16.02.1996

Eine Menschheit ohne festen Wohnsitz

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Eine Menschheit ohne festen Wohnsitz

AUSWANDERER, Flüchtlinge, Vertriebene – rechtlich mögen das verschiedene Kategorien sein, aber in der Praxis verschwimmen die Unterschiede. Was bleibt, ist ein Sammelsurium von Definitionen des „Fremden“, den man aufnimmt, duldet oder abweist. Auf lange Sicht wesentlich schwerwiegender, wenn auch auf den ersten Blick weniger spektakulär, ist die Entwicklung, die Milliarden von Menschen in die Ballungsräume der Megalopolen getrieben hat oder noch treiben wird. Es wäre leichtfertig, darin eine friedliche Bewegung zu sehen: Der Prozeß hat gerade erst begonnen, aber schon kracht es mächtig im Gebälk...

Von unserem Sonderkorrespondenten JACQUES DECORNOY

Drei Wochen war er nun in Hongkong, für ein Jahr war sein Aufenthalt geplant. Seine Firma, ein multinationaler Konzern, mit Sitz in Düsseldorf, hatte ihn in die (noch) britische Kolonie schicken müssen, weil die dortigen chinesischen Spezialisten zunehmend nach Melbourne oder Houston zogen, häufig übrigens auf Wunsch ihrer Arbeitgeber. Einen „Arbeitsemigranten“ nannte er sich manchmal im Scherz. Lange Zeit war das britische Territorium Zufluchtsort für Chinesen gewesen, die den kommunistischen Staat verlassen hatten; außerdem fanden hier Tausende von Vietnamesen (Wirtschaftsflüchtlinge? Politisch Verfolgte?) Aufnahme, die auf dem Seeweg kamen. Neuerdings waren eine Reihe von Wirtschaftsaktivitäten ins benachbarte Kuangtung verlagert worden. In diesem Zusammenhang hatte er gerade erfahren, daß die philippinische Firma, die hier als Tochter seines Konzerns firmierte, seit kurzem auch ein chinesisches Unternehmen belieferte... Beim Blättern in einer Zeitschrift stieß er auf den x-ten Artikel über die Frage, welche Migrationsbewegungen 1997 die Rückgabe Hongkongs an China zur Folge haben könnten (Wer? Warum? Wohin?). Dann schaltete er den Fernseher ein. CNN brachte zum wiederholten Mal die Großaufnahme einer verängstigten Menge, die sich auf einer Rollbahn im Gebiet der Großen Seen Afrikas drängte. Dann wurde eine Reportage über illegale Arbeiter in Thailand angekündigt.

Eine „erfundene“ Geschichte? Nein, es ist die Wirklichkeit von heute, kaum verdichtet oder vereinfacht, auch wenn es nicht so scheinen mag. In einer unbeständigen, von Migrationen geprägten Welt verwischen oder verlieren sich die Grenzen. Das ist auch bei vielen Organisationen in Genf die vorwiegende Meinung, beim Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ebenso wie beim UN-Forschungsinstitut für Soziale Entwicklung (UNRISD), der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und beim Weltkirchenrat (WCC). Die Welt mit ihren sechs Milliarden Bewohnern ist in Bewegung, aber auch nicht heftiger als früher, relativ betrachtet vielleicht sogar weniger als zu der Zeit, da noch eine Milliarde Menschen auf dem Planeten lebten. Nur ist ihre Bewegung heute eine andere, und oft drohen die unverzichtbaren nationalen und internationalen juristischen Kategorien in den stürmischen Wogen der sozialen Wirklichkeit unterzugehen.

Nehmen wir das Beispiel Costa Rica. Seit 150 Jahren werden dort in der Landwirtschaft Saisonarbeiter beschäftigt, die vor allem aus Nicaragua kommen. Nach dem Sieg der Sandinisten 1979 in Managua setzt eine Auswanderungswelle ein, wobei politische Gründe sich mit wirtschaftlichen Motiven unentwirrbar vermengen. Aus eindeutig finanziellen Erwägungen heraus hat die Regierung von Costa Rica nichts dagegen, wenn viele dieser Arbeiter sich nun zu Flüchtlingen erklären – den Arbeitgebern kann dieser Zustrom billiger und fügsamer Arbeitskräfte nur recht sein. 1990 werden in Nicaragua freie Wahlen durchgeführt, und das Land geht wieder auf kapitalistischen Kurs. Aber die „Flüchtlinge“, die nun eigentlich keine mehr sind, kehren vorläufig nicht in ihre Heimat zurück, weil dort kaum Arbeit zu finden ist, erst recht nicht nach dem politischen Umschwung, der nur weitere Abwanderungen zur Folge hat. Diesmal kommen die Menschen aus rein wirtschaftlichen Gründen nach Costa Rica, wo derzeit rund 400000 Nicaraguaner leben dürften, die Hälfte von ihnen illegal.

