16.02.1996

Afrika im Bann des Fußballs

zurück

Afrika im Bann des Fußballs

FERN von seinem heimatlichen Bürgerkriegsland ist der Liberianer George Weah als erster Afrikaner zum europäischen Fußballer des Jahres gewählt worden, zugleich hat der Präsident des internationalen Fußballverbandes FIFA vorgeschlagen, die Fußballweltmeisterschaft 2006 in einem afrikanischen Land auszutragen. Aber nicht einmal Südafrika, wo gerade erst die Spiele um den Afrika-Pokal stattfanden, kann die enormen Mittel aufbringen, die solche Veranstaltungen erfordern und die für die USA demnächst bei den Olympischen Spiele in Atlanta fällig werden. An finanziellen Mitteln fehlt es in Afrika auch den einzelnen Clubs; der afrikanische Markt ist für Sponsoren nicht interessant genug.

Von CHRISTIAN DE BRIE

Vom 13. Januar bis zum 3. Februar 1996 war Südafrika erstmals Gastgeber der 16 Mannschaften, die die Endrunde um die 20. Afrika-Fußballmeisterschaft bestritten. Damit versuchte das Land, nach dreißigjähriger Isolation seine Integration in die afrikanische Staatengemeinschaft zu bekräftigen. Darüber hinaus soll der Fußball mithelfen, seine ehrgeizig formulierten innenpolitischen Ziele zu erreichen.

Für das Team „Bafana Bafana“ („Die kleinen Jungs“) ist dies eine schwere Herausforderung. Bis vor kurzem war es vom Wettbewerb mit der Elite des Kontinents ausgeschlossen und außerdem mit Fernsehbildern von der britischen Meisterschaft überfüttert, weshalb es einen rustikalen Stil praktizierte, bei dem robuster Körpereinsatz mehr zählte als Inspiration. Ganz anders die übrigen afrikanischen Teams: die „Black Stars“ aus Ghana, die „Pharaonen“ aus Ägypten, die „Hengste“ von Burkina-Faso, die „Elefanten“ der Elfenbeinküste oder die „Unbezwingbaren Löwen“ Kameruns.

Als im Juni 1995 die südafrikanischen Springboks die Rugby-Weltmeisterschaft gewannen, hatte das Land seine triumphale Rückkehr in die internationale Sportgemeinschaft vollzogen. Dieser Lieblingssport der Weißen (zusammen mit Cricket), von dem Schwarze praktisch ausgeschlossen waren, zog reichlich Zuschüsse und Sponsorengelder an, während der Fußball – der als Sport der Schwarzen und der Townships galt – von den öffentlichen Stellen seit jeher vernachlässigt wurde.

Fußball ist aber zugleich der populärste und verbreitetste Sport in ganz Afrika. Wie in Europa begeistert Fußball hier vor allem Kinder und Jugendliche, die ihren Sport improvisiert und spontan und mit viel Gelächter und Geschrei betreiben, als Lebensart und Zeitvertreib zugleich. Aber die Verhältnisse beginnen sich zu ändern. Zum einen gibt es bereits schmucke Stadien mit gepflegtem Rasen und Toren mit richtigen Netzen, mit Regeln und sauberen Umkleideräumen; zum anderen gibt es die Bolzplätze mit nackter Erde, mit Steinen und Staub, ohne klare Spielfeldgrenzen, die von den Zuschauern ohnehin nicht respektiert werden, mit zusammengenagelten Toren, wo die Spieler barfuß oder mit nur einem Schuh spielen, dribbeln und den Ball jonglieren. Hier spielen die Fußballverrückten stundenlang, ein Match nach dem anderen, bis zur Erschöpfung. Diese Art Straßenfußball produziert seit jeher Afrikas künftige Fußballvirtuosen. Der Nigerianer Anthony Yeboah, einst Star bei Eintracht Frankfurt und heute beim englischen Leeds United, erinnert sich, wie er als Zehnjähriger an einem Tag sechs Spiele hintereinander spielte, und das in verschiedenen Teams und auf verschiedenen Plätzen.1

