Japan sieht fern
GNADENLOS ist der Konkurrenzkampf im Dschungel der japanischen Kommunikationssysteme. Noch hält das Fernsehen als privilegiertes Medium den Löwenanteil, denn es erreicht den Bürger zu Hause – und auch sonst fast überall. Aber kann man noch von „dem Bürger“ sprechen in einem Land, in dem dieser mehr als sonstwo einem heißhungrigen Konsumenten audiovisueller und interaktiver Medien Platz gemacht hat? Welche Sehgewohnheiten entwickeln die Japaner angesichts dieses stark expandierenden Marktes? Was bevorzugt die breite Masse?
Von unserem Sonderkorrespondenten MAX TESSIER *
Der berühmte Filmemacher Nagisa Oshima (unter anderem „Im Reich der Sinne“, 1976), heute längst ein vollkommen mediengerechter „Zeremonienmeister“ bei mehreren japanischen Privatsendern, hat es klipp und klar formuliert: „Das Fernsehen wird heute von Werbung, Privatunternehmen, Kommerzgöttern beherrscht, es dringt wie eine sanfte, schleichende Droge in den Alltag der meisten Menschen.“ In gewisser Hinsicht ist es das kaum verzerrte Spiegelbild einer Gesellschaft, die auf einen Massenkonsum ausgerichtet ist, der den Bereich Kultur einschließt.
„Man muß drei Stufen unterscheiden“, fährt Oshima fort, der dieses Fernsehen seit nunmehr fast fünfundzwanzig Jahren von innen kennt: „Als ich Anfang der siebziger Jahre bei TV World angefangen habe, hat man mich gebeten, das politische und soziale Geschehen zu kommentieren. Zu dieser Zeit gab es ein Publikum, das regelmäßig solche relativ seriösen und interessanten Sendungen verfolgte. Danach gab es eine Entwicklung hin zu mehr persönlichen Problemen, vor allem solchen, die mit der Situation der Frauen zusammenhingen. Damals, 1973, habe ich angefangen, eine sehr beliebte Sendung auf TBS zu moderieren, ,Die Schule der Frauen‘, in der ich zusammen mit den Zuschauerinnen sehr direkt auch intimere Fragen erörterte. Schließlich habe ich in der dritten Stufe, in den achtziger Jahren, angefangen, in Unterhaltungssendungen aufzutreten, vor allem mit dem manzai (Fernsehkomiker) Beat Takeshi, einer Art japanischem Coluche1, der später Schauspieler und Produzent von sehr eigenwilligen Yakuza-Filmen wurde.“
Diese von Nagisa Oshima beschriebene Entwicklung beinhaltet einen langsamen Abschied vom edukativen Anspruch eines Privatfernsehens, bei dem heute Profit an erster Stelle steht. Unter den sieben „wichtigsten“ Sendern, die Tokio und die Region Kanto abdecken – im Gegensatz zu Kansai, der Region von Osaka-Kyoto – sind fünf Privatkanäle (NTV, TBS, Fuji, TV Asahi, TV Tokio), deren Finanzierung auf Werbung basiert, die mit rund 10 Prozent Anteil an der Sendezeit das erlaubte Limit auch schon erreicht hat. Lediglich die beiden Abteilungen des staatlichen Senders NHK (Nihon Hoso Kyokai) – NHK 1 und dessen kleiner Bruder vom Bildungsfernsehen, NHK 3 – entgehen diesem Kampf um Werbeeinnahmen, aber ihre Beliebtheit hält sich eher in Grenzen.2
Auf NHK jedoch und auf den neuen Satellitenkanälen wie NHKS 1 und 2, auf WOWOW oder seit neuestem auf Metropolitan (dem kommunalen Fernsehen der Stadt Tokio) kann man kulturell anspruchsvollere Programme und Filme aus aller Herren Länder im Original mit Untertiteln sehen. Metropolitan hat unlängst zum hundertjährigen Kinojubiläum einen Dokumentarfilm von Kiju Yoshida über die Erfahrung des ersten Kameramanns der Gebrüder Lumières, Gabriel Veyre, ausgestrahlt, der 1896 nach Japan gekommen war. Und auf NHKS oder NHK 3 sind Filme aus der Mongolei oder aus Afrika zu sehen, die bei den Kommerziellen keine Chance hätten, weil dort Werbung und Einschaltquoten den Ton angeben.
Sport und Spannung
NOCH halten der Sport – wobei Sumo und Baseball in der Beliebtheit weit vorne liegen – und die Infokanäle („News“) die Spitzenplätze bei den Einschaltquoten, doch die Familienserien („home-dramas“) folgen ihnen mit fast 25 Prozent der Zuschauer dicht auf dem Fuß. In „Nakiko“ („Kind ohne Obdach“, fast schon eine stehende Redewendung), das bereits seit zwei Jahren läuft, geht es um ein junges Waisenmädchen, und diese Serie ist so beliebt, daß sie, wie es heute üblich geworden ist, mittlerweile als Kinofassung verfilmt wurde.
