Das rätselhafte Massaker im Gefängnis von Serkadji
SEIT Beginn des Krieges wird das Bild der Gewalt von Journalisten festgehalten, die unter nahezu unerträglichen Einschränkungen arbeiteten, unter enormem Druck stehen und zudem die gesetzlichen Vorschriften der algerischen Regierung über den Umgang mit sicherheitsrelevanter Information beachten mußten. So waren sie objektiv daran gehindert, vorbehaltlos zu berichten und die schrecklichsten Seiten des Krieges sichtbar zu machen. Genau das aber wäre nötig gewesen, um einen gemeinsamen Ausweg aus der Krise zu finden. Am Beispiel der blutigen Ereignisse, die sich vor einem Jahr im Gefängnis von Serkadji abspielten, wird auf ebenso tragische wie nachdrückliche Weise deutlich, weshalb der Haß und die Angst, aber auch die Verschiedenheit dessen, wie die Geschehnisse begriffen und beschrieben werden, eine baldige Lösung unmöglich machen.
Über das Massaker im Gefängnis von Serkadji berichtete die Presse zum ersten Mal am Morgen des 22. Februar 1995. In den Zeitungen war von einem „Ausbruchsversuch am Vorabend“ die Rede. Am nächsten Tag wurde nur noch gemeldet, die Revolte sei niedergeschlagen.
In den armen Vierteln, in La Montagne, wo der in Serkadji einsitzende Islamistenführer Ikhlef Cherrati herstammt, in Diar el-Afia, wo viele der Gefangenen herkommen, und in der Kasbah, nicht weit vom Gefängnis, wo die Bevölkerung mit Schrecken die unzähligen Schüsse hörte – überall waren die irrsinnigsten Gerüchte im Umlauf. Die Unruhe wuchs, es schien sich ein Aufstand anzubahnen.
Die Presse versuchte in den darauffolgenden Tagen, die Sache herunterzuspielen, indem sie auf ähnliche Fälle verwies und die berühmtesten Ausbruchsversuche aus aller Welt schilderte. Doch die Bevölkerung fiel auf solche Banalisierungen nicht herein. Ein Massaker an über hundert Gefangenen in einer staatlichen Anstalt läßt sich nicht so einfach verschweigen. Bei den Familien der Opfer und bei vielen Beobachtern wuchs die Überzeugung, daß es sich um eine grauenvolle Liquidierung handelte. Diese Freiheit, mit der die Machthaber über Leben und Tod von Tausenden gebieten, stürzt die Gesellschaft in einen Schrecken, der dem über den Terrorismus nicht nachsteht. Es ist schließlich nicht das erste Massaker in einem Gefängnis: bereits im November 1994 wurde auf dem Gelände des Gefängnisses von Berrouaghia, im Osten von Algier, eine bislang unbekannte Zahl von Gefangenen umgebracht.
„Wir haben auf den Fall in Berrouaghia nicht rechtzeitig reagiert, und nun ist es erneut geschehen! Schlimm genug, wie schlecht wir unserem Auftrag nachkommen, das Recht zu verteidigen – wenn wir auch diesmal schweigen, wird es erneut vorkommen.“ Der Rechtsanwalt, der diese Worte äußert, gehört zu einer Gruppe von Juristen, die systematisch, mit Geduld und Sorgfalt, mit beipielhaftem Mut und Pflichtbewußtsein eine erste Untersuchung des Blutbads von Serkadji vornahmen. Dieser Bericht, erstellt auf Wunsch der Angehörigen der Opfer, hat jetzt die Tatsachen enthüllt, die von den Behörden nach wie vor verschleiert werden.
Innenminister Abderrahmane Meziane Cherif setzte am 27. Februar 1995 eine Untersuchungskommission ein, deren Ergebnisse jedoch nie veröffentlicht wurden – obwohl dies eigentlich binnen zehn Tagen nach Abschluß der Untersuchung hätte geschehen sollen. Die Behörden waren nicht bereit, eine Liste mit den Namen der Opfer vorzulegen, sie unterließen jede Sicherungsmaßnahme am Ort des Geschehens, sodaß keinerlei Beweisstücke existieren. Geständnisse, die im Fernsehen gezeigt wurden, um die offizielle Version des Hergangs zu stützen, erwiesen sich in mehreren Fällen als erzwungen.
Tausend Häftlinge im Gefängnishof
DIESE offene Mißachtung der Regeln veranlaßte die Familien von Opfern – zum ersten Mal seit langem –, von den Behörden die Einhaltung der Rechtsgrundsätze zu fordern. Übereinstimmende Aussagen verwiesen auf ein unerklärliches Verhalten der Gefängnisleitung, vor allem aber auf eine Gruppe von Vermummten, die sich am 22. Februar etwa um fünf Uhr morgens Eintritt in die Haftanstalt verschafft haben soll, um dort die Saal- und Zellentüren zu öffnen und die Insassen zu befreien: Über tausend aufgeregte Häftlinge liefen im Gefängnishof zusammen, wobei an dem gescheiterten Fluchtversuch zu diesem Zeitpunkt nur ein paar von ihnen beteiligt gewesen sein dürften.
