Objekt der Begierde im Südchinesischen Meer
SIE tragen den Namen eines Walfänger-Kapitäns aus dem 19. Jahrhundert und sind eine aus winzigen Eilanden und Korallenriffen bestehende Inselgruppe im Südchinesischen Meer; sie liegen 1500 Kilometer von der chinesischen, 400 von der vietnamesischen und ungefähr 300 von der philippinischen und malaysischen Küste entfernt: die Spratly-Inseln. Heute denkt man bei diesem Namen allerdings weniger an ein geographisch definiertes Fleckchen Erde als vielmehr an den Schauplatz eines Kräftemessens zwischen den Ländern des ost- und südostasiatischen Raums.1
Von VIRGINIE RAISSON *
Am 25. Februar 1992 hat der chinesische Nationale Volkskongreß ein Gesetz verabschiedet, das den Großteil des Südchinesischen Meeres als chinesisches Hoheitsgebiet beansprucht. Peking bemächtigt sich damit einer Region, die in dreifacher Hinsicht von strategischer Bedeutung ist. Sie verfügt über bedeutende Öl- und Gasvorkommen, sie wird von wichtigen internationalen Schiffahrtswegen durchkreuzt, und sie wird teilweise oder ganz von sechs anderen Staaten beansprucht (Indonesien, Vietnam, Malaysia, Brunei, den Philippinen und Taiwan).
Seit dem einseitigen chinesischen Beschluß sind die Gerüchte um Auseinandersetzungen geradezu chronisch geworden. Nach dem Wortlaut des neuen Gesetzes gehören zum chinesischen Territorium fortan auch die Senkaku-Inseln (nach chinesischer Bezeichnung Diaoyutai), die Paracel- (Xisha) und die Spratly- Inseln (Nansha). Da die Volksrepublik die Souveränität über ihre Hoheitsgewässer, eine 12 Seemeilen (1 sm = 1,852 km) breite Küstenzone, und zusätzlich über eine Anschlußzone von weiteren 12 sm beansprucht, würde sich das von der Volksrepublik kontrollierte Gebiet auf nahezu das gesamte südchinesische Meer und seine Ressourcen erstrecken.
Rechtlich gesehen steht die chinesische Auffassung auf schwachen Füßen. Während sich China zur Legitimation seiner Ansprüche im Ostchinesischen und Gelben Meer auf die weite Ausdehnung seines Festlandsockels beruft, verweist es im Falle des Südchinesischen Meeres auf „historische Gründe“, die zu erläutern man sich allerdings weigert – eine längere Präsenz auf den Inseln in früheren Zeiten kann China nicht geltend machen. Ebenso zweifelhaft ist die juristische Tragkraft der auf die beanspruchten Meereszonen angewendeten seerechtlichen Begriffe (Innere Gewässer, Küstenmeer, archipelagische Gewässer).
Im übrigen sieht es so aus, als seien die chinesischen Forderungen auf kartographischer Ebene absichtlich unbestimmt gehalten: Die punktierte Markierung der neuen Seegrenzen könnte auf einen Verhandlungsspielraum hindeuten. In der Tat umfaßt das beanspruchte Gebiet Ausbeutungszonen und Förderanlagen, die von Indonesien, Malaysia und den Philippinen kontrolliert werden. In Ermangelung einer Sonderregelung für die Gebietsaufteilung im Chinesischen Meer könnten sich all diese Länder nach der 1994 in Kraft getretenen neuen Seerechtskonvention auf Rechte berufen, die auf eine jeweils eigene „ausschließliche Wirtschaftszone“ hinauslaufen würden. Die einseitige Vereinnahmung durch Peking erscheint daher weder glaubhaft noch legitim.
Aus alledem ergibt sich die folgende Hypothese: Um seine Hoheitsrechte auszuweiten, beansprucht China nicht so sehr ein nach physikalischen, topographischen und juristisch stichhaltigen Kriterien klar umrissenes Territorium als vielmehr einen politischen und Wirtschaftsraum, dem ganz andere Parameter zugrunde liegen. Aber welche? Eine erste Antwort folgt aus der geographischen Lage des Archipels: Auf den Seerouten, die an ihm vorbeiführen wird ein Viertel des Welthandelsvolumens abgewickelt.2 Und mit einem Hoheitsanspruch würde China ja nicht nur diese Seewege kontrollieren, sondern auch das dichte Netz von Flugrouten über dieser Region.
