15.03.1996

Optimismus für umsonst

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Optimismus für umsonst

IN den letzten zehn Jahren hat sich so viel verändert!“ Dieser Satz klingt wie eine Beschwörungsformel, die jeder in Ungarn auf den Lippen trägt, um nur nicht den Glauben an die Zukunft zu verlieren: „In den letzten zehn Jahren hat sich so viel verändert!“ Ungarns Premierminister Gyula Horn sagt ihn, und er muß ihn sagen, als Ausdruck nicht zuletzt seiner eigenen Wandlung vom Kommunisten zum Sozialdemokraten. Die ungarische Wirtschaft sagt ihn, in der Angst womöglich, der beträchtliche Zufluß ausländischen Kapitals könne bei negativem Befund plötzlich stagnieren. Die Tourismusbranche sagt ihn angesichts sinkender Buchungszahlen und verweist auf die gelifteten Fassaden einiger Baudenkmäler. Ja, selbst arbeitslose Jugendliche in den Straßen der Hauptstadt Budapest sagen ihn und setzen dabei jenen fragenden Blick auf, der Zustimmung und Zuspruch heischt: „In den letzten zehn Jahren hat sich so viel verändert!“

Von unserem Sonderkorrespondenten PETER LINDEN *

Budapest, Februar 1996. Eine Hauptstadt, ein ganzes Land versucht, sich Mut zuzureden. Ein grausamer Winter liegt hinter den Ungarn, nicht nur wegen der anhaltenden Kälte. Im Verlauf des Jahres 1995 hatte die sozialistische Regierung den Bildungsetat gekürzt, das Personal der Universitäten um 12 Prozent verringert, die Bestimmungen für Arbeitslosenunterstützung verschärft, die Energiepreise um bis zu 70 Prozent erhöht. Die Zahlung von Mutterschaftsgeld wurde von sechsunddreißig auf zwölf Monate reduziert, und schließlich hat Finanzminister Lajos Bokros verkündet, es gehe bei all den Maßnahmen in erster Linie um die „psychologische Notwendigkeit, heilige Kühe zu schlachten“. Er meinte es ernst. Zum Jahreswechsel ging es weiteren heiligen Kühen an den Kragen: Die Benzinpreise stiegen um 10 Prozent, Tickets für öffentliche Verkehrsmittel kosten bis zu 40 Prozent mehr, Briefmarken, Telefongebühren, Taxifahrten – alles wurde teurer.

Stabil sind allein die Preise für Optimismus geblieben – den gibt es nach wie vor umsonst. Und so haben die Ungarn ihre Beschwörung der Veränderung um eine Nuance angereichert: „In den letzten zehn Jahren hat sich so viel verändert. In den nächsten zehn Jahren muß sich noch so viel ändern.“ Der Dichter Péter Nádas hat in einem wunderbaren Essay beschrieben, wie seine Landsleute in den Jahren der Diktatur gelernt hätten, Botschaften zu kodieren und wieder zu entschlüsseln, mit falschen Worten das Richtige zu sagen.

Auch die jungen Leute haben das begriffen. Allein statistische Erhebungen mit klaren Fragen nach ihrer materiellen Situation bringen die Wahrheit ans Tageslicht: Die Hälfte der Jugendlichen Ungarns sind der Ansicht, ihre Lebensbedingungen hätten sich seit der Wende im Jahr 1989 verschlechtert, 17 Prozent sagen: deutlich verschlechtert. Zumal Ungarn innerhalb der Ostblockländer einen Sonderstatus genoß. János Kádár, der Kommunistenführer, hatte, als wolle er das Volk für 1956 entschädigen, seinem Land eine gewissermaßen liberalistische Politik mit höherer Lebensqualität beschert. Entsprechend war der Wandel nach 1989 bei weitem nicht so radikal wie in anderen Ländern. Und das Neue – des Kapitalismus – war nicht in gleichem Maße attraktiv.1

Was den Jungen im Lande vor allem fehlt, sind Perspektiven. „Sie leben von einer Woche zur nächsten“, behauptet Peter Wootsch (44), jugendpolitischer Sprecher der kleinen, liberalen Oppositionspartei Fidesz. Ungarns Jugendliche seien derzeit unfähig, Visionen zu entwickeln. Kaum einer könne etwas mit der neuen individuellen Freiheit anfangen. Dabei steht seine Partei eigentlich für kreativen Unternehmergeist. Im Moment stößt Wootsch auf diese Tugenden allenfalls in der Welt der Prostitution und des Drogenhandels. „Da fahren 20jährige mit ihrem 600er Mercedes durch die Gegend, um Eindruck zu schinden.“ Zeitungsinterviews hätten bewiesen, daß derlei Geschäfte unter den Alterskollegen immer besser angesehen seien – kein Wunder: Bei 11 Prozent Arbeitslosigkeit sind die Aussichten, an einen gut bezahlten Job in der freien Wirtschaft zu gelangen, recht düster. 50000 junge Ungarn haben ihre Ausbildung beendet und danach nie Arbeit gefunden.