Die Zeichentrickserien sind ebenfalls gut plaziert, doch die berühmte, von Akira Toriyama seit 1986 produzierte Serie „Dragon Ball Z“, die weltweit ein Bombenerfolg war (jedoch nicht in der Kinoversion), hat in letzter Zeit bei den heimischen Fans ziemlich an Beliebtheit eingebüßt, nicht zuletzt aufgrund der Konkurrenz von neuen Serien wie „Sazae- San“ und „Chibi Matsuko-Chan“ auf Fuji TV, die sich an ein Familienpublikum richten. Die Verfilmung beliebter Comics (mangas) ist praktisch der einzige Bereich der japanischen Produktion, der die Gunst junger Fernsehzuschauer in der ganzen Welt erobern konnte. Leider kennen diese zumeist keine anderen Ferseh- oder Kinofilme, außer es handelt sich um eine genau auf dieses Zielpublikum zugeschnittene Produktion wie etwa „Porco Rosso“ des großen Trickfilmers Hayao Miyazaki.
Late-Shows wie „Eleven p.m.“ oder „Die Männerstunde“ („Otoko ni jikkan“) drehen sich vor allem um Sex und was damit zu tun hat; sie feierten in den achtziger Jahren ihre größten Erfolge, sind aber durch die immer neuen Angebote im Bereich von erlaubten oder auch verbotenen Videos – die Zensur ist immer noch äußerst kleinlich – leicht rückläufig. Ai Lijima, eine ehemals sehr beliebte Pornodarstellerin, hat sogar ihr Image gewechselt und präsentiert nun „Kulturprogramme“ auf NTV ...
Das Fernsehen hat 1995 eine radikale Programmrevolution vollzogen. Ursache hierfür waren die großen Ereignisse des Jahres: das Erdbeben im Januar 1995, das einen Teil der Stadt Kobe und Umgebung zerstört hat, die brutalen Anschläge der Aum-Sekte im März und April des Jahres, die Vergewaltigung einer Schülerin auf Okinawa durch drei US-amerikanische Soldaten Ende September sowie der riesige Wirbel um die französischen Atomversuche auf Mururoa. Solche Schockwellen konnte das Fernsehen nicht ignorieren, es hat sie vielmehr verstärkt. Die Folge war ein Informations-tsunami, wie es ihn in dieser Heftigkeit seit dem Golfkrieg nicht mehr gegeben hatte, und bei jedem der Ereignisse schnellten die Einschaltquoten in die Höhe. Das Erdbeben von Kobe ließ alte Ängste wieder aufleben (so die Schreckensvision einer ähnlichen Katastrophe in Tokio). Die durch die Aum-Shinrikyo-Sekte (Sekte der „Höchsten Wahrheit“) verübten Gasattentate in der Tokioter U-Bahn haben dem Mythos der öffentlichen Sicherheit in Japan – als einzigem großen Industrieland, das von blindwütigen Massenattentaten bisher verschont geblieben war – arg zugesetzt.
Nagisa Oshima, der an mehreren Fernsehdiskussionen zu diesem Thema teilnahm, glaubt, daß „der Aum-Mythos im wesentlichen auf der persönlichen Anziehungskraft des ,Guru‘ Shoko Asahara beruht, der vorgibt, seine enttäuschten japanischen Zeitgenossen glücklich machen zu können. Er ist in ihren Augen eine Art Supermacht und behauptet von sich, er könne gar – ganz Superman – durch die Lüfte fliegen! Viele sehr naive junge Leute sind dermaßen von den Comics, den mangas oder Science-fiction-Serien im Fernsehen beeinflußt, daß sie ihm sogar geglaubt haben. Auch einige Frauen suchen aus einem Gefühl geistiger oder sexueller Unzufriedenheit heraus Zuflucht bei ,Vater‘ Asahara, der eine Art moderner japanischer Rasputin zu sein scheint. All diese Menschen verspüren das Bedürfnis nach einer Gesellschaft überschaubaren Ausmaßes, wofür die Sekte in diesem Fall ein Symbol ist. Ein durchaus gefährliches Phänomen, das übrigens weltweit existiert.“
In der wilden Jagd nach Sensationen spielt ein Berufsethos kaum eine Rolle; trotz der Anklagen und Vorwürfe seitens der Behörden und der Sektenopfer war Guru Shoko Asahara unbestreitbar der Fernseh-Superstar des Jahres; seine Popularität stieg nicht zuletzt dank der sich wechselseitig überbietenden Fernsehstationen (und der anderen Medien), die um die Ausstrahlung dieses halbblinden Guru-Gesichts mit der im übrigen arg stockenden Stimme heftig buhlten. Über Wochen flimmerten mehr oder weniger manipulierte Dokumente oft stundenlang über den Bildschirm und entzogen so den regulären Programmen einen bedeutenden Teil ihrer Zuschauer.
