenhandel möglich ist.“1

Solche Vorkehrungen enthalten nach Ansicht des Autors vielfältige Vorteile. So wird damit etwa dank der verstärkten Ausstattung mit europäischer Technik, die durch das neue Handelssystem gefördert wird, bei den Partnerländern eine differenziertere und stärker auf die eigenen Möglichkeiten konzentrierte Entwicklung begünstigt: „Diese Länder würden damit direkt ihre künftigen Volkswirtschaften gestalten und nicht nur eine wirtschaftliche Übergangsform mit dem Charakter eines Zulieferbetriebs, der sehr große Märkte bedient.“2

Um zu vermeiden, daß Waren auf Umwegen ins Land gelangen, müßten letztlich auf alle Warenimporte, ganz gleich welcher Herkunft, Ausgleichsabgaben erhoben werden, ausgenommen natürlich Produkte aus einem Land, das derselben Zollunion angehört. Dieses Verfahren läuft auf eine globale Regulierung der Handelsstrukturen hinaus, die sich von den Zielsetzungen der aktuellen Welthandelsorganisation radikal unterscheidet.

Der Vorschlag von Maurice Lauré läßt sich in verschiedene Richtungen erweitern und nicht nur in den Dienst wirtschaftlicher Entwicklung im engeren Sinn stellen, sondern auch auf ökologische, bildungspolitische und soziale Ziele anwenden. So vertritt der internationale Unternehmensberater René Siegfried die Idee einer Zollgebühr für Importe, die die obligatorischen Abgaben der Firmen für soziale oder ökologische Belange ausgleichen sollen. Letztere kommen nämlich allein den Beschäftigten der steuerpflichtigen Unternehmen in den entwickelten Ländern zugute, während die Arbeitskräfte in anderen Regionen der Welt, wo die Firmen solchen Verpflichtungen nicht unterliegen, davon gar nicht profitieren.

DIE Einnahmen aus dieser Steuer, die von Land zu Land unterschiedlich wären, sollten nicht an den betreffenden Staat, sondern in nationale oder regionale Solidaritätsfonds fließen, an deren Verwaltung Gewerkschaften, regierungsunabhängige Organisationen u.a. beteiligt sind. Diese Mittel sollten dann für Projekte in der Erziehung, im Umweltschutz und für die soziale Absicherung (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Ruhestand) verwendet werden.

Der Autor schließt seine Ausführungen wie folgt: „Ein hochentwickelter sozialer Schutz für alle Arbeitskräfte, ganz gleich welcher Nationalität, ist nicht nur ein realisierbares und moralisch gerechtfertigtes Ziel, sondern auch unabdingbare Voraussetzung für eine Liberalisierung des internationalen Austauschs nach gesunden Prinzipien, die den Menschen zugute kommen und nicht gegen die Schwächsten unter ihnen gerichtet sind.“3

Diese Vorschläge bedürfen, vor allem soweit sie dem Staat Einnahmen entziehen wollen, noch der Diskussion. Doch sage niemand, daß es keine Lösungsansätze gäbe, die die Ideologie des Freihandels, der im Grunde nur eine Prämie für die Ausbeutung der Arbeitskraft darstellt, ohne weiteres ersetzen könnten. Solche Ansätze müssen alle diejenigen weiterverfolgen, die bestrebt sind, den Lebensstandard und die soziale Absicherung auf unserem gesamten Planeten zu erhöhen.

1 Maurice Lauré, „Rapport sur le chômage“, Paris, 1. Juli 1994, beim Autor erhältlich.

Vgl. auch vom gleichen Autor: „Les délocalisations: enjeux et stratégies des pays développés“, Futuribles, Mai 1993.

2 „Rapport sur le chômage“, a.a.O.

3 René Siegfried, „Pour une Europe protégée mais solidaire“, Le Monde, 22. Februar 1994.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996