Der zweite Parameter betrifft den Meeresboden des Archipels: In ihm werden Öl- und Gasvorkommen vermutet, die von den Chinesen auf das Äquivalent von 205 Billionen Barrel Rohöl geschätzt werden; ein sehr viel geringeres Volumen unterstellen die in dieser Region tätigen Ölgesellschaften. Zu den vermuteten Reserven kommen die bereits betriebenen Förderstätten in der Umgebung des Archipels: Nam Con Son, Thanh Long und Dai Hung vor der vietnamesischen Küste; Natuna im Norden Indonesiens; Malampaya und Camago nördlich der Insel Palawan; Jintan, Serai und Saderi vor der Küste von Sarawak; und die Förderzonen im Nordwesten von Sabah.3
Offenbar ist China also gewillt, den allergrößten Teil der im Südchinesischen Meer befindlichen Erdöllagerstätten in seine Gewalt zu bringen. Noch ist es zwar nicht soweit, aber schon heute tobt zwischen Vietnamesen und Chinesen – vertreten durch mit der Prospektion beauftragte Ölgesellschaften – ein erbitterter Streit. Im Mai 1992 ermächtigte Peking die US-amerikanische Crestone Company, ein 25155 Quadratkilometer großes Konzessionsgebiet westlich der Spratly- Inseln zu erschließen, etwa dreihundert Kilometer von Ho-Tschi-Minh-Stadt entfernt und in unmittelbarer Nähe des vietnamesischen Konzessionsgebietes von Dai Hung.
Die Regierung in Hanoi protestierte heftig gegen die in ihren Augen unrechtmäßige Verletzung ihrer wirtschaftlichen Hoheitszone.4 Die chinesische Antwort war unmißverständlich: Im Juli 1992 wurden – wie schon 1988 – Truppen auf einem Korallenriff abgesetzt, die eine Grenzmarkierung errichteten; der US- amerikanischen Gesellschaft wurde der Schutz durch chinesische Waffen zugesichert. Im April 1994 vergab Vietnam im Gegenzug an ein von Mobil geführtes Firmenkonsortium die Förderlizenz für die Ölvorkommen von Thanh Long, die unmittelbar an die von Crestone ausgebeuteten Lagerstätten anschließen.
Die energiewirtschaftliche Situation in Vietnam und in China macht deutlich, wie gravierend die Streitigkeiten sind. Für Hanoi sind die Ausbeutung und der Export von Erdgas und Erdöl für den wirtschaftlichen Wiederaufbau von entscheidender Bedeutung. 12 Prozent der seit 1988 getätigten ausländischen Investitionen und fast ein Drittel der Exporte entfallen auf diesen Bereich, der damit zu den Haupteinnahmequellen des Landes zählt. Erdöl liefert die für die Industrialisierung unverzichtbare billige Energie (für Stahlwerke, Düngemittelfabriken, die petrochemische Industrie und Elektrizitätswerke). Nach jüngsten Untersuchungen lagern in dem größtenteils von China beanspruchten Festlandsockel vor der vietnamesischen Küste Ölvorkommen in einer geschätzten Größenordnung zwischen 3 und 5 Milliarden Barrel, wozu noch rund 300 Milliarden Kubikmeter Erdgas kommen.
Strategisches Machtvakuum mit Sogwirkung
AUCH in China bestimmen die Energieressourcen die industrielle Entwicklung. Die auf dem Festland ausgebeuteten Vorkommen gehen zur Neige, und der niedrige Ölpreis begünstigt nicht gerade die Erschließung neuer Förderstätten – ausländische Investoren ziehen heute rentablere Bohrungen vor.
Zudem ist die chinesische Infrastruktur im Förder- und Transportbereich völlig unzureichend. Die Ölfelder liegen im Nordosten und im äußersten Westen des Landes – also weit entfernt von den großen inländischen Absatzmärkten; die Pipeline-Verbindungen zu den wirtschaftlichen Zentren im Süden Chinas treiben die Energiepreise entsprechend kräftig in die Höhe. Zudem deckt die jährliche Steigerung der Ölfördermenge um 2 Prozent nicht mehr den Bedarf einer Wirtschaft, deren Wachstumsraten in den letzten zehn Jahren durchschnittlich 10 Prozent erreicht haben. Auch für Peking steht folglich mit der Ausbeutung neuer Ölvorkommen bei den Spratly-Inseln sehr viel auf dem Spiel.