Für eine derartige Situation ist das UNHCR nur am Rande zuständig, um so mehr sind die ILO, die IOM und der WCC gefordert, denn hier geht es eindeutig um Probleme von Migrationsströmen und um die Behandlung von Arbeitsemigranten. Denn Costa Rica, das sich nun selbst in der Krise befindet (wenngleich diese nicht so tiefgreifend ist wie die in Nicaragua), will auf den Welt-Agrarmärkten konkurrenzfähig bleiben, und deshalb sind die Arbeitgeber natürlich daran interessiert, eine Situation aufrechtzuerhalten, in der sie ihre Arbeiter rücksichtslos ausbeuten können. Ihr illegaler Status macht sie wehrlos. Die Regierung würde die Dinge sicher auf sich beruhen lassen, wenn sie auf diese Weise die Kosten für die Grundversorgung (Gesundheit, Schule) dieser Bevölkerungsgruppe sparen könnte. Allerdings entgehen ihr dabei zumindest die Steuern der Illegalen, und von Gegenleistungen der Unternehmer ist gar nicht erst die Rede. Eine schwierige Situation für die gesamte Region. Man sieht daran, wie sich innerhalb kürzester Zeit und selbst in einer geographisch und sozial eng umrissenen Situation mehrere wesentliche Aspekte desselben Problems überlagern und überschneiden können.

Statistische Angaben wirken oft überraschend oder erschreckend, so lange zumindest wie die Bilder, die wir im Fernsehen geboten bekommen: überfüllte Schiffe aus Albanien vor der italienischen Küste, das Todeslager von Goma an der Grenze zwischen Ruanda und Zaire... Oft verschwindet mit der Zeit die Vorstellung davon, was diese Zahlen bedeuten: vier Millionen palästinensische Flüchtlinge, über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan im Iran. Oder jene, die wie Unberührbare durch eigene oder benachbarte Gesellschaftsruinen geistern: Liberianer, Sierraleoner, Sudanesen. Insgesamt gibt es etwa 20 Millionen Flüchtlinge (Menschen, die eine Grenze überschreiten, um Krieg und Verfolgung zu entgehen), 30 Millionen Vertriebene (die, aus den gleichen Gründen, im eigenen Land umherziehen) und ein Heer von rund 80 Millionen Migranten, wie es uneinheitlicher nicht sein könnte; zu ihm gehört der karibische Saisonarbeiter, der zur Obsternte nach Kanada geholt wird, ebenso wie der Bergarbeiter mit Zeitvertrag; es schließt den illegalen Einwanderer in der Textilfabrik ein und den Auswanderer, der in Kuala Lumpur eine Bank leitet.

Nimmt man alles zusammen, dann gehören zwei von hundert Menschen auf der Welt zu dieser Gruppe. Aber genau diese Zusammenziehung macht keinen Sinn. Sowenig wie die Berechnungen über die Rückkehr von Flüchtlingen (9 Millionen seit Anfang dieses Jahrzehnts): Wenn es keine Wiedereingliederungspläne gibt, die ihrerseits Teil nationaler Wiederaufbauprogramme sind, dann könnte sich für die Rückkehrer das vermeintliche Ende der Tragödie nur als Zwischenspiel zu neuen Irrfahrten erweisen.1

Weil das UNHCR in seinem Bericht für 1995 auch Probleme außerhalb seines traditionellen Zuständigkeitsbereichs behandelt hat, sah es sich dem Vorwurf ausgesetzt, als Entwicklungshilfeorganisation auftreten zu wollen.2 Aber zugleich wurde es auch dafür kritisiert, die traditionelle Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten zu sehr zu betonen. Damit werde verdeckt, daß die Einwanderer sich kaum je aus freien Stücken auf die Reise begeben, sondern meist weil sie in ihrer Heimat aus politischen, wirtschaftlichen oder ökologischen Gründen entwurzelt sind.3 Nach Einschätzung des UNHCR droht jedoch einer wachsenden Zahl von Menschen die Entwurzelung aufgrund „sozialer und politischer Zersplitterung“. Die humanitäre Hilfe könne nicht die Politik ersetzen – man müsse die Ursachen bekämpfen, die immer wieder Flüchtlingsströme hervorbringen, vor allem die gezielt gewollte (und militärisch umgesetzte) Herbeiführung von Bevölkerungsbewegungen, wie zuletzt im ehemaligen Jugoslawien, im Kaukasus, in Ruanda und in Buthan (wo die nepalesische Volksgruppe unterdrückt wird).

