15.03.1996

Europa – ein Kontinent mit unscharfen Konturen

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Europa – ein Kontinent mit unscharfen Konturen

Von

JEAN-FRANÇOIS

DREVET *

AM 1.Januar 1995 wurde die Europäische Union von zwölf auf fünfzehn Mitgliedsstaaten erweitert. Damit erhöhten sich ihre Bevölkerungszahl und ihr Bruttoinlandsprodukt um 6 Prozent, ihre Fläche sogar um 37 Prozent. Diese territoriale Ausdehnung ist erheblich, zumal nun auch ausgedehnte arktische Regionen mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte zur Union gehören. Weitere Erweiterungen sind geplant. Fest steht bereits, daß Beitrittsverhandlungen mit Zypern und Malta sechs Monate nach Beendigung der Ende März beginnenden Regierungskonferenz aufgenommen werden, voraussichtlich also 1997. Der europäische Gipfel in Madrid sprach sich im Dezember 1995 dafür aus, zum gleichen Zeitpunkt Verhandlungen mit den sechs Ländern Mittel- und Osteuropas zu beginnen.

Zählt man die drei baltischen Staaten und Slowenien hinzu, so stehen derzeit zwölf Beitrittskandidaten auf dem Prüfstand. In einer späteren Phase könnten weitere Länder hinzukommen: die Schweiz, die ihren Antrag ungeachtet des negativen Ergebnisses beim Referendum über den Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum im Dezember 1992 weiterhin aufrechterhielt; die Türkei, die den 1987 gestellten Antrag nie widerrufen hat und die seit der Entscheidung des Europaparlaments vom 13. Dezember vergangenen Jahres mit den fünfzehn Staaten durch ein Zollunionsabkommen verbunden ist; die Republiken des ehemaligen Jugoslawien, die nach einer Beendigung des Bosnienkriegs nach dem Vorbild Sloweniens möglicherweise sogenannte europäische Assoziierungsabkommen mit der Union abschließen werden – unter explizitem Hinweis auf eine spätere Mitgliedschaft.

So werden zwischen künstlich getrennten Räumen des Kontinents neue Kontakte geknüpft, und es entsteht eine Union von variabler Geometrie. Nachdem Europa 150 Jahre lang von gegenseitiger Abschottung und kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt war, entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Bewegung, die den geographischen Raum wieder in Besitz nahm und einige Narben der Geschichte beseitigte.

In den fünfzehn Staaten der Union lebt derzeit nur die Hälfte der gesamten europäischen Bevölkerung, und dies auf etwas mehr als einem Drittel der Gesamtfläche des europäischen Kontinents, die vom Atlantik bis zum Ural reicht. Zusammen mit den asiatischen und mediterranen Gebieten stellt Europa einen Block von nahezu einer Milliarde Menschen dar. Denken und Handeln müßten sich künftig eher auf einen erweiterten Rahmen beziehen, der über die territorialen Grenzen der derzeitigen Gemeinschaft hinausreicht. Zumal entgegen allem Anschein die Idee eines europäischen Raums recht jung ist. Lange Zeit war der Kontinent lediglich eine geographische Größe mit einer Fläche von zehn Millionen Quadratkilometern und recht unbestimmten Konturen. Er erstreckt sich zwar im Prinzip vom Atlantik bis zum Ural, doch besitzt er keine politischen Grenzen. In der Tat hat es zwischen Europa und Asien eine Grenze nie gegeben, da sich im Grenzbereich zum Ottomanischen Reich wie auch zu Rußland Überschneidungen ergaben. Auch zum Mittelmeer und zum Atlantik hin waren die Grenzen fließend, da Europa geographischer Fixpunkt verschiedener Kolonialreiche war und entsprechend auf allen fünf Kontinenten präsent.

Neue Peripherien entstehen

SEIT der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich der europäische Raum erheblich verkleinert, sowohl auf dem Festland selbst als auch hinsichtlich seiner überseeischen Erweiterungen. Seit der großen Spaltung von 1945 verlief mitten durch sein Zentrum, von Lübeck bis Triest, eine undurchlässige Demarkationslinie, so daß „Europa“ auf den Rang eines „kleinen Kaps am Rande Asiens“ reduziert war, um mit Paul Valéry zu sprechen. Diese geographische Beschneidung verstärkte im westlichen Denken die Vorstellung von Europa als einem finis terrae, das sich hauptsächlich um die Vergänglichkeit seiner kolonialen Geschichte sorgte. In den fünfziger Jahren wurden die meisten der verbliebenen asiatischen Kolonialgebiete unabhängig, in den sechziger Jahren folgte der afrikanische Kontinent. Die verbliebenen kolonialen Besitztümer waren zu geringfügig, um noch von Bedeutung zu sein. Damit waren der Schaffung eines gemeinsamen Europa enge Grenzen gesteckt.