Der Versuch Pekings, die Rohstoffquellen des Südchinesischen Meeres in seinen Besitz zu bringen, würde letztlich zu einer Konfrontation nicht nur mit Vietnam, sondern auch mit allen anderen Anrainerstaaten führen. Die chinesischen Ansprüche erstrecken sich beispielsweise auf die indonesischen Natuna-Inseln, und vor allem auf die 250 Kilometer weiter nordöstlich gelegenen Erdgasvorkommen gleichen Namens: Mit geschätzten 135000 Milliarden Kubikmetern gehören sie zu den bedeutendsten der Welt. Ihre Ausbeutung war im Januar 1995 Gegenstand einer 35-Milliarden-Dollar-Vereinbarung zwischen der staatlichen Ölgesellschaft Pertamina und dem US-amerikanischen Exxon-Konzern.
Doch das neuerliche US-amerikanische Engagement in der Region reicht nicht aus, um die indonesische Besorgnis zu zerstreuen, zumal die von Djakarta im Juli 1994 an Peking gerichtete Forderung, seinen Rechtsanspruch zu erläutern, unbeantwortet geblieben ist.
Die verbalen Drohungen Pekings, seine Souveränitätsansprüche auch mit Gewalt zu verteidigen, verstärken die allgemeine Unsicherheit erheblich. Die Operationen der Kriegsmarine der Volksbefreiungsarmee haben seit Beginn der neunziger Jahre nicht nur stark zugenommen, sie greifen auch immer weiter in die südlichen Meereszonen aus. Die Zwischenfälle seit dem gefährlichsten Konflikt von 1974 – als bei den weiter nördlich gelegenen Paracel-Inseln in einem Seegefecht ein chinesischer Kreuzer ein vietnamesisches Schiff versenkte – bis hin zu den neuerlichen chinesisch-vietnamesischen Zusammenstößen im Jahre 1994 sind kaum noch zu zählen; sie ereigneten sich vornehmlich aus Anlaß der Plazierung von Hoheitszeichen durch die chinesische Marine.
China hält auf diese Weise acht der Spratley-Inseln militärisch besetzt, aber auch die anderen Interessenten mischen kräftig mit: Vietnam hat fünfundzwanzig, die Philippinen acht, Malaysia drei und Taiwan eine der Inseln in Besitz genommen.
Da nun aber die beteiligten Staaten durch die Einrichtung dauerhafter Strukturen ihre Positionen völkerrechtlich festzuklopfen versuchen, geht der Konflikt, der sie zu Gegnern macht, mittlerweile über den Rahmen einer einfachen Rivalität um die Ressourcen der Region weit hinaus. Die rein ökonomische Dimension der Kontroverse wird durch nationalistische Ambitionen überhöht, die von philippinischer, vietnamesischer und vor allem von chinesischer Seite in die Debatte hineingetragen werden.
Angesichts der mannigfachen Streitobjekte, der Verwicklung von immer mehr Konfliktbeteiligten und der wachsenden militärischen Spannungen, die die Region zu destabilisieren drohen, ist die Suche nach einer umfassenden Lösung allerdings noch nicht einen einzigen Schritt vorangekommen. Diese beunruhigende Verzögerung hängt damit zusammen, daß bis 1994 noch kein geeignetes politisches Forum zur Verfügung stand, auf dem man die Sicherheitsfragen im asiatischen Raum hätte verhandeln können. Das Ende des Kalten Krieges führte dazu, daß beide Großmächte ihr Engagement in der Region stark einschränkten; die Russen gaben ihre Militärbasis im vietnamesischen Cam Ranh auf, die Amerikaner ihren Stützpunkt Subic Bay auf den Philippinen.
Das sicherheitspolitische Forum (Asean Regional Forum, ARF), das 1994 von der Asean5 ins Leben gerufen wurde, vermag dieses machtstrategische Vakuum nicht zu füllen. Allein die Zahl seiner Mitglieder und deren unterschiedliche Interessen sind offenbar ein ernsthaftes Handicap. Ungeklärt ist, welche Rolle den Nichtmitgliedsstaaten der Asean bei der Verabschiedung von Sicherheitsmaßnahmen zukommen soll, die ausschließlich Asien betreffen; von den großen politischen Fragestellungen ganz zu schweigen.