Das UN-Hochkommissariat sieht zwar keine direkte Abhängigkeit zwischen wirtschaftlicher Situation und Bevölkerungsbewegungen, weist aber darauf hin, welche oft dramatischen Folgen sich kurzfristig aus den Maßnahmen zur strukturellen Anpassung ergeben können, die von außen ein „nur Markt“ und ein „weniger Staat“ erzwingen wollen. Anlaß zur Besorgnis geben auch Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung. Was die Ursachen der Krise in Ruanda angeht, verweist der Bericht auf die Bevölkerungsdichte, die Verknappung der Anbauflächen und die Erschöpfung der Böden, auf die Anpassungsmaßnahmen und die Schwankungen der Kaffeepreise auf dem Weltmarkt.

Im Vordergrund der Überlegungen des UNHCR steht ein Prinzip, das moralisches Gewicht hat, sich jedoch auch als zweischneidig erweisen kann: das Bleiberecht. Einerseits verpflichtet es den Staat, für einzelne oder Gruppen die (materiellen und sonstigen) Lebensbedingungen so zu gestalten, daß diese nicht gezwungen sind, das Land zu verlassen oder innerhalb des Landes einen Ortswechsel vorzunehmen. In Krisensituationen könnte dieses Prinzip jedoch skrupellos ausgenutzt werden, um Bevölkerungsgruppen, für die es offensichtlich besser wäre, abzuwandern, an der Flucht zu hindern und zum Bleiben zu zwingen, zum Beispiel durch die Einrichtung sogenannter Sicherheitszonen.

Bleiben können, ein Menschenrecht

GENAU wie das Internationale Rote Kreuz4 und das Weltkinderhilfswerk Unicef, geraten UNHCR und ILO in den Widerspruch, daß sie sich zwar in ihren Analysen immer stärker mit Grundsatzfragen beschäftigen, in der Praxis jedoch immer häufiger mit akuten Notsituationen auseinandersetzen müssen. Oder, wie es ein Vertreter des Flüchtlingskommissariats bildhaft ausgedrückt hat: Sie verhalten sich wie Aspirin und müßten doch ein Antibiotikum sein.

Bei der Zahl der Flüchtlinge, oder jedenfalls all der Menschen, um die sich das UNHCR kümmert, ist seit einigen Jahren ein dramatischer Anstieg zu verzeichnen: von etwa 2,5 Millionen im Jahre 1975 auf mehr als 27 Millionen im Jahre 1995. Diese Gesamtzahl gliedert sich in die folgenden Gruppen: 14,5 Millionen Flüchtlinge im engeren Sinn, 5,4 Millionen, die im eigenen Land vertrieben wurden, um die sich das Kommissariat aber dennoch ebenso kümmert wie um die 4 Millionen Flüchtlinge, die in ihre Länder zurückgekehrt sind, und die 3,5 Millionen Menschen, die als Migranten ohne Flüchtlingsstatus im Ausland leben. Zweifellos eine explosionsartige Entwicklung; die Frage ist nur, wie es dazu kommen konnte.

Für diejenigen, die vor einem Konflikt geflohen sind und nun an die Tür der Industrieländer klopfen, wird es immer schwieriger, Einlaß zu finden. Zugleich fällt es den Aufnahmeländern des Südens, die selbst von Armut und Unsicherheit geprägt sind, immer schwerer, große Massen von Flüchtlingen über längere Zeit zu beherbergen. Und was soll aus jenen werden, für die es keine Aussicht auf Rückkehr gibt, etwa im ehemaligen Jugoslawien oder im Kaukasus, wo die Konflikte ja gerade um die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen geführt werden? Die UNHCR weist auf ein weiteres neues Phänomen hin: In früheren Zeiten hatten die Flüchtlinge Vorteile davon, daß man versuchte, aus ihrer Existenz politisches Kapital zu schlagen; etwa im Fall der vietnamesischen Boat people, die dem Regime in Hanoi angelastet wurden, oder bei den Flüchtlingen aus Nicaragua, Kuba, Angola. Einst wurden sie als ideologische Manövriermasse gebraucht, aber heute, nach dem weltweiten Siegeszug eines gewissen bräunlich-prickelnden Erfrischungsgetränks, haben sie den Nutzen verloren. Wodurch ist noch die Aufmerksamkeit für Gebiete wie Ruanda, Liberia, Sierra Leone oder den Südsudan zu rechtfertigen, wenn dort weder strategische Interessen der großen Staaten noch finanzielle Interessen der multinationalen Konzerne im Spiel sind?