Samstagabend, in der Diskothek „Bahnhof“, gleich neben dem von Gustave Eiffel errichteten Westbahnhof. Die Luft ist zum Schneiden, der Qualm hängt unter der Decke, Hunderte drängeln sich um die drei Bars, auf der Bühne rockt eine der vielen begabten Nachwuchsbands der Hauptstadt. Vor der Tür stehen weitere dreißig junge Leute Schlange, die Jungen tragen amerikanische Jeans, amerikanische Hemden und amerikanische Jacken, die Mädchen dünne Kleidchen oder kurze Röcke. Die Musik wird lauter, das Gedränge dichter. Wer irgendwie kann, investiert die 300 Forint Eintritt und weitere 300 für ein Bier, obwohl ein junger Angestellter nur 20000 Forint (220 Mark) im Monat verdient. Daß gerade der „Bahnhof“ so populär ist, wirkt symptomatisch: Irgendwie wollen alle weg. In ein anderes Land, in eine andere Zeit oder gar ganz aus diesem Leben.

Das mit dem Verschwinden aus dem Leben war schon immer so. Niemand kann erklären, weshalb Ungarn seit jeher einsam an der Spitze der Selbstmordraten bei Jugendlichen steht – in manchen Gegenden bringt sich einer unter tausend um. „Das ist normal“, findet Attila Kaszás (28), Referent der Jugendhauptabteilung im Kultusministerium, Selbstmord gelte in Ungarn nahezu als natürlicher Tod. In allen Kreisen der Gesellschaft nähmen sich Ungarn das Leben, Künstler ebenso wie Politiker, Alte wie Junge. Womöglich sei ein ganz tiefes Gefühl der Einsamkeit der Grund. Während alle anderen Völker in Europa enge Verwandte als Nachbarn hätten, seien die Magyaren quasi isoliert. Es gebe so unglaublich traurige Volkslieder, da bleibe einem fast keine Wahl mehr, als aus dem Leben zu scheiden, sagt Kaszás gänzlich ohne Ironie. Selbst die Nationalhymne sei doch wunderbar melancholisch, typisch ungarisch eben.

Die übrigen 999 leben weiter, manche von ihnen fliehen anderswohin. Schon zu Zeiten des Sozialismus galt für die Ungarn ein recht liberales Reiserecht, wovon die Bevölkerung auch reichlich Gebrauch machte. Heute sucht, wer kann, gänzlich das Weite. Mihály Vásony, Marketingchef des traditionsreichen Hotel Gellert, müßte nach San Francisco reisen, um seine erste Tochter zu besuchen, die zweite wird wohl demnächst zum Freund nach Australien ziehen. „Die begabten jungen Leute gehen einfach weg“, sagt Vásony, „hier haben sie keine Chance.“ Und wenn überhaupt, dann in zweifelhaften Branchen: Vor kurzem hat das Gellert die Hotelbar schließen müssen, weil selbst dort die Prostitution überhandnahm.

Allzu viele Jugendliche träumen den Traum vom schnellen Geld. Die zentrale Lage in Europa hat Ungarn über Nacht zum Umschlagplatz für Drogen gemacht: Was für Westeuropa bestimmt war, rollte seit Ausbruch des Jugoslawienkriegs durch Ungarn in Richtung Wien und weiter nach Deutschland. Wieviel hängenblieb, weiß niemand so genau, bei der Polizei sieht man da sogar einen Vorteil in den geringen Löhnen – Jugendliche können sich die klassischen Drogen in der Regel noch nicht leisten.

Doch am Drogenhandel sind Einheimische bereits ebenso beteiligt wie an der Prostitution – in nahezu jedem Hotelfoyer bieten mäßig diskrete Hostessen ihre Dienste an. Überall gibt es Nachtklubs, die einem „das garantiert schönste Mädchen Budapests“ offerieren; ihre aggressive Werbung fehlt in keiner Touristenbroschüre oder Zeitung. In ärmeren Vierteln wie dem Arbeitervorort Ferencváros stehen Gastarbeiterinnen aus der Ukraine und Rumänien vor grauen Fassaden auf der Straße und warten auf die weniger betuchte Kundschaft. Nichts von alledem scheint jene jungen Menschen zu beschäftigen, die man samstags im „Bahnhof“ tanzen und plaudern sehen kann. „Unser Leben ist immer gleich“, erzählt Andrea (26) ohne Bedauern, „Freitag und Samstag gehen wir in die Diskothek, am Sonntag ins Kino, donnerstags ins Pub. Montag und Dienstag sind Ruhetage.“ Ja, sagt sie, das Leben sei schwierig, aber es werde sich bestimmt bald etwas ändern, zwangsläufig, so könne es schließlich nicht weitergehen. Da schwingt Trotz in der Stimme mit, obwohl sie weiß, daß die Regierung soeben erst verkündet hat, mit einem Aufschwung sei frühestens 1997 zu rechnen. Noch ein Jahr sparen, Gürtel enger schnallen, rechnen? Achselzucken, Lächeln.

Csaba, 32, hat sich eine kleine Automobilwerkstatt eingerichtet und kann sich als Selbständiger sogar ein eigenes Auto leisten. Dennoch muß auch er Monat für Monat kämpfen, zumal immer mehr arme Leute aus der Nachbarschaft mit ihren verrosteten Ladas zu ihm kommen und um kostenlose Reparatur bitten. „Was soll ich tun?“ fragt Csaba, „ich helfe ihnen.“ Und dann hilft er sich selbst, indem er bei potenten Kunden schwarz kassiert.

1 Vgl. dazu Jean-Yves Potel, „La Hongrie n'est plus une ile heureuse“, Le Monde diplomatique, Mai 1993.

* freier Journalist, München.

1 Vgl. dazu Jean-Yves Potel, „La Hongrie n'est plus une ile heureuse“, Le Monde diplomatique, Mai 1993.

Journalist, München.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Peter Linden