Auf der Suche nach den „Verschwundenen“
Von
ALI
BOUAZID
SEIT der Verhaftung haben ihre Familien nichts mehr von ihnen gehört. Inzwischen sind Monate vergangen, ein Jahr oder zwei, vielleicht mehr. Sie standen unter dem Verdacht, Aktivisten oder Sympathisanten der aufgelösten Islamischen Heilsfront (FIS) oder anderer bewaffneter Gruppen zu sein, und niemand kennt ihre genaue Zahl – einige Dutzend, ein paar hundert? Die staatliche „Organisation zur Wahrung der Menschenrechte“ (ONDH) hat eine Akte über „verschwundene Personen“ angelegt. Wie Rezag Bara, der Präsident der ONDH, erläutert, richtet man im Einzelfall zunächst eine Anfrage über den Verbleib der jeweiligen Person an die Sicherheitskräfte. Bislang hat allerdings noch keine dieser Anfragen zu einem Ergebnis geführt. Aus diesem Grund, und auch weil sie der ONDH nicht recht trauen, zögern die Familien, weitere offizielle Schritte zu unternehmen, das Schweigen in den Medien und der allgegenwärtige Terror tun ein übriges.
Statt dessen begaben sich diese Familien zunächst allein auf die Suche, liefen von einem Gerichtssaal zum nächsten, immer in der Hoffnung, einen der Ihren auf der Anklagebank zu finden – vergeblich. Auch die Gerichtsschreiber konnten nicht weiterhelfen: Keiner der gesuchten Namen tauchte auf den Listen künftiger Verhandlungen auf. Lange waren diese Familien, die meist den ärmeren Schichten angehören und oft nicht lesen und schreiben können, bei ihrer Suche ganz auf sich gestellt, aber durch den häufigen Aufenthalt in den Gerichtssälen fanden sie schließlich Aufmerksamkeit und Verständnis bei einem Anwaltskollektiv, dem auch einige Menschenrechtsaktivisten angehören. Hier erhielten sie moralische Unterstützung und Hilfe, sie faßten Vertrauen und übergaben ihre Angelegenheiten den Anwälten, die seither zahlreiche Fallberichte gesammelt haben.
Mourad B., 29 Jahre, Arbeiter in der Erdgasraffinerie Sonatrach, wurde am Nachmittag des 6. April 1994 in El Biar (Algier) festgenommen. Vier Tage später verhaftete man zwei seiner Brüder, Merouane und Karim, nachts in ihrer Wohnung. Die beiden verbrachten zwei Monate zusammen mit Mourad in ..., dann wurde Karim freigelassen und Merouane der Justiz übergeben – er befindet sich jetzt im Gefängnis von Serkadji (Algier). Über das Schicksal von Mourad ist nichts bekannt. Areski B., 35 Jahre, Abteilungsleiter im Parnet-Krankenhaus (Algier), wurde am 15. November 1994 um 16 Uhr am Arbeitsplatz verhaftet. Seine Familie hat seitdem nichts mehr von ihm gehört.
Gegen Haffa M., 44 Jahre, Vater von sieben Kindern, war ein Verfahren anhängig, über dessen Gründe die Ehefrau keine näheren Angaben macht. Er saß sechs Monate in Untersuchungshaft im Gefängnis von Tegra (Batna), bevor es zum Prozeß kam und er freigesprochen wurde. Am 7. Januar 1995 um 13.30 Uhr wurde er in Barika auf offener Straße erneut verhaftet und von Männern in blauen Uniformen abgeführt. Auch von ihm fehlt jede Spur.
Redouane A., 28 Jahre, kehrte im Oktober 1994 aus Frankreich, wo er als Arbeitsemigrant lebte, nach Algerien zurück, um ein Problem mit der Meldebehörde zu regeln. Am 22. Oktober um 7.30 Uhr wurde er verhaftet. Nabil A. sah ihn drei Tage lang in ... Redouane erzählte ihm, er sei 27 Tage am selben Ort festgehalten worden. Inzwischen gilt er als vermißt – seine Eltern warten immer noch auf die Beantwortung der Beschwerden, die sie am 28. Oktober 1994 an den Staatschef, den Justizminister, den Generalstaatsanwalt und die ONDH richteten.
Keine Lebenszeichen
AHMED C., 30 Jahre, stellvertretender Direktor einer ausländischen Handelsgesellschaft, wurde am 13. Dezember 1994 um 9.30 Uhr in Algier festgenommen, als er gerade aus seinem Büro in die Verkaufsstelle der Firma gehen wollte. Nach langem Zögern wandte sich sein Vater am 10. Juli 1995 an den Generalstaatsanwalt. Entsprechende Anfragen sind auch dem Staatspräsidenten, dem Justizminister, dem Leiter der Sicherheitspolizei von Algier und der ONDH zugegangen.
Khaled S., 37 Jahre, Handwerker, wurde am 7. August 1993 morgens um 4.30 Uhr in seiner Wohnung in Birkhadem (Algier) von Uniformierten festgenommen. Die Beschwerde, die im Juni vergangenen Jahres an den Generalstaatsanwalt gerichtet worden ist, blieb bis heute ohne Antwort.
Rachid S., 33 Jahre, Pilot einer Luftfahrtgesellschaft, wurde am 20. Februar 1995 um drei Uhr früh in seiner Wohnung in Kouba (Algier) von Männern in blauer Uniform verhaftet. Rachids persönliche Habe, seine Dienstkleidung, die Kleider seiner Frau sowie das Auto seiner Mutter seien beschlagnahmt worden, berichtet der Vater, der beim Arbeitgeber seines Sohnes schriftlich um Auskunft gebeten hat – ohne Antwort zu erhalten.