Wird das UNHCR in diesem Mahlstrom nie dagewesener Krisen seinen Kurs finden? Jedenfalls schwankt das Kommissariat zwischen seinem ursprünglichen Auftrag – dem Schutz der Flüchtlinge – und der neuen Aufgabe, mit Zustimmung der Geberländer eigene Entwicklungshilfemaßnahmen zu starten. Das bringt auch eine Annäherung an die großen nichtstaatlichen humanitären Organisationen mit sich.5 Welche Tragödien es auch zu verhindern und welche Leiden es zu lindern gilt – riskiert man nicht eine Verwechslung der Rollen, wenn die Planung von Maßnahmen immer häufiger in Zusammenarbeit mit den militärischen (oft US-amerikanischen) Führungsstäben geschieht, bis die UNO faktisch nichts mehr zu sagen hat?

Die Idee, für den Schutz der Flüchtlinge einzutreten, ist im übrigen noch recht lebendig. Das beweisen jüngste Veröffentlichungen des UNHCR, in denen deutliches Befremden angesichts der Haltung der Europäer formuliert wird. Zu Zeiten des kalten Krieges fanden alle, die aus einer kommunistischen Diktatur geflohen waren, ohne Schwierigkeiten Aufnahme gemäß Artikel 1A der Konvention von 1951 zum Schutz der Opfer vor Verfolgung. In der veränderten Situation gelten andere Maßstäbe: Nachdem die „sowjetische Bedrohung“ ebenso wie der Arbeitskräftemangel der Vergangenheit angehören, pflegt man in Westeuropa eine zunehmend restriktive Auslegung des internationalen Rechts.

Und die Flüchtlingskonvention von 1951? Nach der neuen Lesart soll sie sich ausschließlich auf jene Akte der Gewalt beziehen, die von Staaten, nicht von der einen oder anderen bewaffneten Gruppe oder Partei begangen werden. Demnach könnten zum Beispiel Menschen, die dem Terror der Islamisten in Algerien oder den Gewaltexzessen eines liberianischen Clans entgangen sind, keine Zuflucht finden. Das UNHCR hat dem unter Berufung auf Recht und Moral entgegenhalten können, daß in der Konvention von 1951 nichts davon steht, daß von Gewalt nur dann die Rede sein kann, wenn sie von der Staatsmacht ausgeht. Und außerdem: Vor welcher Staatsmacht soll man denn in Somalia, Sierra Leone oder Liberia fliehen, wo nichts als Chaos herrscht?6 Das Kommissariat erinnert weiterhin daran, daß in Europa nicht nur die Schweiz und Norwegen, sondern auch vier Staaten der Europäischen Union (Deutschland, Frankreich, Italien und Schweden) die Opfer von Gewalttaten, die von außerstaatlichen Organisationen begangen werden, nicht als Flüchtlinge anerkennen; es zeigt sich beunruhigt über die Politik der fünfzehn EU-Mitgliedsländer, die das Recht auf Asyl in Frage stellt. Anlaß zur Besorgnis gibt auch „die zunehmend geübte Praxis, Asylbewerber (...) in geschlossenen Lagern, Gefängnissen oder im Transitbereich der Flughäfen“ festzuhalten.7

Die Industrieländer simulieren den Belagerungszustand, lassen die Fallgitter herunter und ziehen juristische Burggräben um ihre Festung, die zu überwinden allein schon eine reife Leistung darstellt – das ist durchaus nichts Neues.8 Aber der Norden steht damit keineswegs allein: In regelmäßigen Abständen finden in dem einen oder anderen Land des Südens gewaltsame „Säuberungsaktionen“ gegen die dort lebenden Ausländer statt. Auch das trägt zur Auflösung etablierter Begriffe bei: De facto werden nämlich massenhaft vertriebene Arbeitsemigranten zu Flüchtlingen, wenn man sie nach Hause schickt. So hat Nigeria zwischen 1983 und 1985 1,5 Millionen Menschen vor die Tür gesetzt, weil der Ölboom vorbei war; so ist Saudi-Arabien während der Golfkrise 800000 Jemeniten losgeworden; so hat erst kürzlich, im August 1995, Jordanien beschlossen, in fünfzehn Bereichen der Wirtschaft keine Ausländer mehr zu dulden – allein im vergangenen Oktober sahen sich daraufhin 70000 gezwungen, das Land zu verlassen.9