Wie kann man der ehrlichen Absichten Chinas oder der beiden koreanischen Staaten sicher sein, wenn es darum geht, mit ausländischen Mächten über die Taiwan- oder die Koreafrage zu debattieren? Wird China sich im Ernst an einem Forum beteiligen, das seiner Meinung nach erfunden wurde, um Peking im Zaum zu halten? Läßt sich eine gemeinsame Vertrauensbasis mit einem Land herstellen, von dem aus der Sicht der Asean-Staaten die größte Bedrohung für die Sicherheit in der Region ausgeht? Zumal wenn es sich um Spannungen handelt, für die in erster Linie China verantwortlich ist?
Da den Asean-Staaten die Macht zur Lösung der Konflikte abgeht, verfolgen sie das Konzept einer „präventiven Diplomatie“, die vornehmlich auf die Schaffung vertrauensbildender Maßnahmen gerichtet ist. So verwundert es nicht, daß bei der Tagung des Forums im Juli 1995 nicht der Konflikt um die Spratly-Inseln oder die chinesischen Manöver vor der Küste Taiwans auf der Tagesordnung standen, sondern vielmehr die französischen Atomversuche und die politische Situation in Birma, das gar kein Asean-Mitgliedsland ist. Und dennoch konnte es nicht ausbleiben, daß bei einer Zusammenkunft aller von der Spratly-Frage betroffenen Länder die hoheitsrechtlichen Kontroversen im Südchinesischen Meer zum Gegenstand zahlreicher Flurgespräche wurden.
Der Konflikt stürzt die USA in einen gefährlichen Zwiespalt. Auf der einen Seite wirken die Haushaltsbeschränkung, der „Nichteinmischungsbeschluß“ der republikanischen Kongreßmehrheit und die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten neu definierten strategischen Zielsetzungen dahin, daß sich die US-Regierung auf traditionelle militärische Positionen zurückzieht. Auf der anderen Seite zwingen gewichtige Faktoren die US-Regierung dazu, in dem Konflikt zu intervenieren; zu diesen Faktoren gehören die zahlreichen, in der Region engagierten und von starken Pressure-groups in Washington unterstützten Ölgesellschaften, des weiteren die Unsicherheit der Seehandelswege, der Wille, die chinesischen Ambitionen im Zaum zu halten, aber auch die entsprechenden Forderungen seitens der übrigen Länder der Region.
Offiziell sind die Vereinigten Staaten strikt dagegen, daß irgendein Land seine Ansprüche unter Anwendung von Drohungen oder militärischer Gewalt durchzusetzen sucht. Zwar weigern sie sich, zur Rechtmäßigkeit der Ansprüche Stellung zu beziehen, aber sie verurteilen unter Berufung auf das internationale Recht jegliche Einschränkung des freien Handelns im Gebiet der Spratly-Inseln. Das Pentagon schwankt zwischen zwei Polen: einerseits der Notwendigkeit, den Staaten der Region den erforderlichen Rückhalt zu geben, also auch entschieden gegen die chinesischen Ambitionen aufzutreten, und andererseits dem Erfordernis, den Dialog mit Peking aufrechtzuerhalten, und zwar aus allgemein strategischen Erwägungen, die etwa den Zugang zum chinesischen Markt und den Lieferstopp chinesischer Nukleartechnologie an Pakistan und Iran betreffen.
Japanische oder indonesische Vermittlung?
OHNE sich zu einer eindeutigen Haltung durchringen zu können, versucht Washington, alle Karten zugleich auszuspielen. Man zieht die wirtschaftlichen Daumenschrauben an, man strapaziert die Empfindlichkeit Pekings in der Taiwan-Frage, und man droht zugleich mit einer ganzen Reihe militärischer Gesten: Seit Mai 1995 besteht die Möglichkeit, F-16-Kampfflugzeuge auf die Philippinen zu verlegen; im Juli 1995 wurden zur Ausbildung der philippinischen Truppen Marinekommandos nach Puerto Princesa entsandt; die VII. US-Flotte veranstaltete gemeinsam mit Marineeinheiten Japans und Südkoreas ein Manöver vor der chinesischen Küste; das gleiche Spiel wiederholte man zusammen mit Thailand und Singapur.