Das ursprünglich karolingische Europa, wie es sich in den sechziger Jahren in Form der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft konstituierte, erweiterte sich sukzessive mit Blick aufs Meer: im Gebiet der Nordsee durch den Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks im Jahre 1973, im Mittelmeerraum durch die Aufnahme Griechenlands 1981 sowie Spaniens und Portugals 1986. Zur Mitte des Kontinents hatte das Europa der Zwölf damals wegen des Eisernen Vorhangs und der schweizerischen und österreichischen Neutralität nur begrenzten Zugang. Mit dem Ende des Kalten Krieges kam Bewegung in die Lage, und die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta)1 setzten nun wie selbstverständlich auf einen Beitritt zur EWG.

Ein wesentliches Element ihrer Beitrittsverhandlungen mit der Zwölfer-Gemeinschaft betraf jedoch die Aufrechterhaltung regionaler Besonderheiten. So beharrte Österreich, in Anlehnung an die Schweizer Maßnahmen zum Schutz der Alpen2, auf der Wahrung der Rechte aus dem Transitabkommen mit der Union, wonach umweltgefährdende Transporte durch die Alpentäler gewissen Beschränkungen unterliegen. Die nordischen Länder wiederum bestanden für die arktischen Zonen auf einer Berücksichtigung der erheblichen Nachteile, die sich dort zwangsläufig aufgrund ungleich härterer Lebensbedingungen ergeben. Sie setzten schließlich durch, daß ein „Ziel Nr. 6“ in den Strukturfonds der Gemeinschaft aufgenommen wurde – zugunsten von Regionen mit einer Bevölkerungsdichte von weniger als acht Personen pro Quadratkilometer.

Seit 1989 kündigt sich mit der Öffnung der Grenzen zu den ehemals kommunistischen Ländern eine noch entscheidendere geographische Neuorientierung des Kontinents an: Europa ist dabei, sich eine Mitte zu schaffen. Mit der deutschen Vereinigung gelangten 1990 die fünf neuen Bundesländer – nach vierzig Jahren währender Mißwirtschaft – ohne jede Übergangsphase in die Europäische Union. Genauso schlecht wie in diesen deutschen „Beitrittsgebieten“ sieht die Lage in Polen, in der Tschechischen und in der Slowakischen Republik sowie in Ungarn aus. Hier müssen Regionen wieder erschlossen werden, die in weitaus stärkerem Maße abgewirtschaftet sind als jene Gebiete innerhalb der Union, die gemeinhin als industriell rückschrittlich bezeichnet werden.

Die Union muß sich zudem mit den neu entstandenen Peripherien auseinandersetzen, die sich bereits jenseits der eigenen benachteiligten Regionen abzeichnen. Der Mezzogiorno, Griechenland und jetzt auch Finnland grenzen direkt an Problemgebiete, in denen zu den wirtschaftlichen Spannungen schwere infrastrukturelle Mängel hinzukommen, die Irrtümern aus der Vergangenheit geschuldet sind. Unabhängig davon, ob diese Länder künftig Mitglied der Union werden oder nicht, ist die Bedeutung dieses Raums nicht zu übersehen: Das Kommunikationsnetz muß in paneuropäischem Rahmen verbessert werden, und nicht zuletzt angesichts der inzwischen dramatischen Verschmutzung von Ostsee und Adria sind gemeinsame Maßnahmen zum Schutz der Umwelt geboten.

Die Öffnung des Ostens läßt die vorhandenen regionalen Unterschiede in Europa deutlicher hervortreten – nicht allein innerhalb der Union, wo die Kluft sich trotz aller Maßnahmen zur Verbesserung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bereits vergrößert hat, sondern mehr noch an den äußeren Grenzen (siehe Tabelle). Alles in allem kann man feststellen, daß es im postkommunistischen Europa eine entwickelte Zone gibt (in der etwa ein Drittel der Bevölkerung zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts erzeugt), und jenseits seiner Grenzen (im Süden und Osten) einen Gürtel von Ländern mit niedrigem Einkommen (in dem zwei Drittel der Bevölkerung ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts erzeugen).

Angesichts der Bedeutung, die den nachbarschaftlichen Beziehungen zum Mittelmeerraum und zu den ehemaligen sowjetischen Republiken zukommt, ist die Forderung nach einer Verringerung dieser Kluft nicht nur für die Europäische Union, sondern für den gesamten Kontinent und die angrenzenden Gebiete von höchster Priorität.

dt. Erika Mursa

1 Seit dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens zur Europäischen Union besteht die Efta nur noch aus Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz.

2 Die Schweizer Regierung hat nach diversen Volksabstimmungen entsprechende Maßnahmen zur Begrenzung des internationalen Transitverkehrs auf ihrem Staatsgebiet ergriffen.

* Beamter in der europäischen Verwaltung, Autor von „Aménagement du territoire“, Paris (Continent Europe) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Jean-Francois Drevet