Wann ist die Irrfahrt eines Flüchtlings zu Ende? Wo beginnt die Migration? Und wie unterscheidet man die Flucht vor einem bewaffneten Konflikt von der Flucht vor einem sozioökonomischen Konflikt? Wie fragwürdig solche Unterscheidungen sind, zeigen zwei Zitate aus aktuellen Publikationen über Afrika. In einem Text zum Thema „afrikanische Flüchtlinge“10 heißt es: „Die Flüchtlinge in Afrika verlassen ihre Länder, wie schon in der Vergangenheit, aus einer ganzen Reihe von Gründen: bewaffnete Konflikte, ethnische Rivalitäten, Niedergang oder gar Zusammenbruch der Wirtschaft (...). In den letzten Jahren ist die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen in schwindelerre- gendem Tempo gestiegen. Zur Zeit gibt es auf dem Kontinent sieben Millionen Flüchtlinge und etwa dreimal so viele Vertriebene.“

Eine andere Bilanz: „Afrika hat die höchste Mobilitätsrate der Welt. Man schätzt, daß 35 Millionen Afrikaner außerhalb ihres Heimatlandes leben und daß 10 Prozent dieser Migrationen die Länder südlich der Sahara betreffen. Auf diesen Teil des Kontinents entfallen derzeit fast 30 Prozent der offiziell anerkannten Flüchtlinge in der Welt, obwohl dort nur 10 Prozent der Weltbevölkerung leben. Die Zwangsvertreibungen sind überwiegend die Folge von Bürgerkriegen und politisch motivierter Gewalt – in dieser Disziplin hält Afrika einen traurigen Rekord. Hinzu kommt eine starke Migrationsbewegung aus wirtschaftlichen Gründen, die mit der Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern zu tun hat.“11 In ihrer Darstellung der gegenwärtigen Situation in Afrika führt die Welternährungsorganisation FAO vierzehn Länder auf, „die von einer außergewöhnlich kritischen Ernährungslage betroffen sind“; in drei Fällen gelten Trockenheit und Versorgungsprobleme als die einzigen Ursachen für die Hungersnot, überall sonst werden ohne nähere Erläuterung „innere Unruhen“, „Vertreibung der Landbevölkerung“ sowie die dortige Anwesenheit von Flüchtlingen und „Schutzbedürftigen“ angeführt.12

Erleben wir jetzt oder in naher Zukunft einen dramatischen Anstieg der internationalen Migrationsbewegungen? Diese Art zu fragen bringt vor allem die Befürchtungen zum Ausdruck, die man begründet oder aus dem Gefühl heraus in den Industrieländern angesichts der Bevölkerungsentwicklung im Süden hegt. Diese Sicht der Dinge sollte zumindest durch einen Blick auf frühere Beispiele relativiert werden, die mitunter noch gar nicht lange zurückliegen.

Im letzten Jahrhundert und bis zum zweiten Weltkrieg stellten die Länder des Westens die große Masse der Auswanderer und bewirkten maßgeblich die Migration anderer Völker. Innerhalb von hundert Jahren verließen über 50 Millionen Menschen Europa. Vor allem die britischen Inseln (40%) und Norwegen (36%), aber sogar die Schweiz hatten Anteil an dem Exodus. Ausschlaggebend waren meist wirtschaftliche Gründe, manchmal spielte auch Verfolgung – insbesondere die Pogrome im Osten des Kontinents – eine Rolle. In Nordamerika, Brasilien, Argentinien, Südafrika und Australien wartete man auf diese Arbeitskräfte. Auf der anderen Seite waren es Chinesen und Inder, die zu Millionen – und selten mit freundlichen Argumenten – davon überzeugt wurden, sich zur Arbeit in die Fremde aufzumachen: nach Mauritius und auf die Fidschi-Inseln, nach Malaysia, Surinam und in die Karibik, nach Südafrika und zum Bau der Eisenbahnstrecken in Nordamerika.