Japan verzichtete 1951 auf alle Rechte an den Spratly-Inseln, die es seit 1939 besetzt gehalten hatte.6 Doch das Land bezieht fast 70 Prozent seiner Ölversorgung über die Route durch das Südchinesische Meer. Wie die Amerikaner ist man gewillt, die Interessen der eigenen Ölkonzerne zu schützen. Die chinesische Entscheidung, ob das Gesetz von 1992 über die Souveränitätsrechte zur Anwendung kommen soll oder nicht, betrifft auch die japanischen Senkaku-Inseln. Diskretion ist in Tokio oberstes Gebot. Man unterstützt die Suche nach einer friedlichen Lösung, ohne sich jedoch zur Rechtmäßigkeit der verschiedenen Gebietsansprüche zu äußern.
Die Japaner verfügen indes über wirksame wirtschaftliche Druckmittel gegen alle Beteiligten, insbesondere aber gegen Peking. Als wichtigster staatlicher Devisenbringer ist Japan für China eine Art Garant dafür, daß es weiteres Privatkapital ins Land ziehen kann: Die Einstellung der japanischen Kredite könnte Pekings Suche nach ausländischen Geldquellen deutlich beeinträchtigen.
Wenn im übrigen die japanische Armee auch nicht imstande ist, ihre Truppen in die umstrittene Region zu entsenden, so verfügt sie doch über hochentwickelte und gut eingespielte Waffensysteme für militärische Operationen auf offener See. Einstweilen liegt es Tokio entschieden fern, Peking vor den Kopf zu stoßen; man versteht es im Gegenteil, die eigenen Interessen auf einem Markt zu behaupten, der als äußerst vielversprechend gilt. Angesichts der Erfahrungen im Konflikt um die Straße von Malakka in den sechziger Jahren rechnen manche Beobachter sogar damit, daß die Japaner im Streit um die Hoheitsrechte im Südchinesischen Meer als Vermittler auftreten könnten.7
Seit fünf Jahren ist es allerdings vor allem Indonesien, das sich um eine Vermittlung bemüht. Djakarta, das selbst keinerlei Ansprüche auf die Spratly-Inseln erhebt, hatte 1991 angeboten, jährliche Treffen zu veranstalten, um Methoden zu erörtern, wie „ein möglicher Konflikt im Südchinesischen Meer zu vermeiden“ wäre. Doch diese Initiative hat seitdem schwere Rückschläge erlitten. 1993 gab Indonesien seine Neutralität auf, als bekannt wurde, daß das von China beanspruchte Territorium auch die Natuna-Inseln einschließen würde. 1994 zögerte China nicht, nur wenige Tage nach einem der jährlichen Treffen wieder einmal Hoheitszeichen auf dem Da-Lac-Atoll aufzupflanzen. Die chinesisch-philippinischen Beziehungen gerieten 1995 erneut in eine Krise, als im Februar neue chinesische Militäreinrichtungen auf dem Mischief- Atoll entdeckt wurden.
Dennoch könnte eine Verständigung unter der Schirmherrschaft Indonesiens aufgrund der Absichtserklärung Pekings auf dem Asean-Forum zur Sicherheitspolitik im Juli 1995 eine neue Chance erhalten. Zum ersten Mal überhaupt erklärten sich die Chinesen bereit, mit allen Ländern der Organisation zu verhandeln. Und sie akzeptierten als Diskussionsgrundlage die 1982 in Montego Bay unterzeichnete Seerechtskonvention der UNO – die vom Nationalen Volkskongreß bisher allerdings noch nicht ratifiziert wurde.8
Legt man dieses grundlegende völkerrechtliche Dokument zugrunde, stehen die Argumente, mit denen die verschiedenen Seiten Anspruch auf die Spratly-Inseln erheben, auf eher schwachen Beinen. Keines der beteiligten Länder kann sich darauf berufen, in der Vergangenheit auf den Inseln ständig präsent gewesen zu sein – was übrigens rein physisch unmöglich ist – oder auch nur eine andauernde Kontrolle über sie ausgeübt zu haben. Die wirtschaftlich unbedeutenden, für eine Besiedlung ungeeigneten Eilande und Korallenriffe erfüllen wegen ihrer Unbewohnbarkeit nicht die rechtlichen Voraussetzungen, die den Anspruch auf eine Wirtschaftszone und damit auf ein fest umgrenztes Stück Festlandsockel begründen könnten. Der vietnamesische und der malaysische Festlandsockel (letzterer gehört zu den auf Borneo gelegenen Bundesstaaten Sarawak und Sabah), die sich bis in das Gebiet der Spratly-Inseln erstrecken, hätten weit mehr Einfluß auf die Zuteilung der Wirtschaftszonen als die blanken Klippen des Archipels.