Die größten Talente schaffen rasch den Sprung in die Jugendnationalmannschaften, die mit ihrer glänzenden Spielweise bei den Weltmeisterschaften für die Altersgruppe der Sechzehnjährigen immer wieder erfolgreich abschneiden. Hier machen europäische Kopfjäger ihre Geschäfte und sahnen immer unverschämter die jungen afrikanischen Talente ab, was ihren Auftraggebern enorme Profite bringt. Der Nigerianer Nwankwo Kanu wurde vom letztjährigen Gewinner des Pokals der Landesmeister, Ajax Amsterdam, im Alter von sechzehn Jahren unter Vertrag genommen: „Während der Jugendweltmeisterschaft 1993 in Japan sind die Vermittler aus ganz Europa regelrecht über mich hergefallen. Ich sah, daß ich meine Chance nutzen mußte, und entschied mich für Ajax.“2

Heute sind 342 afrikanische Berufsspieler – mehr, als beim Afrika-Pokal in Südafrika angetreten waren – in europäischen Vereinen tätig: 54 Nigerianer, 36 Ghanaer, 31 Zairer, 24 Algerier, 19 Kameruner, 13 Liberianer und ebenso viele Angolaner.3 Dazu kommen die afrikanischen Spieler, die sich am Ende ihrer Karriere noch Petrodollars im Nahen Osten verdienen. In vielen Ländern ist ein großer Teil der Elite ausgewandert: Im Fall von Zaire und Kamerun die halbe Nationalmannschaft; in Bürgerkriegsländern ist der Anteil noch größer – zwei Drittel in Liberia, Sierra Leone und Angola, desgleichen in Ghana. Die Spiele um die nationale Meisterschaft und die internationalen Turniere laufen auch während eines Bürgerkrieges weiter. Die algerische Nationalmannschaft hat 1994/95 noch zwanzig solcher Turniere absolviert; die von Liberia zwölf, die von Sierra Leone sechzehn, bei Angola waren es zehn, bei Mosambik zwölf und bei Zaire vierzehn. Die Jugendmannschaft der Kabylei gewann im Dezember 1995 in Algier das Pokalendspiel der afrikanischen Pokalsieger, und auch in Ruanda ist die nationale Meisterschaft schon wieder in Gang gekommen.

Es ist ein Zeichen seiner Abhängigkeit, daß Afrika seine Sportler genausowenig halten kann wie seine geistigen oder natürlichen Ressourcen. Im Vergleich zu Europa ist die finanzielle Ausstattung der Clubs und Sportverbände lächerlich. Die Gehälter der Spieler liegen bei vergleichbarem Spielniveau zehn- bis zwanzigmal niedriger, vorausgesetzt, sie werden überhaupt ausgezahlt. Manchmal müssen die Spieler sogar Geld vorschießen oder die Reisekosten selbst bezahlen. Ein einziges Europapokalspiel von Real Madrid bringt der UEFA mehr ein als alle Spiele, die der afrikanische Fußballverband CAF in einem ganzen Jahr organisiert.4 Auch private Gelder fließen nur beschränkt, weil die Sponsoren und Mäzene angesichts der winzigen Märkte nur ganz begrenzte Einnahmemöglichkeiten haben. Und öffentliche Gelder sind noch knapper geworden, seit in Afrika allenthalben eine rigide Politik der „Strukturanpassung“ um sich greift. Zudem werden die öffentlichen oder privaten Gelder, die in den Fußball fließen, in Afrika wie in Europa nur zu oft in die Taschen von Funktionären und Mittelmännern abgezweigt.