Der Not gehorchend...

GANZ anders sahen die internationalen Migrationen nach 1945 aus. Von den gewaltigen Bevölkerungsbewegungen, die sich als direkte oder indirekte Folge des Krieges ergaben, waren etwa zehn Millionen Deutsche betroffen, sowie sechs Millionen Japaner, die gezwungen wurden, in ihren Inselstaat zurückzukehren, Hunderttausende von Juden und nachfolgend Palästinenser und schließlich unzählige Pakistanis und Inder. Darüber hinaus bestimmten vor allem die Bedürfnisse einzelner Volkswirtschaften den Fluß der Bevölkerungsströme: Spanier, Portugiesen, Italiener und Jugoslawen suchten Arbeit im Norden, ebenso eine große Zahl von Türken und Bewohnern des Maghreb. Nach Großbritannien kamen Bürger des Commonwealth aus Asien und der Karibik, und neben dem traditionellen Einwanderungsland Nordamerika wurden auch die Golfstaaten zu einem interessanten Ziel.13

Für die reichen Länder begann der Umschwung 1973 mit dem „Ölschock“ und den ersten Anzeichen einer Krise. Weiterhin stellte der Süden ungefähr drei Viertel der internationalen Migration, aber die Zuwanderung in den Westen wie in die neuen Industriestaaten und Schwellenländer (Malaysia, Thailand) verlief zunehmend verdeckt. Im Zuge der umwälzenden technologischen Neuerungen benötigte der Norden immer weniger (heimische wie fremde) Arbeitskräfte und beherbergte längst selber Arbeitslose in zweistelliger Millionenhöhe.

In dem obendrein vielerorts von fremdenfeindlichen Strömungen erschütterten Norden schottet man sich seitdem gegen Ausländer immer mehr ab, wobei im allgemeinen Sprachgebrauch sämtliche „Typen“ – Flüchtlinge, Asylbewerber, Arbeitsemigranten – in einen Topf geworfen werden. Mit Blick auf Berichte, daß aus Ländern, die sich im Umbruch befinden (Guatemala, Dominikanische Republik, Rußland), Hunderttausende illegal in die Vereinigten Staaten einreisen wollen, drängt Washington auf ein gemeinsames Vorgehen der „bedrohten“ Staaten.14 Zumal bekannt wurde, daß im Steuerjahr 1995 (im Gefolge der Abwertung des Peso im Dezember 1994) 1271390 Mexikaner bei dem Versuch festgenommen wurden, illegal die Grenze zu überschreiten. Gleichzeitig aber regt sich bei einigen Vertretern der Rechten, die den Branchen der Spitzentechnologie verbunden sind, Widerstand gegen die Anwendung einer neuen Bestimmung, die für die diversen Silicon Valleys den Verzicht auf einige kluge Köpfe (wenn nicht gar „Genies“) aus dem Ausland bedeuten würde.15

Am anderen Ende der sozialen Stufenleiter leben Tausende von Einwanderern, die in der Textilindustrie (Jahresumsatz 282 Milliarden Dollar) arbeiten, in regelrechter „Sklaverei“ (so hat es der amerikanische Arbeitsminister Robert Reich ausgedrückt).16 Aufschlußreich, was fehlt: Die äußerst wichtige Konvention über den Schutz der Arbeitsemigranten und ihrer Familien, die nach zehnjähriger Debatte am 18. Dezember 1990 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde, ist bislang nur von den Ländern Ägypten, Kolumbien, Marokko, den Philippinen, den Seychellen und Uganda ratifiziert worden – die Mehrheit der Staaten kann sich zu diesem Schritt noch immer nicht entschließen.17

Die reichen Länder wollen zwar die Migrationsströme zum Versiegen bringen, in denen sich der Wille der Bevölkerungen ausdrückt, aber den Entscheidungsträgern der transnationalen Ökonomie lassen sie freie Hand. Gildas Simon schreibt dazu: „Unterstützt durch ein globales Finanzsystem, das längst über Staatsgrenzen erhaben ist, entsteht ein gemeinsamer Markt, der Forschung, Entwicklung, Produktion und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen im Weltmaßstab regelt. Auf der Ebene der Migration drückt sich diese neue Weltwirtschaftsstruktur in einer Globalisierung der Menschenströme aus, außerdem in zunehmender Mobilität von Spezialisten und dem Abzug von Spitzenkräften, deren räumliche Verteilung sich an den höchstentwickelten Zentren im Weltwirtschaftssystem orientiert.“18