Brahim B., 54 Jahre, sieben Kinder, war Fahrer bei einer staatlichen Verkehrsgesellschaft. Am 2. Dezember 1994 wurde er am Busbahnhof von Caroubier (Algier) festgenommen. Seine Familie, die in der Gegend von Sétif lebt, hat seitdem keine Nachricht von ihm. Mohamed R., 36 Jahre, Magister der Erziehungswissenschaften, war Verwaltungsdirektor der Universität Blida. Am Morgen des 23. Oktober 1993 wurde er auf dem Universitätsgelände verhaftet, seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm.
Seit dem 15. November 1994 hat Mohand Said S. von seinem Sohn Haddi nichts mehr gehört. Haddi S., 29 Jahre, Diplombiologe, war zuletzt von zahlreichen Gläubigen gesehen worden, als er nach dem Gebet die al-Rahma-Moschee in Algier verließ. Am Ausgang wurde er von Männern in Zivil abgeführt. Beschwerden an den Generalstaatsanwalt, die ONDH und die höchsten staatlichen Würdenträger brachten keine Reaktion.
Mourad A., 32 Jahre, leitender Angestellter eines Geldinstituts, wurde am 6. April 1994 in seiner Wohnung in Bab el Oued (Algier) verhaftet. Uniformierte mit Gesichtsmasken führten ihn ab – nachts um halb eins vor den Augen der Familienmitglieder.
Nourdine M., 34 Jahre, Handwerker, war von seinem Wohnort in Bach Djarah, dem Arbeiterviertel von Bourouba (Algier), ins 200 Kilometer südöstlich gelegene Bou Saada gefahren, um seine Eltern zu besuchen. Dort wurde er am 27. Januar 1993 verhaftet. Seitdem ist nichts über seinen Verbleib bekannt. Ende 1995 haben sich die Eltern an die Behörden gewandt; nichts. Sie warten.
Unter den Verschwundenen sind auch zahlreiche Frauen, Kinder und Jugendliche. Nacera L., 35 Jahre, Hausfrau und Mutter, war schon einmal von Männern in blauen Uniformen verhaftet worden. Man hatte sie drei Tage festgehalten, dann kam sie frei. Am 6. Dezember 1994 um 1.30 Uhr erschienen die Uniformierten erneut in ihrer Wohnung in El Harrach (Algier) und nahmen sie mit. Eine Beschwerde ist dem Oberstaatsanwalt am Gerichtshof von Algier zugegangen.
Amina B., 30 Jahre, Hochbautechnikerin, wollte sich am 13. Dezember 1994 mit einem Kollegen treffen. Gegen 9 Uhr wurde sie in Belcourt (Algier) in der Nähe der Markthallen verhaftet. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen.
Kamel M. war noch keine achtzehn, als er am 10. August 1994 um 14.30 Uhr, nach dem al-Asr-Gebet, beim Verlassen der Moschee von Bach Djarah verhaftet wurde. Ein Freund, der ihn begleitete, wurde wieder freigelassen, von Kamel fehlt jede Spur.
Ridaa T., der noch nicht volljährig ist, wurde frühmorgens um 3.30 Uhr von den Männern in blauen Uniformen aus dem Bett gerissen, erzählen die Eltern in Bach Djarah. Während der ersten fünf Monate durfte der Vater an dem Ort, wo Ridaa festgehalten wurde, Sachen für ihn abgeben, dann wurden die Besuche untersagt.
Manche der Verschwundenen werden schließlich gefunden – als Opfer geheimer Hinrichtungen.
Amine T., 25 Jahre, war am 30. September 1994 um 13.30 Uhr vor seiner Wohnung in Beni Mered (Blida) verhaftet worden. Dreiundvierzig Tage später lagen in Beni Mered mehrere Leichen auf der Straße, darunter auch der verstümmelte und von Kugeln durchsiebte Körper von Amine T. Zu dieser Zeit fand man in der Gegend Dutzende von verstümmelten Leichen im Rinnstein.
Athmane H., 39 Jahre, Geschäftsmann, hatte neun Monate im Internierungslager Ain Salah verbracht, war dann freigelassen worden, um am 30. Oktober 1993 um drei Uhr morgens in seiner Wohnung im Vieux Kouba (Algier) erneut verhaftet zu werden. Nach Sonnenaufgang fand man seine von Kugeln durchsiebte Leiche in der Nähe der Verwaltungshochschule. Ein paar Meter weiter lagen zwei weitere leblose Körper.
Das Anwaltskollektiv hat sich durch extreme Schicksale wie diese beiden – nach wie vor unaufgeklärten – Morde nicht von seinen Bemühungen abbringen lassen. Es verfügt über eine Vielzahl neuer Fallberichte, denn die Familien wollen Gewißheit über das Schicksal ihrer Angehörigen. Vorläufig bleiben sie auf Anraten der Anwälte anonym, aber sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben: Vor allem seit der Wahl von Liamine Zéroual scheint die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen möglich. Obwohl es sich um eine brisante Angelegenheit handelt, unternehmen die Anwälte alles, was zur Aufklärung beitragen kann, und führen alle vom Gesetzgeber vorgesehenen Rechtsmittel ins Feld.
Auf diese Weise ist es gelungen, die Spur des Fleischergesellen Abdelaziz K. wiederzufinden, der am 20. August 1994 in Bach Djarah von einer Polizeistreife verhaftet worden war. Am 14. Februar 1995 erteilte der Oberstaatsanwalt von Algier den Eltern eine Besuchserlaubnis, doch im Gefängnis von Serkadji wurde ihnen verboten, mit ihrem Sohn zu sprechen. Trotzdem: Ein Hoffnungsschimmer bleibt.
dt. Edgar Peinelt