Nach dem einschlägigen Äquidistanz- Prinzip wäre die Abgrenzung vorzunehmen, ohne die Spratly-Inseln zu berücksichtigen, indem man markante Küstenpunkte der Anrainerstaaten Vietnam und Malaysia durch Linien verbindet, deren mittlere Punkte die Grenze zwischen den Wirtschaftszonen ergeben. Eine ergänzende Methode bestünde darin, die Anteile am Festlandsockel im Verhältnis zur Küstenlänge jedes Landes zu bestimmen. Nach diesem Modell würden China (zusammen mit Taiwan), Vietnam und den Philippinen etwa gleichgroße Sektoren zustehen. Zwar würden die Paracel-Inseln tatsächlich an China/Taiwan fallen; jedoch könnten die Chinesen keinerlei Rechte auf die weiter südlich gelegenen Gebiete geltend machen, in denen sich die wichtigsten Gas- und Ölvorkommen befinden.
Sollten sich die beteiligten Staaten nicht einigen können, sieht die Seerechtskonvention für ein halbgeschlossenes Meer vor, daß die beteiligten Staaten die Nutzung der Ressourcen jenseits des 200-Meilen-Festlandsockelbereichs der nationalen Wirtschaftszonen, also in einem Mittelstreifen des Südchinesischen Meeres, untereinander aufteilen müssen. China dürfte diesen Modus bevorzugen, da er sich mit seiner traditionellen Position vereinbaren ließe und den Zugriff auf die Gas- und Ölvorkommen der Region erlauben würde, ohne den Handlungsspielraum in Sachen Hoheitsrecht völlig aufzugeben. Eine Lösung im Sinne einer gemeinschaftlichen Nutzung dieser Zone sollte auch die Vereinigten Staaten und Japan zufriedenstellen, die keine Neigung haben, zu intervenieren, um die Sicherheit ihrer Schiffe und Ölgesellschaften zu gewährleisten.
Verhärtung in Peking
OB eine Aufteilung der Erdölvorkommen die Konfliktgefahr beseitigt, läßt sich bezweifeln, denn die Frage, wie weit sich die chinesische Hoheitszone erstreckt, wäre weiterhin offen. Die Machthaber in Peking sind aber gewillt – und kündigen es auch ganz offen an –, die chinesische Souveränität über die beanspruchten 24 Seemeilen notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Obwohl die chinesischen Gebietsansprüche völkerrechtlich auf schwachen Beinen stehen, sind die Länder der Region doch beunruhigt, zumal aus Peking kein Signal kommt, das ihre Befürchtungen mildern könnte.
Die Asean-Staaten müssen im Gegenteil eine Verhärtung im Verhalten des chinesischen Regimes registrieren: verschärfte Repressionen in Tibet und gegenüber jeglicher Form von Dissidenz, der Abschuß von Raketen vor der taiwanesischen Küste am Vorabend des Asean- Forums, oder auch die kompromißlose Haltung in den Verhandlungen über die Zukunft Hongkongs. Sie sehen, wie Peking mit einem wachsenden Militärhaushalt die Modernisierung seiner Armee vorantreibt – und was darauf folgt: Atomwaffentests, Erprobung ballistischer Raketen, Ankauf russischer Waffensysteme (28 Flugzeuge vom Typ SU-27 im Jahre 1992, vor kurzem 10 Unterseeboote) und Pläne für deren Fertigung in China. Hinzu kommen Gerüchte, die Chinesen hätten militärische Anlagen in der Andamanensee, vor der indischen und birmanesischen Küste, errichtet.
All diese Faktoren lassen sich als Anzeichen für das Hegemoniestreben eines chinesischen Staates deuten, in dem die Macht der Armee ständig zunimmt. Und das nicht ohne Grund: Alle Anwärter auf die Nachfolge von Deng Xiaoping – Präsident Jiang Zemin, Premierminister Li Peng und sein Stellvertreter Zhu Rongji – buhlen um die Gunst der Militärs als den letzten mächtigen Hütern des revolutionären Erbes. Statt die Diskussion um unerläßliche Reformen voranzutreiben, stärkt der Thronfolgestreit den Legitimationsanspruch konservativer Ideen: den Vorrang wirtschaftlicher Ziele, Kompromißlosigkeit nach innen wie nach außen und zunehmend nationalistische Töne.