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Professor Allan F. Findlay von der Universität Glasgow. Er sieht die Freiheit des einzelnen, sein Land zu verlassen, mehr und mehr schwinden; solche Entscheidungen werden von Staaten getroffen, und zwar vor allem von „jenen, die führend sind in der Entwicklung und Anwendung der neuen Technologien und der Produktionsweisen, in denen sie zum Einsatz kommen“. Die Arbeitsmärkte folgen immer weniger „dem Prinzip der ,freien‘ Konkurrenz, sondern werden vor allem bestimmt durch den geographischen Transfer von Kenntnissen innerhalb der Unternehmen selbst oder zwischen der Zentrale und den Zweigniederlassungen. Zweifellos ist dies auch die Erklärung für den wachsenden Anteil hochqualifizierter Arbeiter an den Migrationsbewegungen.“19 Diese extreme Beweglichkeit ist die Angelegenheit einer verschwindend kleinen Gruppe in der Gesellschaft, sie hat jedoch großes Gewicht im Hinblick auf wirtschaftliche Macht, die Weitergabe (oder Nichtweitergabe) von Wissen und die internationale Arbeitsteilung.

Ein anderer Faktor mit noch weiter reichenden Konsequenzen wird gern übersehen, weil er die herrschende Lehrmeinung über die „Modernität“ in Frage stellt: Ein rasches Wachstum hat sozial destabilisierende Folgen, die Migrationen Vorschub leisten. Ein amerikanischer Forscher beschreibt dieses zentrale Phänomen wie folgt: „Die Modernisierung der Landwirtschaft, die zur Steigerung der Erträge führt, trägt (...) auch dazu bei, die traditionellen Sozialstrukturen und wirtschaftlichen Beziehungen aufzulösen, und fördert damit die Tendenz zur Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte. Rasche Urbanisierung führt zur Sättigung des Arbeitsmarkts und bewirkt eine ungleiche Verteilung der Einkommen. Zugleich werden in den Städten Hoffnungen geweckt, es zirkulieren Informationen über die internationale Migration und über die Mittel und Wege, wie jene daran teilnehmen können, die im Rahmen der nationalen Wirtschaft nur schlechtbezahlte Arbeit finden.“20

Damit kommen wir vom Schicksal der Flüchtlinge zu dem der Migranten, die nicht international, sondern innerhalb der Gesellschaften unterwegs sind. Große Bauprojekte, die Abholzung der Wälder, die verschiedenen Umweltkatastrophen – all das hat natürlich zur Vertreibung von Menschen geführt. Aber noch stärker wirkt die gewaltige Landflucht und die Ansammlung von Milliarden Menschen in nicht endenden, gesichtslosen Städten, wie sie im Westen in wenigen Jahrzehnten zu erleben sein dürften. Nach Schätzungen soll es im Bereich der chinesischen Küstenstädte 80 Millionen Menschen ohne Bleibe geben. In welche Kategorie faßt man die 700000 US-Amerikaner ohne festen Wohnsitz, die inzwischen aus mehr als vierzig Städten ausgewiesen werden, weil sich die Bürger Sorgen um den guten Ruf machen? Man kann offensichtlich auch im eigenen Land zum Fremden werden. Und was ist mit den knapp 2,7 Millionen Bürgern der Europäischen Union, die auf Notunterkünfte von Hilfsorganisationen angewiesen sind, weil sie keine Wohnung haben?

Will man sich nicht mit dem Schlimmsten abfinden, dann müssen als Reaktion auf die gegenwärtigen demographischen Umwälzungen völlig neue Denkansätze und Handlungsmodelle entwickelt werden – sowohl im Bereich Migration wie auf anderen Gebieten. Abgesehen von der notwendigen Regulierung der Bevölkerungsströme – die ganz andere Bedeutung erlangen werden, wenn statt der einen Milliarde Menschen erst einmal die sieben oder acht Milliarden der nachfolgenden Generation getreten sind –, setzt die Durchsetzung eines „Bleiberechts“ ganz offensichtlich voraus, daß jene Entwicklung überdacht wird, die den Menschen entwurzelt und das Land zerstört, auf dem er lebt.

dt. Edgar Peinelt

1 Vgl. hierzu den Bericht des UN-Forschungsinstituts für Soziale Entwicklung, „The Challenge of Rebuilding War-torn Societies“, Genf 1995.