Ungeklärt bleibt auch, aus welchen Motiven und nach welcher Selektion eine Reihe von Gefangenen in den Wochen vor den Ereignissen verlegt wurden. Aus unbekannten Gründen und unter Mißachtung gesetzlicher Vorschriften brachte man Häftlinge aus verschiedenen anderen Anstalten, vor allem aus Berrouaghia, Chief und el Harrach nach Serkadji. „Diese Verlegungen erscheinen nicht nur seltsam und unerklärlich, sondern waren zum Teil nach den Vorschriften gar nicht zulässig – es sah weniger nach normaler Gefangenenverlegung aus als vielmehr nach einer gezielten Entfernung bestimmter Personen.“
In dem Bericht ist wie in einem Brief von Abdelkader Hachani, dem Führer der Islamischen Heilsfront (FIS), an den Staatspräsidenten, davon die Rede, daß die Häftlinge einen Krisenstab gebildet und Abdelkader Hachani und Abdenhak Layada beauftragt hatten, mit den Behörden über eine friedliche Lösung zu verhandeln. Die Vertreter der Häftlinge schlugen vor, erstens Maßnahmen festzulegen, um weitere Opfer auf beiden Seiten zu vermeiden, und zweitens den Kontakt zwischen den verschiedenen Abteilungen des Gefängnisses zu ermöglichen, um den Krisenstab zu erweitern und die Situation besser in den Griff zu bekommen. Zugleich versicherten sie ihre uneingeschränkte Bereitschaft, eine friedliche Lösung der Situation zu finden.
Während der über zehnstündigen Verhandlungen waren keine Opfer zu verzeichnen. Die Unterhändler stritten über die schwierige Frage von Garantien, und weil den Gefangenen noch die Tragödie von Berrouaghia vor Augen stand, forderten sie die Teilnahme dreier Rechtsanwälte: Ali Yahia Abdenour, Bachir Mecheri und Mustapha Bouchachi. Diese stellten zum einen fest, daß die Zahl der Opfer sich nicht erhöht hatte: Es waren fünf, wie zu Beginn des Konflikts. Weiter erklärten sie, daß es Aufgabe des Staates sei, nach friedlichem Ausgang die nötigen Untersuchungen zu führen, die Verantwortlichen festzustellen und überprüfbare Maßnahmen im Rahmen der Gesetze zu treffen.
Im Gegenzug sicherte der Krisenstab zu, für die Rückkehr aller Gefangenen in die Zellen und Gemeinschaftsräume zu sorgen. In diesem Augenblick wurden die Verhandlungen jäh abgebrochen – der Staat wünschte keine Zeugen. Nun sollten die Waffen sprechen: Nach den offiziellen Angaben forderte das Blutbad sechsundneunzig Tote und zehn Verletzte. In den Zeugenaussagen, die der Bericht der Untersuchungskommission enthält, wie auch im offenen Brief von Abdelkader Hachani ist die Rede von einem „Gemetzel“, das zu beschreiben man sich fast schämt. „Die Leichen der Opfer, oder was davon übrig war, wurden ins Leichenschauhaus von Bologhine gebracht, manche in kleinen Plastik-Müllsäcken. Sie blieben dort in Haufen mehrere Tage liegen, bis sie verwesten.“ Drei Tage lang lebten damals 1500 Familien von Häftlingen in Angst, und ihr Leid war danach noch nicht zu Ende. Die meisten der Opfer wurden heimlich begraben, in Gräbern mit der entsetzlichen Grabtafel „X, Algerier“. Den ratlosen Familien machte man keine Mitteilung, nur manche erhielten ein Telegramm, das ihnen den Tod eines Familienmitglieds anzeigte und sie aufforderte, sich mit dem regional zuständigen Gericht in Verbindung zu setzen, das ihnen den Ort der Bestattung nennen werde. Sie bekamen dann schließlich irgendeine Nummer eines Grabes genannt – wer dort wirklich ruhte, war nicht festzustellen.
In der gegenwärtigen algerischen Tragödie wird häufig auf die „Monstrosität“ des jeweiligen Gegners verwiesen, um eigene Übergriffe zu rechtfertigen. Zweifellos gab es unter den Toten von Serkadji auch gefährliche Terroristen und Attentäter, die zu richten und zu bestrafen der Staat berechtigt ist. Aber darf er darum Recht und Gesetz mißachten? Wird damit nicht die allgemeine Auflösung eingeleitet?
Salima Ghezali
dt. Edgar Peinelt