15.03.1996

Davos

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Davos

Von IGNACIO RAMONET

SEIT 1970 treffen sich alljährlich mitten im Winter in dem Schweizer Städtchen Davos die Hauptverantwortlichen des Planeten: Staatschefs, Bankiers, Finanzmakler und Manager großer multinationaler Konzerne bilanzieren die Forschritte der Marktwirtschaft, des Freihandels und der Deregulierung. Das Treffen der neuen Herren der Welt, der Davoser Wirtschaftsgipfel, ist das Zentrum des Hyperliberalismus, die heimliche Hauptstadt der Globalisierung.

Die zweitausend global leaders haben sich entsprechend, nach bewährtem Ritus, auf ihrem diesjährigen Treffen für den Kampf gegen die Inflation, für eine Reduzierung der Haushaltsdefizite, eine restriktive Geldpolitik, eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeit, den Abbau des Sozialstaates und eine Belebung des freien Handels ausgesprochen.

Diese einnehmenden Herren haben der ganzen Welt eine strahlende Zukunft verheißen: Sie haben die Öffnung der Länder zum Weltmarkt und die Bemühungen der Regierungen um eine Reduzierung von staatlichen Defiziten, Ausgaben und Steuerlasten gepriesen, die zunehmenden Privatisierungen begrüßt und die Tugend des Sparens unterstrichen. Ihrer Meinung nach gibt es keine politische oder wirtschaftliche Alternative. Der Planet – dem Markt hingegeben und der Droge Internet erlegen – erlebt gewissermaßen das Ende der Geschichte.

Der Wettbewerb ist und bleibt in ihren Augen die einzig treibende Kraft. „Egal, ob es sich um ein Individuum, ein Unternehmen oder ein Land handelt“, formuliert es Helmut Maucher von der Nestlé AG, „wenn man überleben will, zählt nur eins: Man muß konkurrenzfähiger sein als der Nachbar.“ Und wehe der Regierung, die sich an diese Faustregel nicht hält; schließlich, so der Chef der deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, seien auch die Politiker den Regeln der Finanzmärkte unterworfen. Zum gleichen Schluß kam in Davos auch der Generalsekretär der französischen Gewerkschaft Force ouvrière, Marc Blondel: „Die Politiker sind bestenfalls die Unterhändler der Unternehmen. Der Markt herrscht, die Regierung verwaltet.“1

Es fehlte in Davos nicht an triumphalen Tönen. Bill Gates, Chef von Microsoft, unterstrich die wachsende Vorherrschaft der Vereinigten Staaten: „Die neuen Technologien sind amerikanisch; also werden wir es sein, die von der Marktexplosion profitieren.“ Doch erstmals regten sich auf diesem Areopag der Eliten auch die Zweifel, eine gewisse Unruhe, das Gefühl, daß die Zeit der Euphorie sich ihrem Ende nähert. Die französische Revolte vom Dezember 1995 dürfte als Sturmglocke verstanden worden sein. Professor Klaus Schwab, Begründer des Davoser Treffens, betonte die Notwendigkeit zur Wachsamkeit: „Die Globalisierung ist in eine kritische Phase getreten. Die Gefahr eines Bumerang-Effektes wird immer stärker spürbar. Und es steht zu befürchten, daß wir in einigen Ländern noch mit bösen Überraschungen rechnen müssen.“2

Andere Experten äußerten sich noch pessimistischer. Rosabeth Moss Kanther, ehemalige Leiterin der Harvard Business Review, warnte: „Wir müssen das Vertrauen der Arbeiter und Angestellten gewinnen und gemeinsam dafür Sorge tragen, daß auch die lokalen Verbände, Städte und Regionen von der Globalisierung profitieren können. Sonst werden wir eines Tages einer sozialen Bewegung gegenüberstehen, wie wir sie seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht erlebt haben.“3 Die gleiche Furcht hat auch Percy Barnevik, Chef von Asea Brown Boveri (ABB), einem der größten Energieunternehmen, zu einer dringenden Warnung veranlaßt: „Wenn sich die Unternehmen nicht der Herausforderung der Armut und der Arbeitslosigkeit stellen, werden die Spannungen zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen weiter zunehmen. Gewalt und Terrorismus sind die Folgen.“

SELBST unter den ergebensten Anhängern des Liberalismus wächst die Unruhe. Bill Bradley, (demokratischer) Senator in den Vereinigten Staaten, hat darauf hingewiesen, daß infolge der hektischen Konkurrenz, der Unsicherheit der Arbeitsplätze und der sinkenden Löhne „die amerikanische Mittelschicht immer mehr arbeitet, um immer schlechter zu leben“. „Killer capitalism“ nannte Newsweek das kürzlich und prangerte die zwölf großen Unternehmenschefs an, weil diese alleine 363000 Angestellte in den letzten Jahren entlassen haben. „Früher einmal galten Massenentlassungen nachgerade als schändlich. Heute ist es genau andersherum: je mehr entlassene Arbeiter, desto höher schlägt das Herz der Börse ...“, lautet die Anklage der Zeitung, die ebenfalls einen Bumerang-Effekt an die Wand malt.4

„Die Globalisierung produziert heute in den demokratischen Industrieländern so etwas wie eine demoralisierte und verelendete Unterklasse.“5 Wer sagt das? Ein erregter Gewerkschafter? Ein ewiggestriger Marxist? Nein, es ist kein geringerer als Robert Reich, derzeit Arbeitsminister der Vereinigten Staaten. Er hat sich soeben dafür ausgesprochen, alle Unternehmen, die ungeachtet ihrer staatsbürgerlichen Aufgabe Arbeiter und Angestellte entlassen haben, mit einer Zusatzsteuer zu bestrafen.

Wird der gesunde Menschenverstand doch noch siegen? Wird man am Ende einsehen, daß es ohne gesellschaftliche Entwicklung keine zufriedenstellende Wirtschaftsentwicklung geben kann? Und daß man auf den Trümmern dessen, was einmal die Gesellschaft war, keine tragfähige Wirtschaft wird errichten können?

1 La Lettre, 15. Februar 1996.

2 International Herald Tribune, 2. Februar 1996.

3 Le Nouvel Economiste, 9. Februar 1996.

4 Newsweek, 26. Februar 1996.

5 The Economist, 10. Februar 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.03.1996, von Von IGNACIO RAMONET