2 Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), „Die Lage der Flüchtlinge in der Welt“, Bonn (Dietz Verlag) 1995; eine weitere wichtige Quelle ist der „World Refugee Survey 1995“ des US Committee for Refugees, Washington 1995.

3 Verlautbarung des Weltkirchenrates vom 16. November 1995.

4 Vgl. Jacques Decornoy, „Das Rote Kreuz an allen Fronten“, Le Monde diplomatique, Dezember 1995.

5 Manchmal sogar in der Art der Mittelbeschaffung: Unter der Schlagzeile „UNHCR will Flüchtlingshilfe meistbietend versteigern“ berichtete die in Lausanne erscheinende Zeitung Le Quotidien Nouveau am 8. Dezember 1995 erstmals über ein neues Vorhaben des Hochkommissariats. Am 8. Mai 1996 soll in Zürich eine Veranstaltung stattfinden, bei der Schweizer Firmen die Patenschaft für verschiedene Hilfsprojekte angeboten wird, der Zuschlag soll dann in einer Art Versteigerung erteilt werden. Die glänzende Idee stammt von einem amerikanischen Berater, den das Flüchtlingskommissariat engagiert hat.

6 Zu diesem Thema finden sich wichtige Beiträge in der vom UNHCR herausgegeben Zeitschrift Réfugiés, Nr. 101, III, Genf 1995.

7 UNHCR, Erklärung vom 23. November 1995.

8 So haben zum Beispiel die Vereinigten Staaten schon 1924 einen Gesetzentwurf zur drastischen Beschränkung der Einwanderungsmöglichkeiten auf den Weg gebracht, der dann im Krisenjahr 1929 in Kraft trat. Ein anderes Beispiel sind die geradezu kafkaesken Schwierigkeiten der vor den Nazis nach Frankreich geflohenen Deutschen, die sich dort mit den Bürokraten in den Vertretungen der ausländischen Staaten herumschlagen mußten, um ein Visum zu erhalten. Vgl. den [autobiographischen] Bericht von Anna Seghers: „Transit“, Berlin, Weimar (Aufbau Verlag) 1983.

9 Meldung der Agentur Reuter aus Amman, Financial Times, 28. November 1995.

10 „Réfugiés africains. Quelle réponse à la crise?“, Arbeitspapier der UNHCR/OAU, Addis Abeba, Oktober 1995.

11 Abdoulaye Bara Diop, in seiner Einleitung zu der Sammlung „Dynamiques migratoires et recompositions sociales en Afrique de l'Ouest“, Mondes en développement, Nr. 91, Paris/Brüssel 1995.

12 „Situation alimentaire en perspectives de récoltes en Afrique subsaharienne“, Nr. 3, Oktober 1995, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), Rom. Die Länder, in denen innere Unruhen und die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen die Krise ausgelöst haben, sind folgende: Angola, Burundi, Eritrea, Liberia, Malawi, Mosambik, Ruanda, Sierra Leone, Somalia, der Sudan und Zaire.

13 Auf zwei grundlegende Studien über Bevölkerungsbewegungen soll verwiesen werden: Peter Stalker, „Les Travailleurs immigrés. Etudes des migrations international de main-d'÷uvre“, Genf 1995; und Gildas Simon, „Géodynamique des migrations internationales dans le monde“, Genf 1995.

14 Vgl. dazu insbesondere: „US Targets World Traffic in Migrants“, International Herald Tribune, 29. Dezember 1995, und „Enforcement Reduces Illegal Crossings From Mexico“, International Herald Tribune, 25./26. Dezember 1995.

15 Georges Gilder, „Geniuses From Abroad“, The Wall Street Journal Europe, 21. Dezember 1995.

16 „Slaves to Fashion“, Multinational Monitor, Washington, Oktober 1995.

17 Näheres zu diesem Dokument in Proclaiming Migrants Rights, WCC, Genf, Mai 1991.

18 Gildas Simon, a.a.O., S. 94 u. 95.

19 Siehe Allan Findlay, „Les nouvelles technologies, les mouvements de mains-d'÷uvre très qualifiée et la notion de fuite de cerveaux“, in Migrations internationales. Le tournant, OECD , Paris 1993.

20 Michael S. Teitelbaum, „Les effets du développement économique sur les pressions à l'émigration dans les pays d'origine“, in: Migrations..., a.a.O.

Le Monde diplomatique vom 16.02.1996, von Jacques Decornoy