Doch es gibt auch Ausnahmen. Das Gold der Ashanti-Minen in Ghana finanziert das „Goldfields“-Team von Obuasi, und der Club „Etoile sportive du Sahel“ aus dem tunesischen Sousse, der vor kurzem afrikanischer Vereinspokalsieger wurde, bezieht seine Einnahmen aus dem Tourismus. Wo es Ölfirmen gibt, subventionieren sie „ihre Clubs“, und fast überall gibt es nach dem Vorbild des Königlichen Armeeclubs von Marokko die Mannschaften des Militärs. Andere Vereine wiederum sind Aktiengesellschaften, wie der ASEC aus Abidjan in der Elfenbeinküste.

Abidjan, 16. Dezember 1995, 17.15 Uhr: Im Houphouät-Boigny-Stadion ist das Publikum geschockt. In der 72. Minute des Rückspiels in der Endrunde des 31. Pokals der afrikanischen Pokalsieger kontern die schwarzweißen „Orlando-Piraten“ aus Soweto, überlisten die Verteidigung der gelben „Mimos“ von ASEC- Abidjan – und schießen das einzige Tor in einem Spiel, das durchgehend von den Abidjanern beherrscht wurde. Der Überraschungssieg hat auch symbolische Bedeutung – erstmals gewann eine südafrikanische Mannschaft einen afrikanischen Fußballpokal, und das Team stammt auch noch aus dem Orlando-Viertel von Soweto, der gigantischen Ghettosiedlung im Weichbild von Johannesburg, der Stadt der Märtyrer und des Widerstandes gegen die Apartheid.5

Der populäre Club, der anfangs von den Bewohnern Orlandos getragen wurde, bevor ihn örtliche Geschäftsleute übernahmen, gab sich seinen Vereinsnamen „Piraten“ bereits 1937 nach dem berühmten Film mit Errol Flynn. Das Team war einer der ersten Gewinner des Fußballpokals der Schwarzen, den die „National Professional Soccer League“ 1970 einführte. Schwarzweiß ist bei den „Piraten“ nicht nur die Farbe der Trikots, sondern auch die Hautfarbe der Spieler, die von einem Schotten trainiert werden.

ASEC-Abidjan, zehnfacher nationaler Pokalsieger, dreizehnfacher und seit 1990 ungeschlagener Landesmeister, ist das bekannteste Fußballteam der Elfenbeinküste. Es ist auf dem ganzen afrikanischen Kontinent bekannt und hat Spieler von internationaler Klasse in seinen Reihen. Doch auch dieses Jahr sieht sich das Team wieder um den Pokal der afrikanischen Pokalsieger betrogen, nachdem es schon in den vorangegangenen Jahren viermal im Halbfinale gescheitert war. Auf den seit dem Morgen brechend vollen und glühendheißen Betontribünen kocht der Volkszorn unter den 25000 Zuschauern, die in den Vereinsfarben kostümiert sind und Transparente schwingen: „Vorwärts zum Endsieg!“ oder „Afrika ist unser!“ oder „Für das Wohl des Volkes!“.

Wem soll man diese Katastrophe anlasten, da doch die Schiedsrichter einwandfreie Arbeit geleistet haben? An den Stadionausgängen und in den angrenzenden Straßen, hört man in der Menge Parolen wie: „Bédié, unser Unglück!“, „Bédié, unser Pech!“. Staatschef Henri Konan Bédié saß während des Spiels in der ersten Reihe der Ehrentribüne; er hatte mit seiner Anwesenheit den sicheren Sieg krönen und nicht zuletzt auch sein eigenes Prestige erhöhen wollen.

In Afrika, wie anderswo auch, erhöht sich die Legitimität der Macht in dem Maße, als sie mit dem Schicksal verbündet scheint. Schlecht für die Mächtigen, wenn es sie verläßt. Noch schlechter für diejenigen, die davon zu sprechen wagen. Weil die Zeitung La Voie, die der wichtigsten Oppositionspartei FPI nahesteht, die Niederlage des Abidjaner Clubs auf die Anwesenheit des Präsidenten zurückführte, wurden ein Journalist und der Herausgeber der Zeitung am 26. Dezember zu zwei Jahren Haft und 3 Millionen CFA-Franc (9000 Mark) Geldstrafe verurteilt. Die Zeitung blieb für drei Monate verboten.6 Fußball ist wie der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.7