Die wachsende Macht der Zentralgewalt und der Armee nährt sich aus den Ängsten des Staatsapparates. Politiker und Militärs argwöhnen, der Zusammenbruch der kommunistischen Welt und ihrer Werte könnte die Legitimität der Partei schwächen; sie fürchten das deutliche Erstarken oppositioneller Kräfte und die wachsende Autonomie der Küstenprovinzen, die das Gespenst eines zersplitterten China wachruft. Sie fürchten die „neue Weltordnung“ seit dem Golfkrieg und ihre Folgen: die Bestätigung der US-amerikanischen Führungsrolle, die politische Arroganz Washingtons (das dem taiwanesischen Präsidentschaftskandidaten Lee Teng-hui ein Visum ausstellt, wenn er privat in die Vereinigten Staaten fliegen will), die Schaffung eines regionalen sicherheitspolitischen Forums, in dem sie den Versuch erblicken, die chinesische Macht einzudämmen.
Historisch war das Südchinesische Meer schon immer der weiche Unterleib der chinesischen Verteidigung. Von dort aus beherrschten im 19. Jahrhundert die westlichen Mächte die ganze Region. Über dieses Meer konnten die Nationalisten unter Chiang Kai-shek vor den revolutionären Truppen fliehen. Und schließlich diente es US-Amerikanern und Sowjets während des Kalten Krieges dazu, ihre Herrschaft über die Region abzusichern. Eine Kontrolle ihrer Südflanke ist für die Volksrepublik ein schlichtes Erfordernis ihrer Sicherheit.
Alle Voraussetzungen für einen Konflikt kommen damit zusammen. Aus diesem gesamten Kontext zieht die Aggressivität der Zentralgewalt sich immer neue Nahrung; und die Armee besitzt mit ihrem wachsenden politischen Einfluß und ihrer modernisierten Ausrüstung die Mittel, sie auch umzusetzen. Das Erdöl und die Rückkehr Taiwans in den Schoß der Volksrepublik repräsentieren einen kapitalen Einsatz. Der angestrengte Nationalismus begünstigt eine Eskalation, die in der Eroberung des shengcun kongjian – eines „vitalen Interessengebietes“ – im Südchinesischen Meer einen willkommenen Anreiz findet. Und das 1992 verabschiedete Gesetz bekräftigt lediglich den Anspruch auf etwas, für das man ein historisches Recht reklamiert: In der Presse wird unablässig an die ruhmreichen Tage erinnert, da chinesische Schiffe im Gebiet der Spratly-Inseln kreuzten und überall die Kultur und den Fortschritt der Han- Chinesen verbreiteten.
Das Gespenst des Krieges
DROHT morgen schon ein Krieg? Die Vorstellung erscheint trotz allem höchst unwahrscheinlich. Und das vor allem aufgrund der logistischen Grenzen, über die sich die Volksbefreiungsarmee nicht hinwegsetzen kann. Mit ihren Marine-, U-Boot- und Hubschrauber-Einheiten könnte sie zwar problemlos die Inseln besetzen, doch die Entfernung zu den chinesischen Stützpunkten auf dem Festland würde die Leistungsfähigkeit der Luftwaffe noch überfordern – vor allem die Ausbildung der Piloten auf den SU-27 reicht nicht aus als Garant für die chinesische Überlegenheit bei See-Operationen. Die Flotte wäre also aus der Luft verwundbar durch malaysische und indonesische Flugzeuge und Raketen, die technologisch überlegen sind und die Spratly-Inseln schneller erreichen können.
Auch ökonomische Gründe sprechen gegen ein solches Abenteuer. Chinas Wirtschaftswachstum basiert auf dem Handel in der Region und auf ausländischen Investitionen, die eine gewaltsame Auseinandersetzung nicht verkraften würden. Warum sollte man auf dem Altar provisorischer Sicherheit und ungewisser Energiequellen eine wirtschaftliche Entwicklung opfern, die das chinesische Regime an der Macht hält und die Modernisierung seiner Armee finanziert?
Diesen Widerspruch haben die Asean- Staaten genau begriffen. Sie wissen, daß sie es nicht verhindern könnten, sollte China unter dem Druck zwingender innenpolitischer Motive zur offenen Konfrontation übergehen; sie wissen aber auch, daß der Ausbau von Investitionen, die handelsbedingte Abhängigkeit und die wirtschaftliche Einbindung Chinas ihnen weit überzeugendere Abschreckungsinstrumente an die Hand geben.