Fast könnte man glauben, daß die uneingestandenen Verbindungen zwischen Politik und Fernsehen längst ein heimliches Netz, ja eine Art wahrhaftiger „Telekratie“ ins Leben gerufen haben, wie dies in Italien mit Silvio Berlusconi geschehen ist. Aber, so noch einmal Oshima, „im allgemeinen mögen es die Japaner nicht gern, wenn sich diese beiden Bereiche vermischen“. Dennoch, so fügt er hinzu, „gibt es natürlich Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Yukio Aoshima zum Beispiel, derzeit Gouverneur von Tokio, war eine im Fernsehen sehr geschätzte Persönlichkeit. Vor mehr als dreißig Jahren hat er sich sogar einmal mit einer eigenen Kinoproduktion im Filmgeschäft versucht; sein Streifen ,Die Glocke‘ (,Kane‘) wurde sogar auf dem Festival in Cannes gezeigt!“
In Wirklichkeit ist Politik bei der Mehrheit der Bürger schlecht angesehen. Vor allem wegen der ständigen Korruptionsaffären und Parteiskandale ist auch sie zu einem mehr oder weniger routinierten „Schauspiel“ geworden, wie in so vielen „fernsehgerecht entwickelten“ Ländern. Selbst Sendungen wie „Asa made nama terebi“ („Lebendiges Fernsehen bis zum Morgen“) auf TV-Asahi, in denen es um seriöse Themen geht, werden nun ähnlich jenen gewollt ulkigen Talk-Shows aufgezogen, die – in aufwendig drapierten Studios produziert – rund um die Uhr über den Äther gehen. In solchen „Diskussions“-Sendungen arbeitet man viel mit inszenierten Heiterkeits- oder Wutausbrüchen, mit Scherzen, die den nächtlichen Zuschauer unterhalten und ihn ein paar Stunden länger wachhalten sollen. Sendetermin ist immer der letzte Freitag im Monat; zu nächtlicher Stunde führen jeweils fünfzehn Teilnehmer live ein Streitgespräch über aktuelle Themen. Am 29. September 1995 zum Beispiel ging es um die Atomversuche, und neben dem Fernsehmoderator saßen japanische Journalisten gemeinsam mit Kollegen aus Frankreich und China, also aus den beiden Ländern, die die Atomversuche durchführten. Allerdings hatte man dem französischen Botschafter erlaubt, vorab eine Erklärung zum Standpunkt seiner Regierung vorzulesen, bevor der „strahlende Regen“ der Kritik auf ihn niederging ...
Japan hat erreicht, was man das Zeitalter permanenter Unterhaltung nennen kann – nicht zuletzt dank dem Einfluß des US-amerikanischen Fernsehens, das seit den frühen Anfängen als Vorbild dient. (Man kann übrigens CNN und die meisten US-Sender über Kabel oder Satellit empfangen.) Das Fernsehen gleicht heute einem kintaro-ame, jenem in Japan so beliebten Dauerlutscher, bei dem man, egal, an welcher Stelle man hineinbeißt, innen immer auf das gleiche Kintaro-Gesicht stößt ...3
In einem Land, das weltweit für wirtschaftlichen Reichtum steht, sind die Medien nicht mehr ein Umschlagplatz für Wissenswertes und Kritik. Die Vorliebe für alles, was Markt und Profit betrifft, ist dermaßen in den Köpfen verankert, daß die Bilder nur noch dazu dienen, mit Sendungen „für jeden Geschmack“, vom Anspruchsvollsten bis zum Vulgärsten, dieser Vorliebe neue Nahrung zuzuführen – zumindest, solange der berühmte „soziale Konsens“ noch Bestand hat. Der Direktor eines Privatsenders formuliert das so: „Das Fernsehen ist nicht dazu da, die sozialpolitischen Zusammenhänge des Landes widerzuspiegeln, es ist nur ein Unterhaltungsmedium.“ Klarer kann man es kaum ausdrücken.
(Recherchiert in Zusammenarbeit mit Mark Schilling, in Tokio ansässiger US- amerikanischer Journalist, Mitarbeiter der Tageszeitung „Japan Times“, und vor allem mit Philippe Berthet von der „Revue Tendances et Médias“, Tokio.)
dt. Christophe Zerpka
1 Coluche hieß mit bürgerlichem Namen Michel Colucci; der 1986 tödlich verunglückte französische Komiker ist vor allem auch wegen seines sozialen Engagements zum beliebtesten Kabarettisten Frankreichs geworden.
2 Vgl. Philippe Barthet und Jean-Claude Redonnet: „L'Audiovisuel au Japon“, in der Reihe „Que sais- je?“, Nr. 2658, Paris 1992.
3 Kintaro ist eine Figur der japanischen Mythologie, bei der es sich um einen Glücksjungen handelt, der unter die Wassergötter entrückt wurde.
* Autor von „Images du cinéma japonais“, Paris (Henri Veyrier) 1990.