Am 10. November 1995 ließ das Militärregime von General Sani Abacha in Nigeria neun Oppositionelle des Ogoni-Volkes8 aufhängen, darunter den Schriftsteller Ken Saro-Wiwa9. Der hatte seit 1992 den Regierungen der USA, Japans und Europas sowie den multinationalen Ölkonzernen vorgehalten, „die moralische, wenn nicht die juristische Verantwortung dafür zu tragen, daß der Völkermord am Ogoni-Volk beendet wird“10. Die Ölfirma Shell habe das Ogoni-Land zerstört und sei – genauso wie andere Gesellschaften: Chevron, Mobil, Texaco, Agip, Elf und die französische Bouygues-Gruppe – zum Komplizen des Regimes geworden.

Einige Tage später rief Präsident Nelson Mandela, unter dem Druck der südafrikanischen Öffentlichkeit, die internationale Gemeinschaft zu einem totalen Embargo auf, das vor allem für das nigerianische Öl gelten sollte, das über 97 Prozent der Exporte des Landes ausmacht und je zur Hälfte in die USA und in die EU- Länder geht.

Nigeria beschloß daraufhin, seine Teilnahme an der Endrunde des Afrika-Pokals in Südafrika abzusagen, wo das Land seinen 1994 gewonnenen Titel verteidigen sollte. Offiziell wurde diese Entscheidung aus „Sicherheitsgründen“ getroffen, da sich die nigerianische Delegation trotz der Zusicherungen aus Pretoria bedroht fühlte11: „Die diversen Informationen über politische und sportliche Gewalt in Südafrika beunruhigen die Regierung.“12 Unsicherheit und Gewalt sind in Südafrikas Städten und Stadien eine Realität – Johannesburg gilt als die kriminellste Stadt der Welt. Wenn allerdings die Kritik ausgerechnet aus Lagos kommt, ist sie nicht besonders ernst zu nehmen. Und das gilt für Nigeria insgesamt, denn erst vor wenigen Wochen wurde in Ibadan einer der jüngsten Hoffnungsträger des nigerianischen Fußballs im Alter von fünfzehneinhalb Jahren beim Abpfiff eines Spiels mit einem Kopfschuß getötet.

Ein Afrika-Pokal ohne die „Super Eagles“ von Nigeria ist nun freilich wie eine Fußballweltmeisterschaft ohne Brasilien. Die Entscheidung Nigerias ist eindeutig politischer Natur. Der Regierung in Lagos geht es dabei um nichts anderes als um die regionale Vorherrschaft einer der beiden Großmächte Afrikas.

dt. Dominic Johnson

1 Afrique Football Nr. 94, November 1995, S. 27.

2 Afrique Football Nr. 95, Dezember 1995, S. 40.

3 La Gazetto dello Sport, zitiert in InfoMatin vom 5./6. Januar 96.

4 Afrique Football, Dezember 1995.

5 Am 16. Juni 1976 brachen in Soweto Unruhen aus, nachdem die Regierung den obligatorischen Afrikaans-Unterricht in den Schulen eingeführt hatte. Sie forderten 23 Tote und über 200 Verletzte und griffen auf viele schwarze Städte über.

6 Vgl. François Picard, in: Le Monde, 1.1.1996

7 Ignacio Ramonet, „Le football c'est la guerre“, Le Monde diplomatique, Juli 1990.

8 Die Ogoni sind eine der 250 Ethnien des Landes, zu der 550000 der insgesamt 120 Millionen Einwohner gehören.

9 Seine Novelle „Voyage dans la nuit“ erschien in Le Monde diplomatique, Januar 1996.

10 „Genocide in Nigeria: the Ogoni Tragedy“, London (Saros International Publishers) 1992.

11 France Football, Paris, 9.–15. Januar 1996.

12 Libération, 2. Januar 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Christian de Brie