Aus innen- wie außenpolitischen Gründen muß Peking seine Macht demonstrieren; die Chance dazu liegt im Südchinesischen Meer. Den Chinesen kommt dabei das strategische Machtvakuum zugute, das Amerikaner und Sowjets hinterlassen haben, aber auch ein für sie günstiges Kräfteverhältnis. Mühelos spielen sie auf der Klaviatur der traditionellen Ängste ihrer Nachbarn, indem sie das Geheimnis um ihren Militärhaushalt mit der Ungewißheit über ihre Absichten verbinden. China kann davon träumen, sich für die Demütigung zu revanchieren, vom Westen früher von allen Handelsvereinbarungen ausgeschlossen worden zu sein.
Einen indirekten Druck bekommen auch Hongkong und Taiwan zu spüren, nicht zuletzt indem sie sich von einer möglichen asiatischen Solidarität ausgeschlossen sehen. Diskret gibt man den eigenen Küstenprovinzen im Süden zu verstehen, daß die Zentralgewalt sehr wohl in der Lage ist, das gesamte Territorium unter Kontrolle zu halten. Und schließlich demonstriert China in der Spratly-Frage unmißverständlich – und an die Adresse aller – seine regionalen und weltpolitischen Ambitionen.
Darin liegt zweifellos der Schlüssel für die Haltung Pekings. Bei geschickter Ausnutzung aller Möglichkeiten in der Spratly-Frage kann China sich alle strategischen Ressourcen der Region erschließen. Ohne ein echtes Risiko einzugehen, hofft man, sich als Großmacht zu profilieren, obwohl die entsprechenden wirtschaftlichen und militärischen Mittel noch nicht zur Verfügung stehen.
Es wäre also gar nicht so überraschend, wenn es hinsichtlich der umstrittenen Ausbeutung der Energieressourcen mittelfristig zu einer einvernehmlichen Lösung käme. Die Frage der Hoheitsrechte hingegen werden die Chinesen aller Wahrscheinlichkeit nach in der Schwebe halten, um ihr diplomatisches Schreckgespenst für alle Fälle in Reserve zu haben.
dt. Christian Hansen
1 Spratly bezeichnet gleichermaßen ein Archipel und einzelne Inseln dieses Archipels. Im übrigen führt die geographische Zuordnung bestimmter Klippen zu den nächstgelegenen Küstenpunkten zu unterschiedlichen Positionsangaben.
2 Zahlreiche Riffe knapp über oder unter der Wasseroberfläche machen für Schiffe mit großer Tonnage die Durchquerung des Archipels unmöglich.
3 Siehe Karte.
4 Diese Wirtschaftszone (völkerrechtlich präzise: „ausschließliche Wirtschaftszone“) ist der ökonomisch nutzbare Sektor des Festlandsockels, der jenseits der Hoheitszone der Küstengewässer beginnt.
5 Zur Asean (Association of South East Asian Nations) gehören die südostasiatischen Staaten Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien, Brunei, die Philippinen und, seit Juli 1995, Vietnam. Einmal im Jahr bietet das ARF ein Forum für die neunzehn Teilnehmerstaaten (zu den sieben Asean-Länder kommen noch Japan, die USA, die EU, Kanada, Australien, Neuseeland, Südkorea, China, Rußland, Laos, Papua-Neuguinea und Kambodscha), um die Asien betreffenden Sicherheitsfragen zu diskutieren.
6 Auf der Konferenz von San Francisco, die das Ende des Krieges im Pazifik markierte, verzichtete Japan auf alle Rechte an den Spratly-Inseln. Das Schlußkommuniqué der Konferenz gibt jedoch keinen Aufschluß über die Hoheitsrechte an den Inseln.
7 Der Konflikt um die Seeherrschaft in der strategisch wichtigen Meerenge, die damals Singapur, Malaysia und Indonesien aneinandergeraten ließ, konnte 1968 dank der logistischen und technischen Unterstützung Japans beigelegt werden.
8 In der Financial Times vom 15. Februar 1996 wird ein indonesischer Diplomat mit der Einschätzung zitiert, daß die Ratifizierung noch vor dem Sommer erfolgen werde.
* Forschungsleiterin am Labor für politische Studien und kartographische Analysen (LEPAC).